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Titel: Verbraucherschutz in Zeiten des atomaren Ausnahmezustands

Datum: 30. März 2011 um 14:12 Uhr
Rubrik: Atompolitik, Europäische Union, Verbraucherschutz
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Wie passt es eigentlich zusammen, wenn das Bundesministerium für Verbraucherschutz der Bevölkerung versichert, dass es alle nur denkbaren Maßnahmen ergreift, um den deutschen Verbraucher vor den Folgen des GAUs in Fukushima zu schützen und gleichzeitig eine EU-Richtlinie durchsetzt, in der die Strahlenschutzgrenzwerte für Lebensmittelimporte aus Japan dramatisch erhöht wurden? Einmal mehr zeigt sich, dass die Interessen der Wirtschaft die EU-Politik bestimmen und der Verbraucherschutz gar keinen Stellenwert hat, wenn er Wirtschaftsinteressen im Wege steht. Von Jens Berger

Will ein Pfälzer Jäger ein Stück Wildschweingulasch in den Handel bringen, so gilt für dieses Fleisch ein Cäsium-Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilo. Dies ist ein strahlendes Beispiel für die Spätfolgen von Tschernobyl, die sich immer noch auf unsere Nahrungskette auswirken. Bis zu diesem Wochenende galt dieser Grenzwert auch für das bei wohlhabenden Feinschmeckern sehr beliebte Fleisch vom Kobe-Rind oder Fischprodukte aus Japan. Seit Inkrafttreten der EU-Verordnung 297/2011 [PDF – 760 KB] vom 25. März 2011 hat sich dieser Grenzwert für japanische Fleisch- und Fischprodukte wie von magischer Hand mehr als verdoppelt – auf 1.250 Becquerel pro Kilo. Überflüssig zu erwähnen, dass der Verbraucher von dieser eigenwilligen Fukushima-Verordnung nichts mitbekommen hat und sich durch die vollmundigen Versprechen aus dem Hause Aigner weiterhin in absoluter Sicherheit wägt.

Die EU-Verordnung 297/2011 betrifft Lebensmittelimporte aus zwölf japanischen Präfekturen und gilt erst einmal bis zum 30. Juni dieses Jahres, lässt sich aber bei Bedarf formlos verlängern. Mit der Verordnung wurden nicht nur bei Cäsium, sondern bei allen radioaktiven Substanzen die vorliegenden Grenzwerte für Lebensmittel massiv erhöht. So darf das erwähnte Steak vom Kobe-Rind seit Beginn dieser Woche auch 750 Bq/kg Strontiumisotope, 2000 Bq/kg Jodisotope und 80 Bq/kg Plutoniumisotope enthalten. Für Säuglingsnahrung und Milchprodukte (beides spielt bei den EU-Importen aus Japan jedoch keine Rolle) gelten niedrigere, für bestimmte Lebensmittel wie Gewürze, Tee und Fischöle indes die zehnfachen Grenzwerte – so darf beispielsweise der auch in Deutschland beliebte Wasabi nun bis zu 12.500 Bq/kg Cäsium-Isotope enthalten, um in der EU vertrieben werden zu können.

Die Begründung für diese Nacht-und-Nebel-Aktion fällt skurril aus. In Brüssel und Berlin beruft man sich auf die 1987 erlassene Euratom-Notverordnung 3954/87, mit der in der Folge des Tschernobyl-Unglücks seinerzeit die geltenden Grenzwerte heraufgesetzt wurden, um europäischen Bauern die Vermarktung ihrer moderat verstrahlten Agrarprodukte zu erlauben. Damals hatte sich die EU auf einen außergewöhnlichen Notfall berufen, der die Sicherheit der Lebensmittelversorgung Europas berührte. Man kann vortrefflich darüber streiten, ob die Versorgungssicherheit nach Tschernobyl wirklich derart gefährdet war, dass dieser massive Eingriff in den Verbraucherschutz gerechtfertigt war; zu behaupten, das Unglück von Fukushima hätte nennenswerte Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit deutscher Verbraucher ist jedoch an Dreistigkeit kaum zu überbieten.

Rund ein Promille aller deutschen Lebensmittelimporte stammt aus Japan. Dies sind meist sehr kostspielige Feinschmeckerprodukte. Für den normalen Verbraucher kommen hier allenfalls der bereits erwähnte Wasabi, bestimmte Würzsaucen, grüner Tee und Algenprodukte in Frage. Der allergrößte Teil der deutschen Bevölkerung dürfte in seinem ganzen Leben noch kein japanisches Produkt verzehrt haben. Vor diesem Hintergrund von einer Störung der Versorgungssicherheit auszugehen, ist in keiner Weise zu rechtfertigen. Es ist jedoch im höchsten Maße verstörend zu beobachten, wie die EU bereits bei kleinsten Interessenkonflikten vor dem Handel einknickt und den Verbraucherschutz ohne Not über Bord wirft. Was spräche eigentlich gegen ein vorübergehendes Import-Verbot japanischer Lebensmittel? Wem nützen eigentlich Grenzwerte für radioaktive Strahlung in Lebensmitteln, die immer dann, wenn sie eine Bedeutung bekommen, in Windeseile außer Kraft gesetzt werden?

Pikanterweise liegen die neuen Strahlengrenzwerte der EU noch über den ebenfalls in Windeseile heraufgesetzten Grenzwerten in Japan. So gilt beispielsweise für verstrahltes Fleisch in Japan ein Grenzwert von 500 Bq/kg, während in der EU der Grenzwert bei 1.250 Bq/kg liegt. Man muss wahrlich kein Schwarzmaler sein, um aus dieser Differenz die Gefahr herzuleiten, dass künftig Produkte, die in Japan aufgrund der dort geltenden Grenzwerte nicht mehr vertrieben werden dürfen, auch in der EU landen. Somit haben Brüssel und Berlin mit ihrer Notverordnung erst ein Problem geschaffen, das zuvor überhaupt nicht existiert hat. Das ist Verbraucherschutz ad absurdum.


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