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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Nach „Wir sind Papst“ folgt „Du bist Deutschland“
Datum: 26. September 2005 um 18:17 Uhr
Rubrik: Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft, Wahlen
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Mit Schwarz-Gelb hat es leider nicht gereicht, aber mit der großen Koalition mit einer „Agenda Plus“ ist ein Teilerfolg erzielt. Jetzt muss es mit Deutschland wieder aufwärts gehen, ruft die Belle Étage in Deutschland in den Souterrain. Achten Sie mal drauf, ab heute kommt nach der Tagesschau nicht die Wetterkarte sondern auf allen Kanälen der Start einer Werbekampagne „Du bist Deutschland“, die sich durch alle Tages- und Publikumszeitungen, alle Online-Medien und über alle Plakatwände ziehen wird. „Du bist Deutschland“! Wer hätte das gedacht?
Ganz Viele, die Deutschland in den letzten Jahren mies gemacht haben, reden es ab heute schön. Hat die Wahrheit und die Vernunft endlich gesiegt?
„Du bist das Wunder von Deutschland“ mit dieser Homepage öffnet die Kampagne „Du bist Deutschland“. „Deutschland redet sich selbst schlecht“ heißt es da und man müsse endlich wieder aus der „emotionalen Misere aussteigen“, das„Selbstbewusstsein stärken“ und „jeden einzelnen daran erinnern, dass sein Beitrag für dieses Land wichtig ist.“ Pro bono-Kampagne nennt sich so etwas. Also pro bono, contra malum. Für das Gute, gegen das Böse. Von der Antike über die Bibel, Augustinus bis zur gleichlautenden Rubrik in der Satire-Zeitschrift Pardon bewegt die Menschheit die Frage, was gut und was böse ist. Die Initiatoren der Kampagne geben endlich die endgültige Antwort.
Vierzig Prominente – also solche, die sich als Gewinner der „Modernisierung“ fühlen dürfen – muntern diejenigen auf, die verloren haben: Stößchen, ihr Verlierer, werden sie uns von allen Seiten zu prosten!
Unter der Regie des ach so selbstlosen und politisch ach so neutralen Bertelsmannkonzerns feiern sich Werbeagenturen, Verlage und Unternehmen bis zur Backwarenkette Kamps selbst und lassen mal locker 30 Millionen für die Party und natürlich für Eigenwerbung springen. Was der Metallarbeitgeberverband mit seiner „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ kann, dass können wir schon lange – mögen sie sich gedacht haben. Im übrigen – wie man heute zu sagen pflegt –, eine klassische Win-Win-Situation: Wir werben für uns und wir tun so als werben wir um Euch. Die Politik wird es uns danken.
Es ist wie im Film „Der Kongress tanzt“. Der Geldadel und seine Strippenzieher veranstaltet, wie im gleichnamigen Kinoopus aus der Zeit nach der Weltwirtschaftskrise, frivole „Kussversteigerungen“ an die Armen. Küsschen, Küsschen Euch da unten! Leider landet – anders als im Kino – heute kein Napoleon aus der Verbannung und treibt die feiernden Reaktionäre auseinander.
Da werden uns die Promis wie Sarah Connor (die im Münchner Stadion „Brühe, deutsches Vaterland“ sang), unsere Fernseh-Anchor-Men and -Women Sandra Maischberger, Ulrich Wickert und Anne Will, und immer wieder Reinhold Beckmann und Peter Frey oder Patrick Lindner, die (niemals alternde) Ossi-Eisprinzessin Katarina Witt und selbst Torwart-Titan Oliver Kahn (trotz Probleme mit seinem Rücken) wieder Vertrauen in Deutschland und in uns selbst einbläuen und uns ermuntern endlich Eigeninitiative zu zeigen. Jeder kann wie wir nach „oben“ kommen (will sagen viel Geld verdienen), werden sie uns zurufen, und wer jetzt nicht anpackt und aufsteigt ist selbst schuld – oder er hat es einfach nicht besser verdient. Klar!
Natürlich geschieht dies zum Wohlgefallen der Bundesregierung, die noch die alte ist, aber bald eine neue sein wird. Und die neue große Koalition kann ja einen Stimmungswechsel gut gebrauchen. Leider ist es ja nicht Schwarz-Gelb pur geworden, werden sich die Initiatoren geärgert haben, aber wegen einer großen Koalition mit einer „Agenda Plus“ brauchten sie die Aktion ja auch nicht stoppen…
Das Land ist ja lange genug schlecht geredet worden, sagt sich Bertelsmann und legt seine zahllosen Rankings, in denen Deutschland immer Schlusslicht war, zu den Akten.
Die geballte Medienmacht schwenkt vom Trauermarsch ins Scherzo. Von Axel Springer über die ARD, Bertelsmann, Gruner + Jahr, Heinrich Bauer Verlag, Heise Zeitschriften Verlag, Hubert Burda, Ganske Verlagsgruppe, Motor Presse , Premiere, ProSiebenSat.1, RTL Gruppe Deutschland, Süddeutscher Verlag, Spiegel Verlag, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Verlagsgesellschaft Madsack, Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, WAZ-Mediengruppe, ZDF, Zeitungsgruppe Stuttgart, sie sind alle dabei, die den Reformbedarf mehr oder weniger herbeigeredet hat und jetzt über das Scheitern der Reformen und deren Opfer hinweg jubilieren wollen (vgl. NachDenkSeiten vom 15.8.2005).
Motto: Nur weiter so Deutschland, koste es, was es wolle.
Wir werden das Volk, den „alten Lümmel“ (Heinrich Heine) schon noch da hin kriegen, wo wir ihn hinhaben wollen.
Merkwürdig: Mir, der ich ständig gegen die Miesmacherei in Deutschland argumentiert und geschrieben habe, kommt dazu Hugo von Hofmannsthal in den Sinn:
Manche freilich müssen drunten sterben
wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
andere wohnen bei dem Steuer droben,
kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
Manche liegen mit immer schweren Gliedern
bei den Wurzeln des verworrenen Lebens,
anderen sind die Stühle gerichtet
bei den Sibyllen, den Königinnen,
und da sitzen sie wie zu Hause,
leichten Hauptes und leichter Hände.
Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
in die anderen Leben hinüber,
und die leichten sind an die schweren
wie an Luft und Erde gebunden.
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