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Titel: Regression in der öffentlichen Debatte und in der Politik?

Datum: 29. Januar 2004 um 18:23 Uhr
Rubrik: Veröffentlichungen der Herausgeber, Wertedebatte
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Die jetzt forcierte Debatte über Eliten könnte verdecken, dass gerade bei vielen, die sich zur Elite zählen, eingetreten ist, was die Psychologen Regression nennen – einen Rückfall in eine frühere Stufe des Denkens, weniger differenziert, dogmatischer, vorurteilsbeladener. In einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung, der gestern erschienen ist, erläutere und begründe ich diese Beobachtung. Die Liste der dort genannten Belege könnte leicht verlängert werden. Sie werden selbst solche Beispiele finden, wenn Sie die Debatte um Militäreinsätze, Konfliktlösungen und vor allem die innere Reformdebatte verfolgen.

Von Albrecht Müller. Süddeutsche Zeitung – Außenansicht

In der Psychologie gibt es den Begriff der Regression. Damit bezeichnet man den Rückfall von Menschen in einen geistigen und psychischen Zustand vor dem gerade erreichten Stand, den “Übergang zu Ausdrucksformen und Verhaltensweisen eines vom Standpunkt der Komplexität, der Strukturierung und der Differenzierung aus niedrigeren Niveaus”, wie es in einem Wörterbuch der Psychoanalyse heißt. Ist diese Beobachtung auch auf gesellschaftliche Phänomene und auf Politik übertragbar? Offenbar schon. Zum Beleg dieser bedrückenden Vermutung einige konkrete Beispiele:

Vor 30 Jahren, als die Bodenpreise in München wie in anderen Städten kräftig anstiegen und weit über die Fachwelt hinaus eine Debatte über Bodenrechtsreform und Abschöpfung von Spekulationsgewinnen geführt wurde, hätte sich lächerlich gemacht, wer behauptete, mit den steigenden Preisen würden Werte geschaffen. Vor vier Jahren war das ganz anders: Die großen Preissteigerungen, auch Kurssteigerungen genannt, auf den Aktienmärkten im allgemeinen und auf dem Neuen Markt im besonderen wurden gefeiert. Nicht nur von denen, die an der spekulativen Blase verdienten; es galt allgemein als altmodisch, wer sein Geld nicht auf diesen Märkten investierte. Obwohl die Charakterlosigkeit und Wertlosigkeit der spekulativen Blase heute eigentlich jedem klar sein müsste, feiern verschiedene Fernsehsender noch immer allabendlich diese Preissteigerungen als etwas Erfreuliches und Preissenkungen als etwas Trauriges. Innerhalb von 30 Jahren hat sich der kritische Geist davon gemacht. Regression.

Eine beispiellose Leistung der deutschen und der internationalen Politik, geradezu eine kulturelle Leistung, war die Ergänzung der Politik der Stärke durch die Entspannungs- und Friedenspolitik zur Zeit der Kanzlerschaft von Willy Brandt und Helmut Schmidt. Sie wurde durchaus auch von führenden Personen von CDU, CSU und FDP getragen. Ein markanter Charakterzug dieser Politik war die kulturelle Leistung, sich in die Lage des politischen und ideologischen Gegners zu versetzen. Diese Leistung wäre heute genauso nötig. Aber die halbe Welt folgt dem Präsidenten der USA auf seinen Kreuzzügen. Israel und Palästina bluten in der Ausweglosigkeit der primitiven Strategie des Auge um Auge, Zahn um Zahn. Eine Regression mit tödlichen Folgen.

Ein sich als aufklärerisch empfindendes Nachrichtenmagazin titelte vor kurzem – ohne Ironie: “Der letzte Deutsche”. Den Anstieg des Durchschnittsalters nennen wir hierzulande “Vergreisung”. Und Heerscharen von Wissenschaftlern, Publizisten und Politikern setzen auf die Angst vorm Aussterben, obwohl wir sicher wissen, dass im Jahre 2050 in Deutschland immer noch viel mehr Menschen leben werden als im Jahre 1950 – als das Land schließlich nicht gerade leer war. Regression bis hinein in die Reihen der kritischen Intelligenz.

Als Mitte Dezember das Reformpaket der Bundesregierung von Bundestag und Bundesrat nach einer unendlich langen Reformdebatte des Jahres 2003 beschlossen worden war, erklärten nicht nur einige journalistische und politische Heißsporne, sondern der große Pulk der politischen Meinungsführer, jetzt gehe es erst richtig los mit den Reformen: “Nach der Reform sei vor der Reform”, wir bräuchten die “permanente Reform”. Und tatsächlich wurde auch sofort über die nächste Steuerreform diskutiert. Und obwohl wir gerade eine Krankenkostenreform hinter uns haben und seit dem 1. Januar unter großen Schwierigkeiten einüben, wird schon die nächste große Reform verkündet. Und obwohl mit der Riesterrente ein Jahrhundertwerk geschaffen sein sollte, spricht man jetzt schon von der neuen Rentenreform.

Was für ein seltsames Verständnis von gesellschaftlichen Regelungen steckt hinter diesem eigenartigen Reformeifer? Gesellschaftliche Regelungen, die man in der Wissenschaft einmal Sozialtechniken genannt hat, sind in der Regel hochkomplizierte und meist auch über einen längeren Zeitraum gewachsene Regeln des Zusammenlebens: wie wir fürs Alter Vorsorge treffen; wie wir uns gegen Krankheit versichern; wie wir den Straßenverkehr regeln; dass wir unsere Kinder zum Schulbesuch verpflichtet haben; dass es Kindergeld gibt; wie unser Handelsrecht, das Recht der Kaufverträge und der Strafvollzug geregelt ist – das sind meist über lange Zeit gewachsene Strukturen; Strukturen, die man sinnvoller Weise nicht immer wieder verändert. Diese Behutsamkeit hat schon deshalb ihren guten Grund, weil die Mehrheit von uns Zeit und Kraft braucht, die Regeln kennen zu lernen und sich darin einzuüben und die richtigen Entscheidungen im Rahmen dieser Regeln zutreffen.

Jetzt müssen sich Arbeitnehmer, Unternehmer und Privatleute auf die neuen Steuersätze und Steuerregeln einstellen, die vorzuziehen im Dezember beschlossen wurde. Während sie das noch tun, wird die Notwendigkeit eines “grundsätzlich neuen Anfangs beim Steuersystem” – so Angela Merkel – verkündet. Bei unseren Eliten in Politik, Publizistik und Wissenschaft macht sich eine revolutionäre (genauer gesagt: eine konter-revolutionäre) Haltung breit, die der Kompliziertheit der Regeln und der Regelfindung in einer Demokratie nicht gerecht wird.

Ich bestreite ja nicht, dass es immer wieder notwendig werden kann, auch große Schritte der Veränderung zu wagen und zu tun. Aber dies sind Ausnahmen. Mit Recht hat Karl Popper schon vor langer Zeit darauf hingewiesen, dass es der Demokratie gemäß sei, nach schrittweisen Veränderungen zu suchen. Wenn heute von Politikern und Publizisten, von Wissenschaftlern und Autoren unzähliger Bücher der große Ruck, die Systemänderung, die Kulturrevolution verlangt wird, dann ist dies ein Rückfall in irrationales Denken und Gehabe. Das hat viel mit Wichtigtuerei zu tun und mit der Neigung, im großen Strom des gerade gängigen Trends mitzuschwimmen. “Wir brauchen eine ähnlich radikale Kulturrevolution, wie England sie unter Margaret Thatcher erlebt hat, wenn auch nicht die gleiche, denn irgendwie unterscheiden wir uns von den Manchester-Liberalen in England schon. Jedes Land braucht eine Kulturrevolution, wenn der Filz über 50 Jahre akkumuliert wurde. Jetzt ist Deutschland so weit.” Das schreibt Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchener Ifo-Instituts und Professor für Nationalökonomie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Wenn vor 40 Jahren einer der Doktoranden aus dem Ifo-Institut oder gar der Professor selbst im Möller- oder Preiser-Seminar im Seminargebäude am Siegestor einen solch modisch-unreflektierten Gedanken geäußert hätte, dann hätte man das Gelächter der Studenten bis zur Münchner Freiheit gehört. Heute lacht niemand.

© Süddeutsche Zeitung


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