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Titel: Die Wut des Ostens ist für das ganze Land

Datum: 3. Oktober 2022 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Aufbau Gegenöffentlichkeit, Innen- und Gesellschaftspolitik, Wertedebatte
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Unser Nationalfeiertag, der Tag der Deutschen Einheit, lässt uns jeweils am 3. Oktober seit 32 Jahren feierlich innehalten. Die Festtagsreden wirken versöhnlich, würdevoll und emotional, deren Tenor klingt wie „im Grunde ist alles gut und besser als vor der Wiedervereinigung, vor allem für den Ostteil der Bundesrepublik“. Lassen wir den Schmus der Festtagstrunkenheit weg. In unserem Staate war und ist vieles binnen und nach 32 Jahren nicht gut und besser, was nach sich zieht, dass Menschen zunehmend protestieren. Im Osten geschieht das mehr noch als im Westen, in den neuen Ländern sind die Menschen vielleicht betroffener, kritischer, gar politischer? Fakt ist, dem ganzen Land tut die Wut des Ostens gut. Noch etwas: Würden unsere Entscheidungsträger ihren Job für alle Bürger des Landes gut machen, gäbe es keinen Grund, auf die Straße zu gehen. Von Frank Blenz.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Ein Meer aus vielen Tropfen

Diese Hürde der Bequemlichkeit sitzt im Kopf, um ja nichts zu tun, aufkommende Wut zu artikulieren: Zu sagen, es bringt ja eh nichts. Derlei ist von Leuten zu hören, die sich von Protesten wenig bis nichts versprechen. Die Entgegnung lautet: Doch, Du bist ein Tropfen, viele Tropfen werden ein Meer. Es ist ein lyrisches Bild von Gemeinsamkeit und Kraft. Gerade im Osten sammeln sich mehr und mehr Tropfen. Aus denen könnte ein großes Meer werden. Die Aufforderung richtet sich gen Westen: Macht mit! In Medien und sozialen Plattformen wird über viele Demos im Osten, in kleinen und größeren Städten Thüringens, Brandenburgs, Sachsen-Anhalts, Mecklenburg-Vorpommerns und Sachsens, berichtet. In der Hauptstadt Berlin – geografisch im Osten der Republik gelegen, kommen (noch) keine hohen Teilnehmerzahlen zu Demos gegen die aktuellen Misstände zusammen. Doch sei nicht zu vergessen, dass in westdeutschen Kommunen sich auch etwas tut. Wird es ein Meer?

Der Ostbeauftragte und seine verdrossenen Schäfchen

Warum der Osten so tickt und warum die Widerborstigkeit der dortigen Bürger so ausgeprägt ist, interessiert die Bundesregierung. Darum hat sie seit vielen Jahren (trotz Einheit und Gleichheit und Brüderlichkeit) extra einen Ostbeauftragten beschäftigt, der diesen Landstrich unter die Lupe nimmt. Nebenbei, einen Westbeauftragten gibt es nicht, der Laden in den Altbundesländern läuft ja, oder? Der Ost-Nachgucker legt also das Ohr ans Volk, spürt vielleicht Defizite auf, auf dass die dann beseitigt werden. Oder nicht, dann wartet man halt bis zum nächsten Bericht. Läuft.

Deutschland ist seit 1990 e i n Land, bestehend aus der ehemaligen BRD und der ehemaligen DDR, aus West und Ost. Gern wird erzählt, unser Land sei auch im Inneren geeint, doch ist es noch immer ein geteiltes, ein bewusst unterteiltes Land. Das scheint so gewollt zu sein, dieses Oben und Unten, Haben und Nichthaben. Die Republik hat den Kapitalismus als Gesellschaftsform gewählt. Sieger und Verlierer. Der Ostbeauftragte stellt fest, dass die Politikverdrossenheit in Ostdeutschland rasant wächst. Hier muss Einspruch erfolgen: Es gibt keine Verdrossenheit in Sachen Politik, die Menschen sind wohl aufmerksam und interessiert, sie sind vielmehr verdrossen ob der agierenden bzw. nicht agierenden Politiker. Vor allem ob derer, die ihren Amtseid nicht erfüllen.

Nun hat der Beauftragte zur Lage der Einheit über die Befindlichkeiten im Land in seinem Bericht festgestellt, dass jeder Dritte im Osten grundsätzlich mit seinem Leben zufrieden sei, was einen starken Einbruch zu 2020 bedeutete. Der Vergleich zum Westen fehlt nicht. 43 Prozent der Ost- und 58 Prozent der Westdeutschen seien der Auffassung, dass man seine Meinung immer frei äußern kann, ohne Ärger zu bekommen, im Vergleich zu 50 vs. 63 Prozent vor zwei Jahren. Wirtschaftlich schließt der Osten sehr langsam zum Westen auf, heißt es zudem. Die Lage im Land werde zunehmend als sozial ungerecht empfunden. 23 Prozent im Osten und 33 Prozent im Westen sind mit der sozialen Gerechtigkeit eher zufrieden. Vor zwei Jahren waren es 32 beziehungsweise 42 Prozent. Der Bericht soll in Kürze in Gänze erscheinen.

Prozentzahlen hin oder her – die Lage ist ernst

Tatsächlich ist Deutschland ein ungerechtes, zerrissenes Land. Mit Ansage, nicht, weil die Zustände und Missstände Naturgesetz sind. Die gegenwärtige, gemachte Krise tobt. Es ist zum In-die-Knie-Gehen. Handwerksbetriebe mit langer Tradition wie Bäcker schließen, die Preise für Lebensmittel, Kraftstoff, Heizung und viele weitere Posten steigen und steigen. Horrende Rechnungen flattern Mietern ins Haus, die darin stehenden Beträge lösen Sorgen aus, bedeuten Not, vielleicht folgt gar das wirtschaftliche, das ganze Aus? Nach den Mietsteigerungen der vergangenen Jahre kommen weitere Forderungen. Dagegen an kommt man als kleiner Mann nicht. Wenigstens (Ironie aus) wird auf großen Plakaten in den Straßen für clevere Sparmaßnahmen bei Wasser, Licht, Strom geworben, als würde man einen trendigen Schokoriegel anpreisen. Die Regierung wirbt ebenfalls für ein Gürtel-enger-Schnallen. Und dass man nichts dafür könne, für die Preise, die Lage, man werde allenfalls reagieren. Greise politische Prominente meinen, dass man schon mal frieren kann für den Frieden. Oder doch für den Krieg? Die Städte kommen kaum noch hinterher, Menschen aus anderen gepeinigten Ländern willkommen zu heißen. Irrsinn herrscht, wohin man blickt.

Was die da Oben, die, die von dem ganzen Drama profitieren, genau wissen, ist: Die einfachen Menschen wollen lediglich ein faires, gutes Auskommen, sie wollen Frieden, sie fordern Zusammenarbeit, Austausch, Vernunft. Das bringt aber den obigen Wenigen nichts und ist gerade in diesen Kreisen nicht angesagt. Gute, soziale Politik brächte weniger Profit. An den Börsen knallt es jeden Tag – wegen der Sektkorken. Die aktuelle Regierung wählt wie die davor das Gegenteil dessen, was ihre Wähler verdienen, was sie fordern. Wer widerspricht, bekommt Ärger. Die Leute auf der Straße gerade im Osten spüren sehr genau, es ist dieses Ost-Misstrauen aus vergangenen Zeiten, wie sie am Nasenring durch die Manege gezogen werden. Diese Demütigung geschieht zur Freude unserer Verbündeten und Freunde und eben dieser Profiteure im Wertewesten und seiner „Vorzüge“ Armut, Verwahrlosung, soziale, gesellschaftliche, wirtschaftliche, intellektuelle, kulturelle Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Zurückdrängung von Bürgerrechten, Militarisierung der Gesellschaft, ungezügelter Reichtum, Heuchelei. Heuchelei ist auch das, was der Ostbeauftragte vorgibt zu tun – Beauftragter zu sein.

Nach 32 Jahren Wiedervereinigung steigt im Osten der Druck von der Straße

„Für diese Scheiße sind wir 1989 nicht auf die Straße gegangen.“ Der Satz wurde am letzten September-Wochenende bei einer der bisher größten Protestdemonstrationen in diesem „heißen Herbst“ 2022 in Plauen/Vogtland (Sachsen) auf einem Transparent durch die ganze Stadt getragen. An die 8.000 Leute liefen durch die Straßen. Der Satz auf dem Transparent fasst die Enttäuschung von Ostdeutschen zusammen, die die vergangenen 32 Jahre und die Jahre zuvor hautnah miterlebten, die vor der Wiedervereinigung ein politisch ziemlich ramponiertes Land, die DDR, erlebten, die darum auf die Straße gingen, die erreichten, dass die Bonzen in Ostberlin und im ganzen Osten davongejagt wurden. Eine kurze Zeit keimte zwischen 1989 und 1990 Hoffnung auf, es anders zu machen: anders als die alte DDR, anders als die alte BRD. Es wurde schließlich nichts daraus. Es gab andere Pläne, die der Bevölkerung als die Erfolgsgeschichte verkauft wurde. Der starke, große erfolgreiche BRD-Staat mit all seiner wirtschaftlichen, politischen und medialen Macht packte zu und es kam zum „Anschluss“. Allianz für Deutschland.

Die Jahre zogen im Auf und Ab ins Land mit dem Slogan „Rückgabe vor Entschädigung“, mit dem Treiben der Treuhand, mit all dem Monopoly inklusive Mietwucher, mit flächendeckender Deindustrialisierung, mit Privatisierungen, mit dem Abbau von Arbeiterrechten und Niedriglöhnen, mit Massenarbeitslosigkeit, Hartzgesetzen, Flüchtlingskrise, Corona-Politik usw.. Die 32 Jahre zogen auch mit Erfolgsgeschichten ins Land, persönlichen, gesellschaftlichen, institutionellen, Aufbau Ost, blühende Landschaften, schöne sanierte Altstädte, Reisen, kleiner und größerer Wohlstand, Fußball-Weltmeistertitel. 32 Jahre entwickelte sich Deutschland zu einem vor Kraft strotzenden kapitalistischen Land, das zunächst Land mit einer sozialen Marktwirtschaft genannt wurde. Das Wort „sozial“ wurde nach und nach gestrichen. Im Inneren ist die bundesdeutsche Gesellschaft wie nie zuvor nach Oben und Unten eingeteilt. Das wird so bleiben, geht es nach den Profiteuren. Die gesellschaftliche Teilung ist intensiv von Ost nach West sichtbar. Nach außen steigert sich die politische Führungsklasse in einen Wahn des aggressiven „Wir sind wieder wer Deutschland“.

Das alles erzeugt Widerspruch politisch interessierter Bürger. Gerade im Osten. Die Menschen zieht es erneut mutig auf die Straße, Ungerechtigkeiten, Bedrohungen, Anmaßungen, Machtmissbräuche wollen sie nicht mehr hinnehmen. Die Menschen fordern Änderungen, einen Wandel im Handeln der Gewählten und der Akteure, die die Hebel im Land und darüber hinaus in Händen halten. Die Wut schwingt in ihren Forderungen mit. Auf Demos wird das plakativ getan. Energie-Leitungen auf, Sanktionen weg, Waffenstillstand, Frieden, Koexistenz, Minister sollen gehen, am besten gleich die ganze Regierung. Bei Versammlungen im Rahmen der Demos kommen Redner zu Wort, die sich Luft machen, Forderungskataloge werden formuliert. Die Wirtschaftsmächtigen, die Geldmacher, die Politiker sind die Adressaten, die, die sich dumm und dämlich verdienen.

Die Demonstranten protestieren auch gegen die Arbeit von Medien, die ihren Protest kleiner machen, als er ist, die ihn diskreditieren, die in ihrer medialen Ausrichtung und in ihrem Sendungsbewusstein agieren wie bei Corona. Die Corona-Politik und dieses Gefolgschaftsverhalten – die Kritik daran ist nicht vom Tisch. Im Osten wurde heftig zwischen 2020 und 2022 protestiert, demonstriert und die Proteste, Einwände, Zweifel wurden heftig bekämpft. „Gaspreise, Kriegsgewinnler und Corona hängen zusammen“, sprechen die politisch nicht verdrossenen Demonstranten im Osten deutlich aus. Noch mal die Medien: Warum wird vom Begräbnis einer Königin, die nichts für den Fortschritt der Welt tat, in Dauerschleife berichtet, während die wirklich wichtigen Fragen nicht mal gestellt werden? Die Fragen und Forderungen, Antworten, Vorschläge, Debattenbeiträge der Menschen auf der Straße und im Umfeld – sie werden stattdessen untergebuttert: von der Ersten (Exekutive), Zweiten (Legislative), Dritte (Judikative) bis zur Vierten Gewalt (Medien) im Staat. Diese Leute und die Profiteure der Politik haben sich das Land unter den Nagel gerissen, das darf nicht so bleiben, so die Demonstranten.

Die Demos im ganzen Land für ein besseres Land

Meine Schwester lebt im Westen. Sie erzählt, dass in ihrer Region nahe der französischen Grenze kaum bis gar nicht demonstriert wird. Geschimpft wird ja, über die Preise, über Maßnahmen, über Entscheidungen der Politik. Doch außer ein paar kleinen Protestaktionen sind Demos bei den gutsituierten Bundesbürgern im Westen eher nicht angesagt, erlebt meine Schwester. Das Vertrauen in die beste aller Bundesrepubliken und in den politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Apparat scheint groß. Dazu kommt: Man will ja dazugehören, Bundesbürger, Bürgerlicher, in der Mitte der Gesellschaft stehender Mensch sein, also würde man sich mit Protesten eher verdächtig machen. Derlei Zurückhaltung und Mitlaufen war in den vergangenen bald drei Jahren deutlich zu beobachten. Meine Schwester stört das, so nimmt sie dagegen mit Lob und Staunen wahr, dass im wilden Osten ganz schön was los ist. Nicht ganz, sage ich, immerhin gehen auch in den alten Bundesländern Leute in größeren Kommunen auf die Straße. Die Begeisterung der Ost-Demos sorgt nun auch im Westen für etwas mehr Aufsehen und Aufmerksamkeit, sind wir, Ost- und West-Geschwister, uns einig. Also: Heraus auf die Straßen, im ganzen Land – für ein besseres Land.

Titelbild: © Frank Blenz


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