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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Auf dem Rücken unserer Kinder!
Datum: 27. September 2022 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Berufliche Bildung, Bildungspolitik, Fachkräftemangel
Verantwortlich: Redaktion
Sachsen-Anhalt probt die Vier-Tage-Woche, Nordrhein-Westfalen verschiebt Tausende Pädagogen auf fremdes Terrain und Sachsen setzt auf „planmäßigen Unterrichtsausfall“. Ein so nie dagewesener Lehrermangel treibt die seltsamsten Blüten und wird künftig doch nur der Normalfall sein. Es rächen sich jahrzehntelange Fehlplanung im Zeichen von Rotstift und Entstaatlichung und mit dem letzten Aufgebot an Amateurpaukern wird der Privatisierungslobby der Boden bereitet. Es gibt schönere Perspektiven. Aber die kosten Geld. Von Ralf Wurzbacher.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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An manchen Schulen in Thüringen hat Unterricht fast schon Seltenheitswert. Er wisse von Fällen, da werde nur an drei Tagen gelehrt, „weil an den anderen Tagen keine Lehrer vorhanden sind“, gab zuletzt Christian Tischner, bildungspolitischer Sprecher der CDU im Erfurter Landtag, zu Protokoll. In den siebten Klassen am Mühlhäuser Tilesius-Gymnasium zum Beispiel müssten in den kommenden vier Wochen 40 Stunden ausfallen, 24 wären es bei den achten Klassen, berichtete unlängst der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR). Das Karriereportal des Landesbildungsministeriums beziffert die Personallücke dieser Tage mit 762, wohingegen Tischner glaubt, es fehlten weit über 1.500 Kräfte. Die Stellen, die man allein zur Beschulung der ukrainischen Flüchtlingskinder bräuchte, „werden gar nicht ausgeschrieben“.
Überall in Deutschland regieren die Mangelverwalter. Und wie üblich nehmen sie dafür die öffentlich Bediensteten in die Mangel. An Nordrhein-Westfalens Lehranstalten sind offiziell 4.400 Planstellen vakant, besonders groß sind die Nöte im Primarbereich. Die Landesregierung verschiebt deshalb kurzerhand knapp 3.300 Lehrerinnen und Lehrer aus den weiterführenden Schulen an die Grundschulen – wohl für ein ganzes Schuljahr. Wer nicht freiwillig mitzieht, wird zwangsweise abgeordnet. Für Ayla Çelik, Landesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), kann es „nicht die Lösung sein, den Mangel an einer Schule zu beheben, indem man an einer anderen Schule Mangel schafft“.
Sachsen-Anhalt probt „5-minus-1“
Wo, wie in faktisch allen 16 Bundesländern, seit Jahrzehnten Schulpolitik wider jede Vernunft, jeden Plan und vor allem wider die Interessen der Heranwachsenden betrieben wird, gehört der Irrsinn zum politischen Tagesgeschäft. In Sachsen-Anhalt ist man gerade dabei, an zunächst zwölf ausgewählten Standorten eine Vier-Tage-Schulwoche zu erproben. Beim „4-plus-1-Modell“ wird von Montag bis Donnerstag in Präsenz unterrichtet, während am Freitag „alternative Lernformen“, bevorzugt am heimischen Laptop, praktiziert werden sollen. Kultusministerin Eva Feußner (CDU) bewirbt das Projekt mit Sprechblasen wie „selbstorganisiertes Lernen“, „mehr Flexibilität bei der Unterrichtsplanung und -durchführung“ und „zusätzliche Freiräume“.
Dabei geht es bloß darum – Stichwort „5-minus-1“ – auf Biegen und Brechen den auf lange Sicht riesigen Engpässen bei der Personalausstattung zu begegnen. „Das ist amtlich sanktionierter Unterrichtsausfall“, findet die GEW-Landesvorsitzende Eva Gerth. Für sie ist es kein Zufall, dass ausgerechnet Gemeinschafts- und Sekundarschulen für den Testlauf auserkoren wurden. „Dort sind die Defizite am größten, derzeit fällt jede zehnte Unterrichtsstunde flach.“ Was konkret am fünften Tag passiert, bleibt rätselhaft. Im Gespräch sind Dinge wie digitaler Fernunterricht – trotz der leidvollen Erfahrungen während der Corona-Krise – oder Besuche bei Unternehmen, um den Schülern „vor Ort Praxiswissen zu vermitteln“. Wer aber beaufsichtigt die Kinder beim Distanzunterricht? Müssen sich Eltern extra dafür freinehmen? Wer stellt sicher, dass alle ans Internet angeschlossen sind oder über die passenden Geräte verfügen? Und wird am Tag fünf überhaupt die Schulpflicht erfüllt?
Jahrzehntelange Fehlsteuerung
Alles egal, Hauptsache „innovativ“ – und ein Graus mehr für jeden Pädagogen. „Engagierte Lehrkräfte und Schulleitungen werden verschlissen, weil von ihnen die entsprechenden konzeptionellen Überlegungen zusätzlich zu ihrer normalen Arbeit erwartet werden“, bemerkte GEW-Chefin Gerth. Auch der Landeschef des Verbands Bildung und Erziehung, Torsten Wahl, ist überzeugt: „Das alles bedeutet für die Lehrkräfte eine enorme zusätzliche Belastung.“ Hier werde „eindeutig Lebens- und Lernzeit auf Kosten der Schülerinnen und Schüler vergeudet“.
Gleichwohl könnte das Experiment Zukunft haben, wenngleich es fürs Erste auf das laufende Schuljahr 2022/23 beschränkt sein soll. Laut einem Schreiben Feußners an die betroffenen Schulleitungen sollen durchaus Erkenntnisse für „eine Übernahme (…) in den Regelbetrieb“ gewonnen werden. Nachahmer könnte es auch schon bald geben, vielleicht ja demnächst Brandenburg. Die „Märkische Allgemeine“ titelte vor einem Monat: „Traum aller Schüler: Kommt die Vier-Tage-Schulwoche?“ Derweil hat Ministerin Feußner bereits die nächste Zumutung im Köcher. Laut einem Bericht der „Volksstimme“ denkt sie darüber nach, „die verlässlichen Öffnungszeiten in Grundschulen zu reduzieren“. Vorm Bildungskahlschlag ist kein Tabu sicher.
Der seit Jahren grassierende, in der aktuellen Dimension allerdings nie dagewesene Lehrermangel ist nicht vom Himmel gefallen. Die Ursachen liegen in einer unheilvollen Mischung aus föderaler Fehlplanung und -steuerung der Kultusminister und einer Bildungspolitik im Zeichen von Spardiktaten, Entstaatlichung und Privatisierung. Die NachDenkSeiten hatten die Gründe der Misere an dieser Stelle umfassend behandelt. Im Zentrum stand bei dem Beitrag die These, dass die Vorgaben für eine „auskömmliche Unterrichtsversorgung“ noch niemals und nirgendwo darauf abgestellt waren, was wahrhaftig und gemäß wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Besten des Kindeswohls ist. Entsprechend war und ist der sogenannte Einstellungsbedarf eine variable, mit diversen Stellschrauben – etwa Stundendeputat oder Klassengröße – manipulierbare Größe, maßgeblich dadurch bestimmt, was der Geldbeutel der Landesfinanzminister gerade hergibt.
Lehrer kann doch jeder
Nach vorsichtigen Schätzungen der GEW und des VBE konnten bundesweit zum neuen Schuljahr zwischen 20.000 und 30.000 Pädagogenstellen nicht besetzt werden. Im Gespräch mit den NachDenkSeiten verwies der VBE-Bundesvorsitzende Udo Beckmann auf eine im Auftrag seines Verbands im Frühjahr vorgelegte Expertise des Bildungsforschers Klaus Klemm. Danach könnten bis 2035 „fast 160.000 Lehrkräfte fehlen“, sollten einerseits die Reformmaßnahmen zu Ganztagsbetreuung, Inklusion und der Förderung von sozial benachteiligten Kindern umgesetzt werden, aber gleichzeitig personalpolitisch „kein Umdenken in der Politik stattfinden“.
Klemm ist nicht bekannt für Dramatisierungen und mit seinen Berechnungen lag er bis dato stets um Längen näher an der Wirklichkeit als die Kultusministerkonferenz (KMK). Die hatte im vergangenen März mit ihrer Modellrechnung ein Defizit von lediglich 23.800 Pädagogen bis 2035 ausgemacht, was laut Klemm angesichts des Neuangebots originär ausgebildeter Lehrkräfte aber „höchst unrealistisch“ sei. Weder seien die Annahmen durch jüngste Entwicklungen bei den Studierendenzahlen im Lehramtsstudium gedeckt noch durch die Zahl der Schulabsolventen in den kommenden Jahren. Und noch einmal: Die KMK-Vorhersagen erwiesen sich rückblickend durch die Bank als komplett untauglich, nicht nur was den Entwicklung der Lehrerzahlen angeht. Dasselbe gilt für die Ermittlung der Schüler-, der Studierenden- sowie der Erzieherinnenzahlen. Mit dem Tag der Verkündigung war das böse Erwachen immer schon programmiert.
Aber kalkuliert die Politik überhaupt noch mit waschechten Pädagogen, die an den Unis aufs Lehramt vorbereitet werden? Tatsächlich geht der Trend immer mehr zum Quer- und Seiteneinstieg. Dabei haben Quereinsteiger zumindest in einem ihrem Unterrichtsfach verwandten Bereich studiert und ein Referendariat absolviert. Seiteneinsteiger haben nur irgendetwas studiert und auch keinen Vorbereitungsdienst durchlaufen, sondern werden in der Regel nach einem Crashkurs in Pädagogik auf die Schüler losgelassen. Man stelle sich vor, zur Qualifikation zum Arzt genügte plötzlich eine Erste-Hilfe-Ausbildung. Da wäre das Entsetzen groß und das Blutvergießen. Aber die Beschulung von Kindern und Jugendlichen darf heute praktisch jeder besorgen, der mal eine Uni von innen gesehen hat. Wenn überhaupt. In den Strategiepapieren der Privatisierungslobby wird der Nachwuchs bei seinen Streifzügen durch blinkende Lernplattformen nur mehr von „Lernbegleitern“ behelligt. So weit ist die Zukunft nicht mehr weg.
Aus Corona nichts gelernt
Nach Auskunft von Anja Bensinger-Stolze, im GEW-Bundesvorstand für den Schulbereich zuständig, hätten von den in diesem Jahr in Berlin neu eingestellten Lehrkräften über die Hälfte „keine oder keine vollständige Lehramtsausbildung“ und arbeiteten „überwiegend befristet“. 600 Vollzeitstellen seien zum Schulstart „gänzlich unbesetzt“ geblieben, erklärte sie gegenüber den NachDenkSeiten. Laut Beckmann vom VBE seien in Brandenburg fächerübergreifend über „30 Prozent“ der unbefristeten und „über 70 Prozent“ der befristeten Stellen an Quer- oder Seiteneinsteiger vergeben worden. „Dies macht in der Gesamtschau fast 15 Prozent der Kolleginnen und Kollegen im aktiven Dienst aus.“
Ganz mau sieht es in den MINT-Fächern aus (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft, Technik). Fachleuten zufolge könnte dort der Bedarf an richtigen Lehrern im Jahr 2030 nur noch zu einem Drittel gedeckt werden. „Die Politik hat sich die Situation seit Jahren schöngerechnet“, beklagte der VBE-Chef. Den Schulen seien immer mehr Aufgaben zugewiesen, die notwendigen Ressourcen aber verweigert worden. „Nach dem Motto: Die werden das schon irgendwie machen, hat man das Berufsethos der Lehrkräfte schamlos ausgenutzt.“ Auch Bensinger-Stolze lastet den Ländern an, „die Augen vor der Entwicklung schlicht verschlossen und viel zu wenige Lehrkräfte ausgebildet zu haben“. Außerdem habe die KMK ihre Aufgabe, „strategisch zu planen und die Arbeit der Länder zu koordinieren, vernachlässigt“.
Ausbaden müssen das die Beschäftigten und mehr noch Kinder und Jugendliche, von denen in den Sonntagsreden der Politiker gerne als „unsere Zukunft“ die Rede ist. Nach den Verheerungen zweier langer Lockdowns in der Pandemie, die gerade bei Kindern aus sozial benachteiligten Haushalten erhebliche mentale Wunden und massive Lernrückstände hinterlassen haben, hätte das Gebot der Regierenden eigentlich Wiedergutmachung lauten müssen. Stattdessen wurde einfach weiter getrickst und gewurstelt, als wäre nichts gewesen, ohne jeden Sinn dafür, dass allein mit Corona und den Folgen gewaltige Krater im ohnehin dezimierten Personaltableau zurückbleiben (Erkrankungen, Long-Covid-Fälle, Berufsaufgaben aus Angst oder wegen des Impfdrucks). Und just zu diesem Zeitpunkt ist mit der Beschulung Zehntausender Flüchtlinge aus der Ukraine eine neue Herausforderung aufgetaucht, die das pädagogische Personal endgültig über die Grenzen der Belastbarkeit bringt.
Raus aus dem Teufelskreis
Dabei wäre gerade umgekehrt Entlastung das, was den Beruf wieder attraktiver machen würde: also weniger Pflichtstunden, kleinere Klassen, Konzentration auf das Kerngeschäft, mehr Wertschätzung, besseres Verdienst. Bensinger-Stolze fordert nichts weniger als eine 180-Grad-Wende: „Wenn die Politik sagt, dass sie die Arbeitszeit nicht senken könne, weil es zu wenige Lehrkräfte gebe, wird genau andersherum ein Schuh daraus. Mit abschreckenden Arbeitsbedingungen kann man niemanden für den Lehrkräfteberuf gewinnen!“ In der Folge gebe es dann noch weniger personellen Spielraum für bessere Arbeitsbedingungen. „Dieser Teufelskreis muss durchbrochen werden.“ Das deckt sich mit den Vorstellungen Beckmanns: „Das Berufsfeld Schule muss so attraktiv gestaltet werden, dass junge Lehrkräfte ihre Vision von Schule verwirklichen können.“
Aber auch kurzfristig lassen sich Hebel ansetzen. So plädieren GEW und VBE für den Einsatz „multiprofessioneller Teams“, die die Lehrkräfte unterstützen und von fachfremden, administrativen und technischen Aufgaben befreien müssten. Zum Beispiel könnten sich Schulsozialarbeiter und -pädagogen um die Betreuung traumatisierter oder kranker Flüchtlingskinder kümmern. Daneben brauche es eine kurzfristige Qualifizierungsoffensive von Quereinsteigern mit langfristiger Berufsperspektive, ein rasches Hochfahren der Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen, die Abschaffung des Numerus clausus in den Lehramtsfächern sowie die Bereitstellung von mehr Referendariatsplätzen durch die Bundesländer.
Und schließlich müssten die KMK und die Länder „endlich den Weg beschreiten, kontinuierlich eine ausreichende Zahl von Lehrkräften auszubilden und einzustellen, um den ständigen Zyklus von Lehrkräfteüberschuss und -mangel zu überwinden“, erklärte Bensinger-Stolze. „Diese bundesweite Fachkräfteoffensive muss im Sinne des im Koalitionsvertrag verankerten Kooperationsgebotes in einer Verantwortungsgemeinschaft von Bund, Ländern und Kommunen umgesetzt und voll ausfinanziert werden“, bekräftigte Beckmann. Das alles würde reichlich Geld kosten und bei einem Sanierungsstau bei Schulbau- und -sanierung von laut GEW 50 Milliarden Euro kommt allerhand zusammen. Aber sollte es uns das nicht wert sein? Und wo bleibt eigentlich das 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bildung? Oder fürs Erste eine konzertierte, bundesweite Anwerbekampagne?
Föderale Hahnenkämpfer
Nicht mit dieser Bundesregierung – oder den föderalen Hahnenkämpfern. Schon seit Jahren jagen sich die Länder die wenigen Lehramtsnachrücker von den Hochschulen mit Lockangeboten ab, sei es mit höheren Gehältern oder der Aussicht auf eine schnelle Verbeamtung. Selbst die Hauptstadt Berlin ist nach bald 20 Jahren wieder dazu übergegangen, Lehrkräfte in die Staatsdienerschaft zu befördern. Dafür fällt im Gegenzug Anfang 2023 eine Zulage von 1.600 Euro für Berufsanfänger im Angestelltenverhältnis weg, was zuvorderst ältere Quereinsteiger betrifft. Des einen Freud, des anderen Leid, oder haushälterisch gesprochen: ein Nullsummenspiel. Mit Blick auf die herrschende Personalnot an den Berliner Schulen nannte der Vorsitzende der Landes-GEW, Tom Erdmann, den entsprechenden Senatsbeschluss eine „hochdramatische Entwicklung“.
Eine nüchterne Wortschöpfung zur Beschreibung des schulpolitischen Bankrotts hat hingegen Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) geliefert. Fürs neue Schuljahr hat er „erheblichen planmäßigen Unterrichtsausfall“ angekündigt. Das ist wenigstens ehrlich.
Titelbild: Nicole Lienemann/shutterstock.com
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