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Titel: Wieso ich nach 58 Jahren aus der SPD austrete: Faktische Kriegsteilnahme Deutschlands unter der Führung von SPD-Kanzler Scholz
Datum: 2. Oktober 2022 um 11:30 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege, SPD
Verantwortlich: Redaktion
Jeder Mensch wird in eine vorgefundene Geschichte hineingeboren. Sie prägt das Denken und auch das Handeln. „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“, heißt es bei Karl Marx. Wer also verstehen will, warum ich, der viele Jahre die SPD und damit die Kreispolitik im Landkreis Aurich mitgestaltete, „seine“ Partei nach 58 Jahren verlassen habe und eine sehr kritische und nach allen Seiten hin skeptische Haltung gegenüber dem Krieg Russlands in der Ukraine einnehme, sollte in diese Lebensgeschichte eintauchen. Viele Menschen der Nachkriegsgeneration werden sich sicherlich wiedererkennen. Von Erwin Wenzel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Mein Opa Albert erzählte mir, dem 1947 Geborenen, in den 1950er Jahren bei jedem Besuch die Geschichte von der Tannenberg-Schlacht in den ostpreußischen Masuren und der Erstürmung der Doppelanhöhe „Toter Mann“ in Verdun:
„Mit hundert Mann stürmten wir nach oben und mit vier kamen wir oben an!“
Was ich als Kind befremdlich fand, wurde mir später im Studium des Ersten Weltkrieges klar. Wilhelm II, die Generalität und kriegerische Nationalisten hatten das deutsche Volk in das fürchterliche Schlachtengewitter getrieben mit dem Ziel, Deutschlands Weltgeltung zu sichern. Leider hatten auch die Sozialdemokraten bis auf wenige Aufrechte im Reichstag den Kriegskrediten zugestimmt. Noch in den Monaten vor Ausbruch des Weltkrieges hatten Hunderttausende in ganz Europa für den Erhalt des Friedens demonstriert. Aber im August 1914 eroberte der Nationalismus endgültig die Köpfe und Herzen. Seit Clausewitz heißt es zudem, dass Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. „Gewalt ist die Ultima Ratio“. Auch von heutigen Bellizisten in allen Parteien wird dieser Grundsatz immer noch deklamiert, obwohl er nichts weiter ist als die Ultima Irratio, wie Willy Brandt am 11. November 1971 so prägnant formulierte. Albert kehrte verwundet an Leib und Seele zurück nach Pommern, während andere sich für eine Zeitenwende der demokratischen Republik einsetzten.
Das Scheitern der Weimarer Republik führte zur Diktatur der Nationalsozialisten und zur Fortsetzung des Weltkrieges. Nationalisten, Monarchisten und Antidemokraten waren die Totengräber, sicher auch, weil der Versailler Friedensvertrag die Saat des Hasses lebendig erhielt und die imperialistischen Großmachtfantasien wie „am Deutschen Volke sollen alle genesen“ die Köpfe vieler beherrschte.
So wurde mein Vater Ernst 1939 als Soldat eingezogen und kehrte verwundet aus dem Krieg zurück, heiratete eine Ostfriesin und machte sich als Zimmerer in Norden einen Namen. Nur bruchstückhaft erzählte er mir von Kriegserlebnissen. Im Kanal mit dem Räumboot „abgesoffen“, gerade noch überlebt, im Schwarzen Meer starb direkt neben ihm an Bord sein Freund an einer Kugel. Alles andere, insbesondere Gefühle, schloss er tief in sich ab, sodass ich nie wirklich erfuhr, was die Überlebenden Opa Albert und Vater Ernst traumatisch erlitten hatten, wie Millionen andere auch. Gleichwohl wurden die Kriege, von Verbrechern vom Zaun gebrochen, Elemente seiner verletzlichen Seele. „Nie wieder Krieg“ – ich wurde Pazifist und bin es bis heute.
Es gibt noch ein zweites Erleben, das mich prägte. 40 Mark betrug damals, in den 1950er Jahren, das Schulgeld für das Gymnasium in Norden. 40 Mark, wie sollte das der hart arbeitende Vater bezahlen können? Ich hatte Glück, der Landkreis Norden gewährte mir ein Stipendium, so konnte ich nach einer Aufnahmeprüfung auf die höhere Schule. Als damals einziges Arbeiterkind blieb ich eine Ausnahme unter den Ärzte-, Apotheker- und Fabrikanten-Söhnen. Und so wurde „Bildung für alle“ eine Lebensaufgabe für mich, in meinem späteren Beruf als Lehrer und in meiner Berufung als Kommunalpolitiker.
Betrachtet man meinen Lebenslauf genauer, dann kann man schon staunen. Im Frühjahrssemester 1968 ging der Kleinstädter nach Berlin, an die Freie Universität, als Politik-Student ans Otto-Suhr-Institut – dorthin, wo zu dieser Zeit die Studentenbewegung einen ersten Höhepunkt erreichte, der Aufstand der Studenten gegen ein Lehrsystem des 19. Jahrhunderts, das auch noch vom Dritten Reich geprägt war, vor allem aber im Kampf gegen die US-Kriegsverbrechen in Vietnam und für eine tolerante und gerechte Gesellschaft.
Ein Wandel, der unser Land für Jahrzehnte beeinflusste, einerseits für eine freiere Gesellschaft, für die Emanzipation der Frauen und dem Gang durch die Institutionen, andererseits durch gewalttätige Irrwege einer kleinen Minderheit in Form des individualistischen RAF-Terrors. Und ich, damals junger Student, seit 1964 Mitglied der SPD, mittendrin. Nicht als Mitglied des aufrührerischen und dogmatischen Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), sondern als Mitbegründer der Sozialistischen Hochschulgruppe (SHG), eines Verbands, der das Ziel der grundlegenden Systemreformen demokratisch anstrebte. Als Student der Politikwissenschaften, ausgestattet mit einem Stipendium der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, lernte ich viel über meine eigene Vergangenheit. All das über den Nationalsozialismus zum Beispiel, was damals weder die Schule noch der eigene Vater vermitteln konnten oder wollten. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass es in Engerhafe oder auch im Emsland Konzentrationslager gab. Außerdem hatten Altnazis in der Bonner Republik unter Kanzler Adenauer noch erhebliche Karrieren gemacht, Juristen, Ärzte, Militärs, Ministerialbeamte und viele mehr.
Als Student an diesem Brennpunkt der Geschichte hätte ich wohl groß herauskommen können – wie so viele meiner Kommilitonen, die Jahre später die Politik unseres Landes mitbestimmten. Aber ich ging als Diplom-Politikwissenschaftler einen anderen Weg: Zwei aussichtsreiche Stellen in Frankfurt und Saarbrücken bekam ich nicht, aber eine Stelle an der BBS 1 (berufsbildende Schule). Und die führte mich 1973 zurück nach Emden, in die Heimat. Als Politik- und Geschichtslehrer an der Berufsschule, angestellt und nicht verbeamtet, weil Pädagogik nicht Teil meiner Ausbildung gewesen war. Weniger Gehalt, weniger Rente – eine Ungerechtigkeit, die mich bis heute ärgert. Und weil meine Frau und ich wegen der Immobilienpreise kein Häuschen in Emden fanden, zogen wir in die Peripherie nach Suurhusen. Was Folgen hatte, denn ich, der 1981 nach meinem Engagement gegen den gefährlichen Weg zum Kindergarten erstmals in den Gemeinderat von Hinte gewählt wurde, machte fortan Politik im Kreis Aurich und nicht in der Stadt Emden.
Als Lehrer war ich einer, den man damals progressiv genannt hat. Ich animierte meine Schüler zu Projektarbeit, organisierte Streetball-Turniere, um Aggressionen zwischen verschiedenen Gruppen zu kanalisieren, versuchte, Hauptschüler zum Lesen anzuregen, und vieles andere mehr. Das war nur möglich im Rahmen einer fortschrittlichen, auf Teamarbeit orientierten Berufsschule. Als Politiker, von 1991 an auch im Kreistag Aurich, war ich durchaus an der Durchsetzung meiner Vorstellungen interessiert, gerade in den 16 Jahren (bis zu meinem Rückzug 2011), als ich den SPD-Fraktionsvorsitz innehatte. Ich sei ein „ein überzeugter Genosse“ gewesen, erinnern sich manche, die mich erlebt hatten. Ich suchte den Dialog mit den Bürgern, weil mir Bürgerbeteiligung ein wichtiges Anliegen war. Ich setzte mich für Volksabstimmungen auf allen Ebenen der föderalen Bundesrepublik ein.
Ich kämpfte gegen die Pläne für eine Zentralklinik und wollte stattdessen einen Verbund der bestehenden Krankenhäuser. Die Ökonomisierung des Gesundheitswesens, auf der Bundesebene entschieden, machte aber einen Strich durch die patientenfreundliche Lösung. Ich engagierte mich für den Ausbau von Gesamtschulen und gegen Privatschulen. Nie wieder für Bildung bezahlen! Und ich wollte Stärke durch Einigkeit in Ostfriesland: Ein Regionalrat sollte die Interessen der drei Landkreise und der Stadt Emden bündeln. Einer für alle statt jeder für sich. Das wäre die beste Perspektive für unsere Region, davon bin ich immer noch überzeugt.
Der Regionalrat kam nie ins Laufen, bis er 2015 abgewickelt wurde. Und die Zentralklinik soll nun gebaut werden, nur ein paar Kilometer von meinem Wohnsitz entfernt. In meinem politischen Leben gab es Höhen und viele Tiefen. Die größte Enttäuschung aber ist für mich als „demokratischen Sozialisten“ die eigene Partei. Die SPD.
Zwei Seiten hat das Schreiben, in dem ich meinen Austritt „mit sofortiger Wirkung“ erkläre und mein rotes Parteibuch zurückgebe. Die Gründe ergeben sich aus meiner Lebensgeschichte: Die Waffenlieferungen an die Ukraine, das „riesige Aufrüstungsprogramm“ für die Bundeswehr, auch die öffentliche Entschuldigung des jetzigen Bundespräsidenten und früheren Außenministers Frank-Walter Steinmeier dafür, dass die Bundesregierung viele Jahre Russland in eine neue Friedensordnung einbinden wollte – das und vor allem der mangelnde innerparteiliche Entscheidungsprozess ist für mich nicht weniger als ein Verrat an den eigenen Grundwerten. An der alten SPD, geprägt von Willy Brandt, neuer Ostpolitik und Wandel durch Handel – eben Friedenspolitik.
Dass diese SPD in einer neuen Realität Politik machen muss, dass Russlands Angriff auf die Ukraine die friedlichen Möglichkeiten nach 1991 endgültig zerstört hat, dass in der Ukraine Millionen von Menschen ums nackte Überleben kämpfen, das sehe ich auch, aber als Pazifist und geopolitischer Analytiker ziehe ich meine eigenen Schlüsse daraus: Die Vorgeschichte der geopolitischen Strategen muss auch in Rechnung gestellt werden:
Die USA wolle diesen Krieg, um in der seit Ende des Kalten Kriegs destabilisierten Welt ihre Vormachtstellung zu behaupten. Es sei ein Stellvertreterkrieg der Großmächte Russland und USA, ein Wirtschafts- und Kulturkrieg um die „Rohstoffe der Welt“. Und die EU hat zwar auch eigene Interessen, ist aber inzwischen lediglich ein „Vasall der USA“, die selbst für zahllose Kriegsverbrechen in der Welt verantwortlich ist. Zudem bereiten sich die gesellschaftlich gespalteten USA auf den Krieg mit China vor. Die bisher einzige Weltmacht kann es wohl nicht verkraften, dass ihre Position in der Welt infrage gestellt wird. Und auch die EU hat eigene, fast imperiale Macht- und Wirtschaftsinteressen. Eine Außenpolitik der Friedenssicherung ist das nicht.
Wie können wir es verantworten, mit unseren Waffen und unseren Worten den Krieg in der Ukraine anzuheizen?, frage ich und es ist klar, dass das Morden und das Sterben aller Soldaten und Zivilisten in der Ukraine bei mir völliges Unverständnis und Mitgefühl auslöst. Ich zweifle daran, dass es in der Ukraine wirklich um unsere Freiheit geht und dass Wirtschaftssanktionen Wirkung auf Putin haben. Im Gegenteil, sie treffen ja uns mehr als Russland. Und in einem Leserbrief schreibe ich: „Jeder Krieg ist ein Verbrechen. Menschen werden getötet und verletzt, ukrainische wie russische. Wer wirklich dafür verantwortlich ist, ist nicht so klar, wie es scheint.“
Nein, ich bin kein „Putin-Versteher“, auch wenn Menschen, die so denken wie ich, zurzeit gerne durch eine solche Schublade diskreditiert werden. Ich, der als politischer Aktivist viele Jahre über Mehrheiten verfügte, vertrete mit meiner Haltung auch nicht unbedingt eine Mehrheit in unserem Land. Ich bin einfach nur ein Idealist, ein Pazifist, einer, der den Fokus auf die Verhinderung von Krieg und Gewalt richtet und kein Öl in das Feuer gießt, wie insbesondere die grüne Außenministerin.
Ich bin für einen realistischen Pazifismus und kein irrationaler Dogmatiker wie z.B. Anton Hofreiter, Ralf Fücks und Co. Darauf bin ich stolz im Namen meines Großvaters und Vaters, die ihre Jugend in völlig sinnlosen Kriegen verloren haben. Im Namen meiner Kinder und Enkel, denen ich eine friedliche Zukunft und keinen Weltkrieg wünsche. Die Außenpolitik der Bundesrepublik ist leider nicht mehr realistisch, sondern dogmatisch und verfolgt nicht den geringsten Plan, wie der Krieg hätten vermieden werden können, und hat auch keinen, wie er jetzt nach dem Ausbruch beendet werden kann.
Inzwischen wird immer klarer, dass die Eskalation des Krieges immer neue Formen annimmt und in unserem Land die Folgen der deutschen Außenpolitik der faktischen Kriegsteilnahme das Land und die Menschen in eine fast ausweglose Krise geführt hat.
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