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Titel: „Aus der Neonazi-Szene“ – Eine Falschmeldung des MDR und was der Umgang damit über den Zustand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aussagt
Datum: 22. September 2022 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Medienkritik
Verantwortlich: Florian Warweg
Am 5. September fanden in Leipzig mehrere Demonstrationen gegen die steigenden Energie- sowie Lebensmittelpreise und die damit einhergehenden massiven sozialen Verwerfungen statt. Der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR) berichtete unter anderem in einem Live-Ticker darüber und verbreitete in diesem Zusammenhang eine nachweisliche Falschmeldung. Die Art und Weise, wie die Rundfunkanstalt mit dieser Fake News bis heute umgeht, wirft ein bezeichnendes Licht auf Arbeitsweise und Selbstverständnis bei diesem ARD-Ableger. Von Florian Warweg.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Unter dem Motto „Heißer Herbst gegen die soziale Kälte“ hatte am Montag, den 5. September, DIE LINKE ihre Demonstration in Leipzig angemeldet, daneben gab es noch sechs weitere Kundgebungen, unter anderem auch von den „Freien Sachsen“ sowie der AfD. Dutzende Journalisten berichteten in verschiedensten Formaten über diese als Beginn eines „heißen Herbstes“ angekündigten Kundgebungen und Protestzüge. Besonders intensiv deckte dies der MDR ab, der mit zahlreichen Reportern vor Ort war.
Um 18:27 Uhr war im extra für die Demo-Berichterstattung angelegten Live-Ticker des MDR unter der Überschrift „Kurzer Zwischenfall auf dem Augustusplatz“ folgender Eintrag zu lesen:
„Wie ein MDR-Reporter berichtet, gab es auf dem Augustusplatz eine kurze Schlägerei. Grund sei gewesen, dass ein Fotograf aus der Neonazi-Szene innerhalb linker Demonstrierender entdeckt worden sei. Die Polizei sei dazwischen gegangen – aber in Unterzahl gewesen. Die Lage habe sich wieder beruhigt.“
Bei dem laut MDR „Fotografen aus der Neonazi-Szene“ handelte es sich um den Journalisten Jens Zimmer, der für das Medienprojekt „Infrarot – Sicht ins Dunkel“ in Form eines Livestreams über die verschiedenen Kundgebungen in Leipzig berichtete. Zimmer ist Deutsch-Türke, ordnet sich selbst als links ein und war zum Beispiel jahrelang Stammgast im legendären „Coop Anti-War Café“, einem bekannten Treffpunkt in Berlin für internationalistische Linke und die Friedensbewegung. Außer der Tatsache, dass Jens Zimmer derzeit kurz geschnittene Haare trägt, gibt es keinerlei faktische Grundlage für die Einordnung des MDR als „aus der Neonazi-Szene stammend“. Doch dies ist nicht die einzige Ungereimtheit in der Darstellung des MDR.
Der Vorfall, über den der MDR berichtet, ist unter anderem in diesem Video festgehalten oder auch hier ab Minute 05:00 im archivierten Livestream einsehbar.
Wie man in dem Video erkennen kann, gehen die Angriffe und Handgreiflichkeiten gegen den Pressevertreter einseitig von den selbsternannten „Antifa“-Vertretern aus. In keiner der Sequenzen sieht man Jens Zimmer zurückschlagen oder -treten. Das führt zur Frage, auf welcher Basis der MDR-Reporter von „Schlägerei“ spricht, denn dieser Begriff impliziert eine aktive gegenseitige körperliche Auseinandersetzung zwischen den involvierten Parteien.
Diese Aspekte wollte auch der betroffene Journalist beantwortet bekommen und wandte sich umgehend an den MDR mit folgenden Fragen:
Der MDR ließ einige Zeit ins Land gehen, beantwortete die Fragen dann aber zumindest teilweise. Den NachDenkSeiten liegt die Antwortmail des MDR vor, die wir hier ungekürzt wiedergeben (Hervorhebungen durch NachDenkSeiten):
„Sehr geehrter Herr Z.,
vielen Dank für Ihre Anfrage und Ihre Geduld. Anbei finden Sie unsere Antwort. Bei Bedarf zitieren Sie bitte einen Sprecher des MDR.
„Der MDR hat das sehr dynamische Demonstrationsgeschehen in Ticker-Form abgebildet. Dabei haben wir die unmittelbare Wahrnehmung der Außenreporter/innen wiedergegeben. Es liegt in der Natur der Sache, dass die einzelnen Sachverhalte nicht detailliert ausrecherchiert sind. Außerdem erfordert ein Live-Nachrichtenticker eine textliche Verkürzung.
Die handgreifliche Auseinandersetzung wertete unser Reporter vor Ort als „kurze Schlägerei“. Durch wen das Handgemenge ausgelöst wurde und wer dazu welchen Beitrag geleistet hat, wird nicht gesagt. Die Zuordnung „Fotograf aus der Neonazi-Szene“ als Tatsachenbehauptung ist nicht belegt, sondern lediglich eine Interpretation des Geschehensablaufes. Hier wäre bei kritischer Betrachtung eine neutrale Darstellung geboten gewesen, auch wenn der MDR in dem Live-Ticker weder Namen genannt noch Fotos oder Videomaterial von dieser Szene veröffentlicht hat. Deshalb war niemand erkennbar. Dennoch wird der MDR die betreffenden Textpassagen überarbeiten.“
Die Antwort spricht wohl für sich. Zunächst die argumentative Nebelkerze, es läge „in der Natur der Sache“ eines Tickers, dass Sachverhalte nicht „ausrecherchiert“ werden und es zu „textlichen Verkürzungen“ kommt. Wer will dieser Darstellung zunächst widersprechen? Das stimmt grundsätzlich ja, kann doch aber nicht ernsthaft eine Rechtfertigung für die Verbreitung von Falschdarstellungen sein. Aber genau in diese Richtung geht dann der weitere Rechtfertigungsdiskurs des MDR: Der Reporter habe „lediglich eine Interpretation des Geschehensablaufes (sic!)“ geliefert. Diese Aussage des MDR muss man sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Eine komplette Absage an faktenbasierten, eigentlich der Neutralität verpflichteten Journalismus. Statt eines tatsachenbasierten bietet der MDR einen wahrnehmungsbasierten Live-Ticker und rechtfertigt das auch noch.
An diesem Skandal ändert auch der aufschlussreiche Alibi-Halbsatz, dass „bei kritischer Betrachtung eine neutrale Darstellung geboten gewesen“ wäre, nichts. Auch diese Aussage steht in ihrer Überheblichkeit für sich: Lediglich bei „kritischer Betrachtung“ wäre eine „neutrale Darstellung“ durch den MDR zu wünschen gewesen. Gut zu wissen. Es soll ja Zeiten gegeben haben, da war es genereller Anspruch, den Leser und Zuschauer auf Basis neutraler Darstellung zu informieren. Es hat im Übrigen auch nichts mit neutraler oder nicht-neutraler Darstellung im journalistischen Sinne zu tun, eine Zuordnung wie „Neonazi“ einfach ohne jegliche reale Grundlage zu erfinden, ergo Fake News zu produzieren.
Wie auch Jens Zimmer selbst ausführt, hätte schon eine einfache Nachfrage des anwesenden MDR-Außenreporters bei ihm gereicht, um die Sachlage aufzuklären. Genau das ist eigentlich auch die Aufgabe eines Außenreporters, Klärung von Sachverhalten durch direktes Gespräch mit den Beteiligten. Dies wäre auch in einem „dynamischen Demonstrationsgeschehen“ möglich gewesen. Ein Geschehen, welches zu diesem Zeitpunkt, noch vor Beginn der eigentlichen Demonstrationen, zudem noch gar nicht so dynamisch war, wie vom MDR behauptet.
Doch diese Klärung geschah nicht. Stattdessen gab es Berichterstattung nach Bauchgefühl, die in erwartbarer Konsequenz zur Verbreitung von Fake News führte. In diesem Zusammenhang lässt auch der Abschlusssatz in der Antwort des MDR aufhorchen: „Dennoch wird der MDR die betreffenden Textpassagen überarbeiten“. Wie überheblich und losgelöst von einer selbstkritischen Reflexion des eigenen journalistischen Tuns kann man sein, um in diesem Fall von „dennoch“ zu sprechen?
Ebenso aufschlussreich wie die Ausführungen und Rechtfertigungen des MDR ist die Tatsache, dass der MDR die zwei weiteren Fragen des Journalisten Jens Zimmer, ob der MDR über Bildmaterial des Vorfalls verfügt und ob das anwesende Kamerateam vom MDR war, vollständig ignoriert und auch nach mehrmaliger Nachfrage eine Antwort darauf verweigert. Über die Gründe für diese Verweigerungshaltung lässt sich nur spekulieren …
Die in der MDR-Mail verkündete Überarbeitung „der betreffenden Textpassagen“ sieht übrigens so aus:
Halten wir fest: Ohne jede faktische Grundlage und Verifizierung fällt der MDR, eine öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt, das Urteil „Neonazi“ gegenüber einem Journalisten, der dies wie dargelegt nachweislich nicht ist. Der MDR hat also Fakenews verbreitet. Doch statt selbstkritischer Aufarbeitung und Entschuldigung wird eine regelrechte Rechtfertigungsorgie vorgetragen und die nur auf Nachfrage und Druck vorgenommene Korrektur der Falschmeldung als generöses Zugeständnis („Dennoch…“) verkauft. Diese sich in der MDR-Antwort manifestierende Arroganz und Überzeugung der eigenen (journalistischen) Unfehlbarkeit steht wohl leider exemplarisch für Selbstverständnis und Zustand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in diesem Land.
Titelbild: Mo Photography Berlin / shutterstock
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