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Titel: Von der Geißel Gottes zum Killer-Narrativ – Militärischer Fortschritt im Cyberspace
Datum: 25. September 2022 um 11:45 Uhr
Rubrik: Militäreinsätze/Kriege, PR, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Als schlimmste Bedrohung Europas ging der Hunnenkönig Attila im 6. Jahrhundert in die Geschichte ein. Die Opfer seiner Raubzüge in Germanien, Italien und Gallien nannten ihn deshalb die Geißel Gottes. Vermutlich viel persönlicher als Attila sah sich sechshundert Jahre später Dschingis Khan als gottgesandter Eroberer, der das von ihm geschaffene Mongolenreich von Osteuropa bis China ausdehnte. Als er 1220 Buchara erobert hatte, soll er den in einer Moschee versammelten Honoratioren gesagt haben, dass er als Strafe Gottes für ihre Sünden gekommen sei. Von Dr. Wolfgang Sachsenröder.
Die Stadt wurde geplündert und Tausende ermordet. Historiker schätzen die Gesamtzahl der Todesopfer während seiner Herrschaft auf über dreißig Millionen. Seine Eroberungen wurden durch überlegene Waffentechnik und ausgefeilte Taktik, ein blitzschnelles Kommunikationssystem mit Reiterstafetten, effiziente Spionagenetze, aber vor allem durch gnadenlosen Terror so erfolgreich. Es gab nur die Wahl zwischen Unterwerfung und Tod, schließlich bedeutete der Name Dschingis Khan so viel wie universaler Herrscher, so wie der Beiname des mongolischen Hauptgottes Koke Mongke Tengri, als dessen Stellvertreter auf Erden sich Dschingis Khan wähnte.
Im Internet kursierend, aber historisch wohl nicht belegbar ist eine Erkenntnis, die Dschingis Khan zugeschrieben wird, dass nämlich Terror und Abschreckung nicht allein durch die Kriegerkaste gewährleistet seien, sondern durch die Feder von Gelehrten und Schreibern verbreitet werden müssten. Das scheint uns heute selbstverständlich, denn an nationale Mythen, Feindbilder, Kriegspropaganda und psychologische Kriegsführung sowie deren mediale Verbreitung sind wir gewöhnt wie kaum eine Generation vor uns. Wirtschaftskriege sind normal geworden und Sanktionen werden als erfolgreiche Waffe gefeiert, obwohl ihre Wirkung meist überschätzt wird. Russland soll für den Überfall auf die Ukraine bestraft werden, stellt aber im Gegenzug die Gas- und Öllieferungen ein.
Im neuen Zeitalter der kommerziellen Narrative, der Chatbots und Troll Factories hat sich inzwischen aber noch eine Steigerung angebahnt, die fatal an Dschingis Khan und seine mongolischen Intellektuellen erinnert, nämlich die Entwicklung von „weaponized narratives“. In Deutschland ist der Begriff Narrativ erst in den letzten Jahren in die Medien und den politischen Sprachgebrauch gelangt, wird aber noch weitgehend undifferenziert verwendet. Psychologie und Sozialwissenschaften sind inzwischen deutlich weiter, seit der französische Philosoph Roland Barthes und andere Sozialwissenschaftler Narrative seit den 1970er Jahren als eine komplexe Botschaft definiert haben, die die Realität strukturiert und Meinungen in der Gesellschaft verändert oder manipuliert. Damit wurde das Narrativ zu einem politischen Instrument, das auch von Aktivisten aller Schattierungen benutzt werden kann. Die exponentielle Verbreiterung der Informationskanäle durch soziale Netzwerke und andere elektronische Verbreitungswege hat dabei die Macht der traditionellen Medien eingeschränkt und einen gesellschaftlichen Konsens erschwert oder fast schon unmöglich gemacht.
Vielleicht die noch viel größere Neuerung entwickelt sich gerade in der militärischen Nutzung der Narrative, dem theoretischen und praktischen Ausbau von strategischen und als Waffe einsatzfähigen Narrativen oder „weaponized narratives“. Im Deutschen fehlt bisher noch eine griffige Übersetzung, vielleicht kommt „Killer-Narrative“ der Bedeutung am nächsten. In den USA wird jetzt daran gearbeitet, die bisher bekannten Propagandamethoden, die seit dem Ersten Weltkrieg mit den inzwischen stark verfeinerten Mitteln der Public-Relations-Industrie schon erheblich verbessert worden sind, durch solche waffenfähigen Narrative zu ergänzen.
Dschingis Khan, dem schon damals das effizienteste militärische Instrumentarium zur Verfügung stand und der trotzdem noch seine Schreiber und Gelehrten an den Kriegen beteiligen wollte, könnte vielleicht über das fortgeschrittene Forschungsprojekt schmunzeln, das 2015 an der Arizona State University eingerichtet wurde. Denn es geht genau um die Beteiligung einer interdisziplinären Gruppe von Wissenschaftlern an der intellektuellen Vorbereitung auf künftige militärische Auseinandersetzungen, im Idealfall aber auch auf deren Vermeidung. Durch Narrative, die den Gegner desinformieren, verwirren und mental schwächen, könnte dann eventuell sogar eine konventionelle kinetische Kriegführung vermieden und zivile Opfer verhindert werden. Eine entscheidende Schwächung und Demoralisierung des Gegners durch Killer-Narrative ist zudem erheblich kostengünstiger. Soweit der positive Ansatz.
Den Anstoß für das Projekt unter dem Namen „Weaponized Narrative Initiative“ oder WNI gab aber eher die Furcht vor einem Entwicklungsvorsprung Russlands auf diesem Gebiet, nachdem Hillary Clinton ihre Wahlniederlage gegen Donald Trump russischen Manipulationen zugeschrieben hatte. Wahlentscheidende Eingriffe durch Desinformationen und Datenspionage, wie die Hilfe der britischen Consulting- und Software-Firma Cambridge Analytica bei Donald Trumps Wahlkampagne und der Vorbereitung des Brexits, sind ein interessantes Nebenthema, haben aber den Ansatz von WNI, der weit darüber hinausgeht, mit ausgelöst. WNI erklärt dazu, dass auch wenn die konventionelle militärische Stärke weiterhin für die Position der USA als dominierende Supermacht entscheidend sei, die konventionelle militärische Überlegenheit durch Raketen, Tarnkappenbomber oder elitäre Spezialeinheiten nicht mehr als Antwort ausreichen würde. Das Projekt müsse die USA auch auf dem Gebiet der Narrative wieder zum Spitzenreiter machen und dafür sorgen, dass entsprechende Angriffe feindlicher Mächte rechtzeitig erkannt und erfolgreich abgewehrt werden können. Das Land befinde sich in der ungewohnten Situation, dass es gegenüber Russland im Rückstand sei und deshalb alles daransetzen müsse, so schnell wie möglich aufzuholen und zu überholen.
Den Initiatoren des Projekts, dem „Center on the Future of War“ und dem von der Ford-, Rockefeller, Bill and Melinda Gates Foundation und einer Reihe weiterer Stiftungen mit Millionenbeträgen finanzierten Thinktank „New America“ in Washington, fiel es nicht schwer, für ein derart patriotisches Projekt ausreichende Fördermittel zur Verfügung zu stellen. New America allein kann sich auf eine lange Liste von Millionenspenden verlassen, viele mit Laufzeiten über mehrere Jahre. Wie weit das WNI-Projekt in Arizona Teil einer erfolgreichen Projektfinanzierung der Universität ist oder eine unmittelbare Zusammenarbeit mit dem Pentagon und spezialisierten Armee-Einheiten einschließt, wird naturgemäß nicht auf der Webseite des Instituts preisgegeben.
Unter deren neuesten Beiträgen, meist Forschungspapiere, Interviews und Veranstaltungshinweise, findet sich die Einschätzung eines Professors, wie die Ukraine im Informationskrieg Russland mit dessen eigenen Methoden geschlagen hat. Während Russland nun als ruchloser Kriegsverbrecher dastehe, habe die ukrainische Informationskampagne den Westen überzeugt, dass das Land für Freiheit und Demokratie kämpfe, auch stellvertretend für weitere Länder, und deshalb jede Unterstützung und massive Waffenlieferungen verdiene. Das ist keine bahnbrechende, neue Erkenntnis, könnte allerdings auch einen Hinweis geben, wieso Präsident Selensky und seine Mitarbeiter das Narrativ-Klavier derart virtuos bespielen.
Die Aufrüstung der ukrainischen Armee begann bekanntlich schon 2014 nach der Krim-Annexion und könnte durchaus durch eine begleitende Beratung und Schulung über den Einsatz von Narrativen ergänzt worden sein. Eine Reihe von Schlüsselbegriffen und Formulierungen, die auch in den westlichen Medien ständig benutzt werden, deuten auf eine professionelle und gut koordinierte Informationspolitik hin, etwa unprovozierter Überfall, friedliebender Nachbarstaat, Beschuss von Schulen und Krankenhäusern, kaltblütiger Mord an unschuldigen Frauen und Kindern, herbe Verluste der Russen, fehlende Kampfmoral der russischen Soldaten, die über den Zweck ihres Einsatzes nicht informiert waren, die Reihe ist lang.
Abgesehen vom aktuellen Ukrainekrieg und seinen speziellen Narrativen zeichnen sich auf dem Gebiet der strategischen Manipulation von Gruppen und Gesellschaften weitere Entwicklungen ab. Psychologische Konditionierung und Marketingmethoden werden zunehmend verfeinert, im Bereich der militärischen Ausbildung sind dabei ganz erhebliche Innovationen zu verzeichnen. In seinem 1995 erschienenen Buch „On Killing“ beschreibt der ehemalige Oberstleutnant, Dozent an einer Militärakademie und Psychologe Dave Grossman eindringlich, wie die US-Armee mit Methoden der Konditionierungspioniere Pavlov und Skinner die Rekrutenausbildung revolutioniert hat. Während im 2. Weltkrieg die natürliche Tötungshemmung noch sehr hoch war, seien besonders im Vietnamkrieg bei der „Desensibilisierung“ der Soldaten erhebliche Fortschritte gemacht und die Abschussraten von 20 auf 90 Prozent erhöht worden.
Zu den vielen Facetten der Desensibilisierung und Aggressionssteigerung gehören vor allem Befehlsgehorsam, Schießübungen mit virtuellen menschlichen Silhouetten, Entmenschlichung des Gegners und Vergrößerung der psychologischen Distanz durch weittragende Waffen. Raketen Abschießen oder Bomben Abwerfen ist für den Soldaten emotional leichter als ein Nahkampf Auge in Auge mit einem Menschen, den man nicht kennt. Auf der Basis dieser erfolgreichen Weiterentwicklung wird nun an einem innovativen Instrumentarium gearbeitet, wie der Gegner mit Hilfe von Killer-Narrativen demoralisiert und sein Kampfeswille gebrochen werden kann. Strategische Killer-Narrative manipulieren die Art, wie Informationen eingeordnet und verstanden werden. Es geht nicht mehr um simple Desinformation, sondern ein manipuliertes Verständnis von Informationen und die daraus folgenden Entscheidungen und Aktivitäten, natürlich primär in militärischen Auseinandersetzungen. Der Ukrainekrieg scheint nicht nur auf dem Gebiet der Waffentechnik, sondern auch bei den Killer-Narrativen ein geeignetes Versuchslabor zu sein, um die wahre Stärke des russischen Militärs zu testen und gleichzeitig, wie Verteidigungsminister Lloyd Austin offen ankündigte, Russland entscheidend zu schwächen.
Bei der Entwicklung der Killer-Narrative spielen die neuesten Erkenntnisse von Psychologie und Psychiatrie eine entscheidende Rolle sowie die bereits daraus abgeleiteten Tricks der Werbeindustrie. Die Manipulierbarkeit unserer Rationalität und Emotionalität, ob für den einzelnen Menschen oder vielmehr für Gruppen aller Größenordnungen, ist ausreichend erforscht und reicht bis in die Tiefen von Massenwahn und Gruppenselbstmord hinab. Dafür, dass die Grenze zu drogeninduzierten halluzinogenen Rauschzuständen durch aggressive Narrative überwunden werden kann, gibt es genügend historische Belege, von den Bußpredigten eines Savonarola im Florenz des 15. Jahrhunderts bis zu Hitlers Magie am Rednerpult und Josef Goebbels mit seiner berüchtigten Sportpalastrede. Aber darauf zu hoffen, dass mit Hilfe von Narrativen kinetische Kriege in absehbarer Zukunft vermieden werden könnten, wäre vermutlich zu optimistisch.
Singapur, 11.9.2022
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