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Titel: Gorbatschow als Kronzeuge gegen Putin?
Datum: 1. September 2022 um 13:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Länderberichte, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Tote können sich nicht wehren. Bundeskanzler Olaf Scholz versucht, den verstorbenen, ehemaligen sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow für seine Kampagne gegen Russland zu instrumentalisieren. Aus Moskau berichtet Ulrich Heyden.
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Geschichtsvergessenheit ist Trumpf in Deutschland. Kaum ist Michail Gorbatschow gestorben, versucht der deutsche Kanzler den Verstorbenen als Kronzeugen gegen Putin zu instrumentalisieren. Zwar gehörte Gorbatschow zu den Finanziers der oppositionellen Novaja Gaseta. Aber das geschah nicht aus fanatischer Liebe zum westlichen Gesellschaftsmodell, sondern war eher der Überlegung geschuldet, dass jede gesunde Gesellschaft eine Opposition braucht.
Putin gegenüber hat sich Gorbatschow immer loyal verhalten. Insbesondere die russische Außenpolitik seit dem Jahre 2000 fand die Unterstützung von Gorbatschow.
Gorbatschow kritisierte die Hegemonialpolitik der USA, bloß nahmen die deutschen Medien konsequent keine Notiz davon. Im November 2001 erklärte der ehemalige sowjetische Generalsekretär in einem Interview, welches ich mit ihm führte:
„Der Kalte Krieg wurde beendet. Es gab viel Gerede von einer Neuen Weltordnung, aber nichts davon ist umgesetzt worden. Kaum war die Sowjetunion zerbrochen, begannen geopolitische Spiele. Eine Chance verstrich.” Die Globalisierung “spiele nur auf ein Tor”, nütze nur den entwickelten Staaten. “Viele unterentwickelte Länder sprechen von einem “neuen Kolonialismus”. Die Politiker der westlichen Länder haben sich eben wie Kapitalisten verhalten. Sie sahen eine Möglichkeit, sich zu bereichern, und sagten nur “Gib her!”. Und auch wir Russen haben bekommen, was wir bekommen sollten …”
„Bevölkerung der Krim fast einmütig für die Vereinigung mit Russland“
2014, als sich die Krim mit Russland vereinigte, erklärte Gorbatschow gegenüber der „Komsomolskaja Prawda“, „ich unterstütze das, weil sich die Bevölkerung der Krim fast einmütig dafür ausgesprochen hat“. Gegenüber der BBC erklärte Gorbatschow im gleichen Jahr, bei der Auflösung der Sowjetunion hätte man „über das Schicksal der Krim sprechen müssen, wo seit Jahrhunderten Russen leben.“ In der gesamten Ukraine lebten 14 Millionen Russen. „Das muss man berücksichtigen“.
Im März 2021 erklärte der ehemalige Generalsekretär in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Ria Nowosti, die Welt befände sich heute in einer „sehr schwierigen Situation“. Gorbatschow erinnerte in dem Interview an die Gefahr eines Atomkrieges und er hob hervor, dass er 1985 gemeinsam mit US-Präsident Reagan erste Schritte zur atomaren Abrüstung eingeleitet habe.
Frau und Mutter waren Ukrainerinnen
Man kann davon ausgehen, dass der Krieg in der Ukraine Gorbatschow stark belastet hat. Zum einen, weil der ehemalige Generalsekretär wohl spürte, dass die USA in der Ukraine wieder mal versuchen, Einflusssphären zu verschieben, zum anderen, weil die Mutter von Gorbatschow und seine Frau Raissa Ukrainerinnen waren.
Deutsche Medien und Politiker zitieren Gorbatschow immer nur dann, wenn es dem Gefühl, „wir Deutschen haben alles richtig gemacht“, nützt. Alle Äußerungen von Gorbatschow, die sich nicht in diesem Sinne nutzen lassen, lässt man einfach unter den Tisch fallen. Dass man nach dem Tod von Gorbatschow nun noch einen Zahn zulegt, ist nur schwer zu ertragen.
Scholz und Gorbatschow
Am Mittwoch erklärte Kanzler Olaf Scholz, „wir wissen, dass er in einer Zeit gestorben ist, in der nicht nur die Demokratie in Russland gescheitert ist, anders kann man die gegenwärtige Lage dort nicht beschreiben, sondern auch Russland und der russische Präsident Putin neue Gräben in Europa zieht und einen furchtbaren Krieg gegen ein Nachbarland, die Ukraine, begonnen hat. Gerade deshalb denken wir an Michail Gorbatschow und wissen, welche Bedeutung er für die Entwicklung Europas und auch unseres Landes in den letzten Jahren hatte.“
An dieser Stelle muss man fragen, was hat denn der Westen getan, damit sich in Russland nach 1991 eine Demokratie etabliert? War es nicht so, dass der Westen die Demokratie in Russland verraten hat, als westliche Politiker und große Medien im Oktober 1993 nichts dagegen einzuwenden hatten, als der Nachfolger von Gorbatschow, der russische Präsident Boris Jelzin, mit Panzern auf das gewählte russische Parlament schießen ließ und den russischen Vizepräsidenten Aleksandr Ruzkoi sowie Parlamentssprecher Ruslan Chasbulatow als „Aufständische“ verhaften ließ?
Machtzentralisierung begann schon unter Boris Jelzin
Und warum hatte in Berlin und Washington niemand etwas dagegen einzuwenden, dass Boris Jelzin im Dezember 1993 eine neue russische Verfassung verabschieden ließ, die den Umbau Russlands zu einer Präsidialdemokratie vorsah, in welcher das Parlament kaum Rechte hatte, während die Präsidialadministration zum alles steuernden Machtzentrum wurde? Die Machtkonzentration in einem Zentrum begann nicht mit dem Machtantritt von Wladimir Putin im Jahre 2000, sondern bereits 1993.
Und ist es nicht unglaubwürdig, wenn der Westen Boris Jelzin als Demokraten huldigt, obwohl Jelzin im Dezember 1994 zur Niederschlagung der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung russische Truppen in Tschetschenien einmarschieren ließ, anstatt zunächst alles dafür zu tun, um mit den Tschetschenen eine friedliche Regelung über einen Verbleib im russischen Staatsverband zu finden?
Wiedervereinigung ohne Gegenleistung
Gorbatschow wird in Deutschland verehrt, weil er die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte. Die Russen, mit denen ich spreche, verstehen das. Sie kränkt aber, dass von deutschen Politikern zwei zentrale Fragen ausgeblendet werden. Immer wieder höre ich:
„1) Warum haben wir 1994 ohne jegliche Gegenleistung in Form von Sicherheitsgarantien die sowjetischen Truppen aus Ostdeutschland abgezogen?“
„2) Tragen Gorbatschow und Jelzin nicht beide Schuld dafür, dass durch die Perestroika und die nachfolgende Schocktherapie unter Ministerpräsident Jegor Gajdar Millionen Menschen nicht nur in Russland, sondern in allen ehemaligen Sowjetrepubliken in Armut gestürzt wurden?“
Ich habe seit 1992 ganz Russland bereist, vom Kaukasus bis nach Salechard im Norden, von Kaliningrad bis zur Insel Sachalin im russischen Fernen Osten. Von allen Russen, mit denen ich über Gorbatschow sprach, konnten ihm nur gefühlte fünf Prozent etwas Positives abgewinnen. Und von diesen fünf Prozent waren auch noch viele aus Moskau und St. Petersburg.
Dass die Russen in ihrer Mehrheit kein Interesse an einer Demokratie westlichen Zuschnitts haben, liegt daran, dass die vom Westen unterstützten russischen Regierungen in den 1990er Jahren eine Politik auf dem Rücken des Volkes machten. Wichtiger als eine minimale Absicherung für die Rentner, der Schutz von Kindern und alleinerziehenden Frauen vor Armut waren für die russischen Politiker die Interessen der „neuen Russen“, den Gewinnlern der Übergangszeit, die sich oft auf illegalem Wege das Staatseigentum aneigneten.
Trostpflaster von westlichen Stiftungen
Um die Folgen des brutalen Übergangs in die Marktwirtschaft abzufedern, haben westliche Stiftungen einige nützliche Sozial-Projekte in Russland finanziert. Doch das war nicht mehr als ein Trostpflaster für eine insgesamt verheerende Entwicklung, in welcher der Staat seine ureigenste Aufgabe – die Schwachen zu schützen – aufgab. Aus einem Staat, der während der 73 Jahre seines Bestehens das Lebensniveau der Arbeitenden massiv angehoben hat, wurde ein Staat, der amerikanischen Ökonomen nacheiferte, die schon in Lateinamerika asoziale Schocktherapien durchgezogen hatten.
Ich stimme mit den Russen überein, die sagen, ein politischer und wirtschaftlicher Wandel in Russland war in den 1980er Jahren überfällig. Aber ich stimme nicht mit denen überein, die sagen, Gorbatschow sei unverschuldet gescheitert. Noch sind die Akten nicht zugänglich, die darüber Auskunft geben, über welche Entwicklungsmodelle in den 1980er Jahren in der sowjetischen Führung debattiert wurde.
Russland bzw. die Sowjetunion, die international wegen ihres hohen Bildungsstandes, ihrer guten Gesundheitsversorgung und wissenschaftlichen Leistungen geachtet wurden, fielen Ende er 1980er Jahre auf das Niveau einer Bananenrepublik zurück. Im Westen bettelte die Sowjetunion um Kredite.
Die Bevölkerung war nur noch formal an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt. Eigene gesellschaftliche Aktivitäten waren nur erwünscht, solange sie von der Partei initiiert wurden. Die Kommunistische Partei verlor an Glaubwürdigkeit und Unterstützung.
Gruppeninteressen gewannen die Oberhand
Treibende soziale Kraft der Perestroika waren gut ausgebildete Russen, junge Komsomol-Sekretäre, Republiks-Fürsten und Fabrikdirektoren, die eher das wirtschaftliche Fortkommen der eigenen sozialen Schicht im Blick hatten als die Weiterentwicklung der gesamten Gesellschaft.
Gorbatschow war gut ausgebildet. Er und seine Berater müssen gewusst – zumindest geahnt – haben, welche Prozesse sie mit der Perestroika anstoßen. Warum sind sie dieses Risiko eingegangen? Vermutlich war es einfach Naivität.
Titelbild: mark reinstein / Shutterstock
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