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Titel: Faust lebt! Von Generalleutnant Asad Durrani – Pakistan.
Datum: 13. Juli 2022 um 10:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Der Autor des folgenden Textes, Generalleutnant Asad Durrani[*] war Chef des Geheimdienstes Pakistans, ISI, und Botschafter unter anderem in Deutschland. Er absolvierte die Führungsakademie der Bundeswehr. Original in Englisch hier. Übersetzt von Susanne Hofmann. Seine Sicht ist eine eigene, jedenfalls ein bisschen anders als die von entspannungs- und friedenspolitisch engagierten Menschen. Aber es muss kein Gegensatz sein. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Faust lebt!
Irgendwann im Jahr 2014 wurde ich zu einer Diskussion über eine Krise in der Ukraine eingeladen. Ich nahm die Einladung vor allem aus Neugier an: Man stelle sich das mal vor – eine Debatte über ein Land, von dem kaum jemand hier bisher je gehört hatte – außer vage im Zusammenhang mit einem Panzergeschäft!
Um ehrlich zu sein, hatte ich aber auch ein Eigeninteresse. Stratfor, eine US-amerikanische Denkfabrik, beschrieb die Ukraine jüngst als Russlands „Strategische Tiefe“ (damit ist eine Art Sicherheitsabstand gemeint, auf den Russland nicht verzichten kann, ohne einen strategischen Nachteil zu riskieren; Anm. d. Ü.) Über solch abstrakte Probleme zu sinnieren, war meine Lieblingsbeschäftigung. Strategische Tiefe ist ein stimmiges Konzept; alle Staaten streben danach, ihren strategischen Handlungsspielraum zu vergrößern.
Die beste Illustration dessen, wie ein Land natürliche Beschränkungen kompensiert, ist Israel. Ein Land, das in der Region nicht wohl gelitten ist, verankert seine Strategische Tiefe fest in den USA, wohin es außerdem viele seiner Vermögenswerte wie seine Technologie und Humanressourcen ausgelagert hat.
Bündnisse zu schmieden, ist eine weitere Option. Da Pakistan sich als nützlicher Nachbar für Afghanistan erweist – indem es dem Binnenstaat ein Fenster zur Außenwelt bietet, viele seiner lebenswichtigen Bedürfnisse stillt und schon immer Afghanen auf der Suche nach einem Zufluchtsort aufnimmt – hat sich Kabul revanchiert, indem es als Puffer gegen Bedrohungen aus dem Norden diente und Pakistan Flankenschutz in seinen Kriegen mit Indien gewährte.
Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie Staaten gegenseitig ihre Sicherheitsinteressen stärken. Als ich meinen Kommentar zur Krise vor acht Jahren abgab, hatte ich wenig Ahnung davon, was die Ukraine für die russischen Interessen bedeutete – außer dass es darum ging, sich die NATO vom Leib zu halten.
In der Folge der Invasion Moskaus zu Beginn dieses Jahres wurde das Ganze so verworren, dass ich das Gespräch mit vielen alten Freunden suchte, um diesen Schritt zumindest ansatzweise zu verstehen. Es folgen hier einige Erkenntnisse, die ich gesammelt habe.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war ihr Nachfolgestaat Russland tatsächlich eingekesselt worden. Russland hatte zum Beispiel keinen eisfreien Zugang mehr zur Ostsee; es hatte seine Verbindung zur Krim verloren, die der Ukraine geschenkt worden war, wo es einen wichtigen Marinestützpunkt hatte.
Die NATO rückte weiter gen Osten vor und verletzte damit den Geist der Waffenruhe am Ende des Kalten Krieges; das Minsker Abkommen, das die frühere Krise lindern sollte, wurde von Kiew aufgekündigt; und die einzige Supermacht verschloss sich dem Rat seiner Ikone Kissinger, das problematische Land zu einer Brücke zwischen Ost und West zu machen.
Als wäre all das nicht schlimm genug, töteten die neonazistischen Milizen unter der Kiewer Schirmherrschaft in alarmierender Geschwindigkeit ethnische Russen. Kein Wunder, dass Professor Mearsheimer – kein Unbekannter in der amerikanischen strategischen Gemeinschaft – dem Westen vorwarf, die russische Invasion provoziert zu haben.
Werfen wir einen Blick auf die Kosten, Risiken und Gewinne: Die von Washington verhängten Sanktionen infolge des Einmarsches betreffen hauptsächlich Europa, insbesondere Deutschland, und erst in zweiter Linie Russland. Die USA profitieren – jedenfalls vorerst – weil die Europäer bald das teurere amerikanische Fracking-Gas kaufen werden.
Es überrascht nicht, dass Kiews Bemühungen um eine Verhandlungslösung mit Moskau wiederholt vom Big Boss zunichtegemacht wurden – man erinnere sich daran, wie die USA vor zehn Jahren Gespräche mit unseren eigenen Landsleuten sabotiert haben! All das oben Genannte ergibt Sinn, wenn man auf die 1990er Jahre zurückblickt, als die USA damit begannen, Schlüsselpersonal in der ukrainischen Hierarchie heranzuzüchten und in den vergangenen zwei Jahrzehnten fünf Milliarden US-Dollar dort zu investieren, wie eine der damals (2014; Anm. d. Ü.) in der Region maßgeblichen Personen, Victoria Nuland, angab.
Wenn das vorangegangene Narrativ den Eindruck erweckt, dass amerikanische und europäische Interessen nicht deckungsgleich sind, dann trifft das nicht nur zu, sondern ist ziemlich offensichtlich. Europa hatte aufgrund der Größe seiner Bevölkerung und Wirtschaft das Potential einer mit den USA rivalisierenden Macht. Europas Chancen, zu einer solchen zu werden, wuchsen, seit es enger zusammenrückte und eine gemeinsame Währung schuf.
Die Aussichten, dass der Euro den Dollar ersetzen oder mit ihm konkurrieren könnte, ließen bereits Alarmglocken läuten, aber da viele Stimmen – obwohl schnell zum Verstummen gebracht – diese Präferenz deutlich zum Ausdruck brachten, erforderte das ernste Maßnahmen. Europas Leidenschaft für die Ostpolitik (für die der verstorbene deutsche Bundeskanzler Willy Brandt Pate stand) gab in Washington immer Anlass zur Sorge.
Nun, da sowohl Brüssel als auch Moskau mit Peking auf Tuchfühlung gingen, das die USA eindeutig als möglichen Feind ausgemacht hatten, war es an der Zeit, den Alten Kontinent in seine Schranken zu weisen. Das sahen die Europäer natürlich kommen. Einige wie Schröder und Chirac, die früheren deutschen und französischen Staatschefs, versuchten, die unipolare Weltordnung infrage zu stellen, als sie 2003 ihre Mitwirkung an der zweiten Zerstörung des Irak verweigerten.
Doch sie verloren ihre Wirkung, weil Europa inzwischen selbst gespalten wurde – da die Neuen Europäer, die unter der Sowjetherrschaft gelitten hatten, mittels Farb- und Blumen-Revolutionen zur Pax Americana übergingen. Ein deutscher Politiker der alten Schule, Egon Bahr, der das reife Alter von 93 Jahren erreichte und deshalb niemanden schonte, nannte einst alle deutschen Kanzler amerikanische Agenten.
Die Unterwürfigkeit der jetzigen Generation europäischer Staats- und Regierungschefs ist viel größer als ihr strategisches Verständnis. Es gibt eine ganze Reihe von Köpfen, die den Kontinent, der einst die Welt kolonialisierte, heute als eine amerikanische Dependance bezeichnen – und die EU als die fünfte Kolonne der NATO. Gegenwärtig ist ihre bevorzugte Beschreibung der Region, die einst Staatsmänner wie Bismarck und Napoleon hervorgebracht hat, die eines Brückenkopfs für die neue US-geführte eurasische Sicherheitsarchitektur.
Geht man nach ihnen, führen die USA jetzt einen Zermürbungskrieg gegen Russland bis zum letzten Ukrainer. Unabhängig davon, wie der ausgeht, wird die EU dann damit beauftragt werden, das kriegsgebeutelte Land wiederaufzubauen. Der Westen definiert die russische Invasion in die Ukraine offiziell als Angriffskrieg. Einige unabhängige Analysten würden ihn dagegen als Moskaus verzweifelten Versuch erklären, sich der immer engeren Umklammerung zu entwinden.
Dass Sie mich nicht missverstehen; ich kritisiere die USA nicht dafür, wie sie sich in diesem Kampf der Titanen positionieren. In einem Geniestreich haben sie die Pläne ihrer potentiellen Rivalen um den Spitzenplatz – Europa, Russland und China – um Jahrzehnte zurückgeworfen. Der chinesische Vorstoß in eine entscheidende Region mittels seines ehrgeizigen Projekts der Neuen Seidenstraße wurde aufgehalten, und der Euro befindet sich, so ein Ökonom, in der Todeszone.
Die NATO-Osterweiterung war wahrscheinlich ein Ablenkungsmanöver – passenderweise beschönigt als Ausübung des souveränen Rechts einiger früherer Ostblock-Mitglieder, sich einem freundlicheren Bündnis anzuschließen. Eine Errungenschaft der Amerikaner ist, dass nicht nur die Regierungen ihrer postmodernen Kolonien, sondern auch ihre Medien mit der Stimme ihres Herrn sprechen. Das Verdienst, den Mythos unabhängiger Medien zu entzaubern, gebührt Wladimir Putin.
Die USA konnten es sich erlauben, in Afghanistan zu verlieren, aber hier geht es um Armageddon. Die gute Nachricht ist, dass die Europäer, sollten sie diese Apokalypse überleben, endlich herausfinden würden, dass nicht nur die Flüchtlinge den Weg zurückverfolgen, den die Kolonisten genommen haben, um die Länder der Dritten Welt dem Erdboden gleichzumachen – sondern auch Feuer und Schwefel.
Und schließlich eine Botschaft an das Land, das die Warnung eines seiner größten Philosophen in den Wind geschlagen hat. Goethe hatte das Schicksal von Faust vorausgesagt, der Mephistos Hilfe für weltliche Freuden suchte, dafür aber seine Seele verkaufen musste. Auch in Pakistan haben wir bisweilen solche Geschäfte gemacht, waren aber nur erfolgreich, wenn wir unsere eigenen Entscheidungen unter großen Risiken und Kosten getroffen haben.
Unsere nuklearen Bestrebungen nicht aufzugeben und für unsere Strategische Tiefe in Afghanistan zu kämpfen, sind nur zwei Beispiele dafür. In den 1960er und 1980er Jahren haben wir es abgelehnt, uns unser Verhältnis zu China und dem Iran von den USA diktieren zu lassen – das ist uns gut bekommen. Jeder in Islamabad, der vielleicht mit dem Gedanken spielt, dass uns nur ein faustischer Deal aus unseren gegenwärtigen Schwierigkeiten retten kann, würde nicht einmal so lange überleben, um seine Entscheidung bereuen zu können. Man denke an Europa.
Titelbild: Wead / Shutterstock
[«*] Generalleutnant Asad Durrani. Botschafter a.D., Absolvent der Führungsakademie der Bundeswehr und ehemaliger Chef des ISI, Pakistan.
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