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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Anmerkungen zu Angela Merkel bei Sabine Christiansen, und zu Miegels Auftritten
Datum: 22. August 2005 um 17:04 Uhr
Rubrik: „Lohnnebenkosten“, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft, Medien und Medienanalyse
Verantwortlich: Albrecht Müller
Gestern Abend war Merkel bei Christiansen. Vermutlich hat sie Punkte gemacht. Sie hat die – vermutlich von ihren Beratern empfohlenen – Regeln beachtet und die gelernten Stichworte eingesetzt: Wahrheit, Ehrlichkeit, nicht versprechen, was man nicht halten kann, Geschichten über die Begegnungen mit dem Volk erzählen und so weiter. Aber ihre inhaltlichen Einlassungen signalisieren erschreckend die Bereitschaft, den Menschen gezielt die Unwahrheit zu sagen oder sie ideologisch in die Irre zu führen. Beispiel: Lohnzusatzkosten
Angela Merkel behauptet, täglich würden wir 1000 Arbeitsplätze verlieren, weil die Lohnzusatzkosten zu hoch seien. Das ist einfach so dahingesagt und durch nichts belegt. Dass wir Arbeitsplätze verlieren, weil die Lohnzusatzkosten oder Lohnnebenkosten zu hoch seien, und das wir neue schaffen könnten, wenn wir diese Kosten senken oder über Steuern bezahlen, das ist eine gängige Parole, die von Politikern aller etablierten Parteien verbreitet wird – von Merkel wie von Schröder, von Göring-Eckardt, von Clement, Fischer, Westerwelle und so weiter. Irgendwann wurde diese Behauptung diesen Nichtökonomen von ideologisch verbohrten angebotsorientierten Ökonomen eingeredet. Tatsächlich hängt der Abbau oder Aufbau von Arbeitsplätzen von einer ganzen Fülle von Rahmenbedingungen ab, vor allem aber von der vorhandenen und der künftig erwarteten Auftragslage. Die Fixierung auf die Lohnnebenkosten hat vor allemdamit zu tun, dass man auf diese Weise zugleich Propaganda gegen die sozialen Sicherungssysteme machen kann. Wenn die Lohnnebenkosten zu hoch sind, dann müssen die Beiträge runter, dann wird die Rente kleiner und und dann werden die Menschen in die private Vorsorge gedrängt. Ziel ist der Abbau des Sozialstaats und der staatlichen Aufgaben insgesamt zugunsten nicht solidarisch finanzierter staatlichen Leistungen, d.h. „eigenverantwortliche“ private Finanzierung von der Gesundheits- über die Altersvorsorge bis zur Schule oder zur Hochschule.
Da passte es ganz gut, dass in der Runde bei Sabine Christiansen auch Meinhard Miegel saß – als Experte. Tatsächlich ist er Lobbyist für die Privatvorsorge und Propagandist gegen die gesetzliche Rente. Er wird in den letzten Tagen wieder verstärkt als Lobbyist eingesetzt: Er war am vergangenen Samstag mit einem Beitrag in der Frankfurter Rundschau, gestern bei Sabine Christiansen und heute im Tagesspiegel. Die wiederkehrenden Botschaften dieses Lobbyisten: „Die Kaufkraft der Renten wird sinken,“ die gesetzliche Rente ist unsicher, die Gesellschaft ist krank, wir werden immer älter, die Bevölkerung ist noch nicht bereit für die notwendigen und unvermeidlichen schmerzhaften Eingriffe, und so weiter. Interessant, dass Miegel dann gar nicht mehr sagt, was er will. Ihm und seinen Auftraggebern reicht es, wenn hängen bleibt, dass die solidarischen Sicherungssysteme und die Sozialstaatlichkeit keine Zukunft haben. Den Rest erledigen die privaten Versicherungen mit ihren millionenteuren Anzeigenkampagnen.
Quelle 1: DER TAGESSPIEGEL
Quelle 2: FR
Dass Miegel vor allem Lobbyist der Finanzindustrie, also der Banken und Versicherungen ist, wurde in keinem der drei Medien ausdrücklich vermerkt. Er wird als Experte und Sozialwissenschaftler vorgestellt. Dass sein Bonner Institut, das IWG, dem Deutschen Institut für Altersvorsorge (DIA) und damit der Deutschen Bank, eng verbunden ist, und er seit Jahren die Lobbyarbeit für die Privatvorsorge betreibt, erfährt man nicht.
Angela Merkel hat ihre neue Personalerwerbung Paul Kirchhof als großen Visionär bezeichnet. Zu Kirchhof folgt ein gesonderter Beitrag. Hier nur der Hinweis, dass auch im Zusammenhang mit einem der Hauptanliegen von Kirchhof mit weit übertreibenden Zahlen operiert wird: Es war in der Sendung die Rede davon, es gebe in Deutschland 240 Milliarden Subventionen. Als ich für mein Buch „Die Reformlüge“ recherchierte, ermittelte ich für 2002 Subventionen im echten Sinn des Wortes von etwa 58 Milliarden €. In den 240 Milliarden sind sinnvolle Hilfen des Staates enthalten, zum Beispiel um bei der Entwicklung eines komplizierten Produktes einer neuen Technik zum Durchbruch zu verhelfen; es sind Subventionen wie Agrarsubventionen enthalten, die auch mich in dieser Höhe ärgern, zu denen wir uns innerhalb der EU vertraglich verpflichtet haben; es sind Steuervergünstigungen enthalten, über die auch ein so genannter Visionär mit sich diskutieren lassen müsste. Nehmen wir das Beispiel der Pendlerpauschale. Wollen wir den ostdeutschen Pendlern, die heute gar keine andere Wahl haben, als sich im Westen einen Arbeitsplatz zu suchen, auch noch diesen kleinen Steuervorteil nehmen?
Weil ich in den NachDenkSeiten nicht immer alles wiederholen kann, erlaube ich mir auf einschlägige Kapitel im Buch “Die Reformlüge“ aufmerksam zu machen, das gerade als Taschentuch erschienen ist. Dort gibt es ein Kapitel zu den Lohnnebenkosten (Seite 241ff) und zu den Subventionen (Seite 354ff) und zu vielen anderen einschlägigen und immer wiederholten Denkfehlern, Mythen und Legenden.
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