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Titel: Neue Debatte zur Sterbehilfe

Datum: 19. Mai 2022 um 11:44 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bundestag, Innen- und Gesellschaftspolitik, Wertedebatte
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Ein Verbot von „geschäftsmäßiger“ (also unabhängig von einer Gewinnerzielungsabsicht auf Wiederholung angelegter) Sterbehilfe von 2015 war mit einem wichtigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 gekippt worden. An diesem Mittwoch hat das Parlament über mögliche neue Regelungen für die Sterbehilfe beraten. Diese Debatte sollte genau beobachtet werden, damit neue Gesetze nicht hinter das Urteil des Verfassungsgerichts zurückfallen. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Klarheit des Urteils des Bundesverfassungsgerichts von 2020 zur Sterbehilfe hatten die NachDenkSeiten damals als bemerkenswert eingeordnet: Denn das Urteil gilt ausdrücklich für alle Menschen – und nicht nur für unheilbar Kranke. Das Urteil im Wortlaut findet sich unter diesem Link. Warum alle Menschen (auch ohne tödliche Krankheit) ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, auf einen Tod ohne lange Phasen der Schmerzen und auf ein Lebensende ohne Apparate-Medizin haben (wenn sie das für sich wünschen), das haben die NachDenkSeiten etwa in diesem Artikel beschrieben. Wie sich Teile der Politik über dieses Recht hinwegsetzen, wurde etwa in diesem Artikel thematisiert. Nun hat sich aktuell der Bundestag wieder mit dem Thema Sterbehilfe befasst.

“Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen“

Grundlage dieser aktuellen Debatte sollte meiner Meinung nach das Urteil von 2020 bleiben, in dem es heißt:

„Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfasst als Ausdruck persönlicher Autonomie ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“

Versuchen von Politik und anderer gesellschaftlicher Akteure, selbstdefinierte Vorbedingungen für eine „Erlaubnis“ der Nutzung der Sterbehilfe zu installieren, erteilte das Gericht eine eindeutige Absage:

„Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Es besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist.“

„Schranken“ für das Grundrecht?

Diese Aussage ist – wie gesagt – klar. Aufhorchen lassen sollten darum aktuelle Kommentare wie der in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“: Hier wird zwar einerseits die Eindeutigkeit des Richterspruchs festgestellt, aber andererseits dann doch gefordert, beim Grundrecht „Schranken einzuziehen“ – solche Schranken wären meiner Meinung nach nur gerechtfertigt, um potenziellen Missbrauch zu verhindern:

„Den Rahmen für die jetzigen Debatten bildet das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und damit letztlich das Grundgesetz. Klar ist demnach: Jeder Mensch hat ein Recht darauf, selbstbestimmt zu sterben. Die weiter gehende Frage ist nun, wie dieses Recht gestaltet werden soll. Sicher – man könnte das Urteil einfach so stehen lassen. (…) Sinnvoller, als das Urteil für sich sprechen zu lassen, ist es aber, in diesem sensiblen Bereich Schranken einzuziehen, so wie es mehrere Abgeordnetengruppen mit ihren Gesetzentwürfen planen.“

“Wir könnten die Situation jetzt einfach so lassen”, betonte diese Woche auch die Grünenpolitikerin Renate Künast. Der alte Paragraf 217 sei nichtig. Sterbehilfe werde wieder angeboten. Sie wolle es aber nicht so lassen. Sie wolle jetzt schon wissen, was da für Mittel verschrieben würden und an wen, so Künast laut Medienberichten.

Die „FAZ“ zweifelt an, dass das Verfassungsgericht Klarheit geschaffen habe – es „fehle“ seit dem Urteil „an einer Regelung“: „Ein Teil der Abgeordneten sieht diesen Zustand mit Sorge, weil es an einem Schutzkonzept fehlt und Sterbehilfevereine freie Hand haben. Andere wiederum drängen auf eine Änderung, weil sie die gegenwärtigen Möglichkeiten, selbstbestimmt aus dem Leben zu scheiden, als nicht ausreichend ansehen.“

„Wer genug Geld hat, kann die Dienstleistung auch im Ausland in Anspruch nehmen“

Den Aspekt der sozialen Gerechtigkeit und eine Parallele zur Debatte um Schwangerschaftsabbrüche thematisiert die „Taz“:

„Dass etwas verboten ist, bedeutet nicht, dass es nicht trotzdem passiert. Oft ist es aber gefährlicher und möglicherweise auch schmerzvoller. Betroffene und Helfende müssen Risiken eingehen und eventuell strafrechtliche Verfolgung in Kauf nehmen. Wer genug Geld hat, kann die Dienstleistung auch im Ausland in Anspruch nehmen. In dieser Hinsicht ähnelt die Debatte über die Beihilfe zum Suizid der Debatte über den Schwangerschaftsabbruch.“

Auch wenn man die Sterbehilfe prinzipiell verteidigt, sollte stets betont werden: Die Gefahr, dass Menschen von Angehörigen oder einer gesellschaftlichen Stimmung gegen ihren Willen zum Suizid getrieben werden könnten, ist real. Diese Gefahr muss so gering wie möglich gehalten werden.

Die Initiativen im Bundestag

Aus dem Parlament wurden zur „Neuregelung“ der Sterbehilfe laut einem von Medien zitierten Bericht von DPA bisher drei Initiativen vorgestellt: Nach dem Entwurf einer Abgeordnetengruppe um Lars Castellucci (SPD) und Benjamin Strasser (FDP) solle die „geschäftsmäßige Förderung“ der Selbsttötung (gemeint ist damit wohl die „wiederholt stattfindende“) laut Medien grundsätzlich unter Strafe gestellt werden – aber mit einer Ausnahme für Volljährige: Um die freie Entscheidung ohne inneren und äußeren Druck festzustellen, sollen in der Regel zwei Untersuchungen durch einen Facharzt oder eine Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie im Abstand von drei Monaten und eine umfassende ergebnisoffene Beratung vorgegeben werden.

Eine Gruppe um Katrin Helling-Plahr (FDP), Petra Sitte (LINKE) und Helge Lindh (SPD) schlage eine Neuregelung außerhalb des Strafrechts vor, so Medien. Sie solle „das Recht auf einen selbstbestimmten Tod legislativ absichern und klarstellen, dass die Hilfe zur Selbsttötung straffrei möglich ist“, wie es im Entwurf heiße. Vorgesehen sei ein breites Beratungsangebot. Ärzte sollten Arzneimittel zum Zweck der Selbsttötung dann verschreiben dürfen, wenn sie „von der Dauerhaftigkeit und inneren Festigkeit des Sterbewunsches“ ausgehen.

Die Grünen-Abgeordneten Renate Künast und Katja Keul haben Eckpunkte für ein „Gesetz zum Schutz des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben“ vorgestellt. Es gehe darum, Betroffenen mit klaren Kriterien einen Zugang zu bestimmten Betäubungsmitteln zu schaffen, so die Vorlage. Unterschieden werden solle im Verfahren zwischen Menschen, die an schweren Erkrankungen leiden, und Suizidwünschen aus anderen Gründen. Vor der Abgabe tödlicher Mittel sei eine verpflichtende Beratung angemessen und verhältnismäßig, um die Selbstbestimmtheit und Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches abzusichern.

Unangemessene Einschränkungen abwehren

Die Orientierungsdebatte im Bundestag am Mittwoch diente zur Meinungsbildung für die Abgeordneten. So wurden laut „Tagesschau“ noch keine konkreten Gesetzesentwürfe besprochen. Aus den verantwortlichen fraktionsübergreifenden Gruppen hört man aber den Wunsch, rund um die Sommerpause des Bundestages ein Gesetz auf den Weg zu bringen. Die Abgeordneten hoffen dann auf eine Neuregelung der Sterbehilfe bis zum Ende des Jahres.

Wie gesagt, die Debatte sollte aufmerksam verfolgt werden: Unangemessene Einschränkungen des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben, die über die wichtige Verhütung des Missbrauchs der Sterbehilfe hinausgehen, sollten meiner Meinung nach abgewehrt werden.

Titelbild: Motortion Films / shutterstock.com


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