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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Demokratie von OBEN oder wie die Folgen der Politik den Bürger zum Aufbegehren brachte.
Datum: 12. Februar 2011 um 10:03 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Erosion der Demokratie, Lobbyismus und politische Korruption, Veröffentlichungen der Herausgeber
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Vortrag von Wolfgang Lieb auf dem 1. Kölner Blogger-Kongress, am 12. Februar 2011 im Kölner Kunsthaus Rhenania.
Demokratie von OBEN oder wie die Folgen der Politik den Bürger zum Aufbegehren brachte
Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch hat den Begriff „Postdemokratie“ geprägt. Er beschreibt damit zwar die formale Fortexistenz demokratischer Institutionen, hinter deren Fassade aber eine weitreichende Selbstaufgabe der Politik stattgefunden hat.
In einer Gesellschaft gibt es aber kein Vakuum der Macht. In dem Maße, in dem die Politik ihre Macht selbst abgegeben hat, hat es eine Verlagerung der Macht- und Entscheidungszentren auf die ökonomischen und publizistischen Eliten gegeben. Mächtige Oligopole haben sich mit ihrer einzelbetrieblichen Unternehmenslogik gegen gesamtwirtschaftliches Denken oder – allgemeiner ausgedrückt – gegen das Wohl und die Interessen der Allgemeinheit durchgesetzt.
Die Eindimensionalität der ökonomischen Denkwelt der sprichwörtlichen „schwäbischen Hausfrau“, wie sie sich etwa beim sog. „Sparpaket“ oder bei der „Schuldenbremse“ durchgesetzt hat, ist zum herrschenden „Weltbild“ der Eliten geworden. Die kleine Minderheit „der da Oben“ hat es mit Hilfe der allein herrschenden Lehre der Ökonomen, mit Unterstützung unkritischer Medien und mit politischer Korruption geschafft, das neoliberale Leitbild zur Staatsräson zu machen und eine „Verbetriebswirtschaftlichung des Gemeinwesens“ (Heribert Prantl) durchgesetzt.
Die Klientelpolitik der derzeitigen Bundesregierung zugunsten der Banken, der Versicherungswirtschaft, der Energiekonzerne, der Pharmaindustrie oder der exportorientierten multinationalen Konzerne ist nur ein Abbild dieser neuen Staaträson.
Ich möchte im Folgenden ein paar Einblicke geben, wie diese „Demokratie von OBEN“ funktioniert.
Es sind beispielhafte Einblicke und kein Gesamtbild, aber diese Einblicke ließen sich mit vielen weiteren, die Sie aus Ihrem eigenen Erfahrungshintergrund kennen, leicht zu einem Gesamtbild ergänzen.
Die Banken- oder Finanzkrise
Ich beginne mit der Banken- oder Finanzkrise, weil sich dabei die Krise des Systems am umfassendsten darstellen lässt:
Durch die Finanzkrise sind weit größere und schwerer zu behebende Schäden verursacht worden als durch alle anderen „Kapitalverbrechen“ zusammen. Im Vergleich zu den weltweiten verheerenden Auswirkungen der Bankenkrise erscheinen die schon schlimmen Schäden, die durch organisierte Kriminalität oder die Mafia verursacht werden, nur noch wie Mundraub. Die Banker haben mehr Menschen auf dem Gewissen als mancher afrikanische Warlord, sagt der UN-Berater Jean Ziegler. Es sind nicht nur Vermögensschäden in unvorstellbarer Billionenhöhe entstanden, die Existenz von Millionen von Menschen wurde bedroht, ihre Arbeitsplätze und ihre soziale Sicherheit aufs Spiel gesetzt, Familien zerstört und die körperliche und seelische Gesundheit zahlloser Kinder und Erwachsener verletzt.
Noch ist nicht abzusehen wie hoch – über die schon geleisteten Milliardenzuschüsse und unfassbar hohen Kreditgarantien für die Rettung der Banken hinaus – die öffentlichen Haushalte in den nächsten Jahren belastet werden. Doch schon jetzt ist ziemlich klar, dass die Schuldenlast von denjenigen abgetragen werden muss, die mit der Finanzwirtschaft allenfalls dadurch in Berührung kamen, dass sie einen Kredit aufnehmen mussten. Noch viele Generationen werden nicht nur die Zinslasten zu tragen haben.
Kaum einer der Verursacher und nur ganz Wenige der Verantwortlichen sind bisher zur Rechenschaft gezogen worden. Im Gegenteil, die Banken, die längst pleite wären, wurden mit Steuermitteln in bisher unvorstellbarer Milliardenhöhe gerettet. Und die Banker sind noch immer auf ihren Posten, ja, mehr noch, sie machen weiter, als wäre nichts gewesen, und wenn es ganz schlimm kommt, werden sie mit Millionenabfindungen entsorgt.
Das Tarnwort, hinter dem sich all dieses geradezu kriminelle Verhalten verbergen kann, lautet „systemrelevant“.
Ja, die Rettung der Banken ist relevant für die Rettung des ganzen für die Krise verantwortlichen Systems. Hinter dem Tarnwort „systemrelevant“ wird das systemische Versagen nicht nur des Finanzkapitals, sondern auch von Politik, Medien, Wissenschaft und der Justiz vertuscht.
Mit der Behauptung, alle Banken seien systemrelevant, haben die verbündeten Paten aus Bankenwelt und Politik auch die wenigen potentiellen Kritiker in den Medien und der sich gebildet wähnenden Öffentlichkeit stillgestellt und sie haben damit zugleich den Weg geebnet für eine unglaubliche und politisch korrupte Verschleierung der Rettungsaktionen.
I. Das „Kapital“-Verbrechen der Banken
Die Banker haben im landläufigen Sinne belogen und betrogen und sie haben es geschafft ihre Gewinne zu privatisieren und ihre Verluste zu sozialisieren.
Viele Finanzberater wussten oder ahnten von den Risiken der Zertifikate, die sie als Vertrauenspersonen für ihre Kunden aber dennoch anboten, denn sie lebten von den Verkaufsprovisionen, die umso höher waren, je höher das Risiko war, das sie den Anlegern unterjubeln konnten. Sie nutzten ihre Autorität als Fachleute und spiegelten falsche Sicherheit vor oder verschwiegen Risiken und ließen ihre Kunden im falschen Glauben an die Werbeversprechen und verschafften sich und anderen Vorteile. Das erfüllt den Tatbestand des Betrugs. Von jedem Handwerker oder jedem Kfz-Händler werden mehr Sorgfaltspflichten abverlangt und sie unterliegen einer strengeren Haftung.
Wir wissen inzwischen, dass viele Berater von „Finanzoptimierern“ wie etwa Maschmeyers AWD geradezu als „Drückerkolonnen“ eingesetzt wurden und oft gar nicht anders konnten, um ihr Einkommen zu sichern.
Die Banken haben nicht mehr durchschaubare, giftige Kreditderivate zusammen gepackt und als rentierliche, hochinnovative Finanzprodukte weiterverkauft. Und wieder andere haben diese gebündelten faulen Forderungen, von denen sie eigentlich wissen mussten, dass sie ihren Preis nicht wert waren, weiterverkauft. In der Umgangssprache nennt man das Hehlerei.
Dass die Banker genau wussten, was sie taten, zeigte sich spätestens als die von ihnen ausgebrachten Kettenbriefe aufgeflogen sind. Plötzlich haben sie sich selbst nicht mehr über den Weg getraut und haben sich nicht einmal mehr untereinander Geld geliehen. Der sog. Interbankenverkehr brach zusammen.
Nach Betrug und Hehlerei folgte die Erpressung.
Wie etwa im Protokoll [PDF – 2 MB] der zum Drama hochgespielten Nachtsitzung zur Rettung der Hypo Real Estate vom 28. September 2008 nachzulesen, drohte der Deutsche Bank-Chef Ackermann mit dem „Tod des deutschen Bankensystems“ als er und die versammelten Top-Banker von der Kanzlerin und dem Finanzminister die erste Rate von 8,5 Milliarden Staatsgelder abpresste. Dass dies nur die erste Abschlagszahlung des Fiskus auf die inzwischen auf 142 Milliarden angewachsene Summe allein für die HRE war, für die die Steuerzahler gerade stehen müssen, das wussten oder ahnten die versammelten Banker mit ziemlicher Sicherheit schon an diesem Abend.
Sich durch Androhung eines empfindlichen Übels zu Lasten eines anderen zu bereichern, das erfüllt den Tatbestand der Erpressung.
Den weiteren Verlauf kennen wir alle: Im Hau-Ruck-Verfahren unter maßgeblicher Anleitung der Banker wurde ein sog. Bankenrettungsschirm aufgeklappt mit 400 über Milliarden als Refinanzierungsgarantie, mit 80 Milliarden direkten Kapitalhilfen und einem sog. „Stabilisierungsfonds“ von bis zu 100 Milliarden.
Das Parlament hat sich bei diesen Entscheidungen im Hau-Ruck-Verfahren selbst entmachtet und bis heute ist der Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung – SoFFin – einer echten Kontrolle entzogen. Über eine halbe Billion Steuergelder – das ist mehr als das Anderthalbfache des Bundeshaushalts und mehr als ein Fünftel der Jahresleistung unserer gesamten Volkswirtschaft – wird quasi ohne öffentliche Kontrolle von einem Netz von Insidern und Verursachern der Krise verfügt.
Nach Ausbruch der Krise backten backten die Banker eine kurze Weile kleine Brötchen. Man räumte „Fehleinschätzungen“ und „Irrtümer“ ein, von individueller Schuld oder gar kriminellen Handlungen war allerdings nie die Rede.
Nach dem ersten Schock wurde das havarierte System bald wieder verteidigt zumal die deutschen Banker es schafften, den öffentlichen Eindruck zu erwecken, dass sie selbst mit dem Entstehen der Finanzkrise nicht das Geringste zu tun hätten.
Da sie dank Steuerzahlers Hilfe ihre Schäfchen ins Trockene bringen konnten und die Politik bisher nichts oder kaum etwas dagegen unternommen hat, ihre miesen Geschäfte zu kontrollieren, machen sie weiter wie bisher.
Ackermann protzt schon wieder mit zweistelligen Renditezielen und kassierte 9,4 Millionen Euro im Krisenjahr.
Wahrheitswidrig aber systematisch hat der Deutsche Bank-Chef Ackermann verbreiten lassen, seine Bank sei ohne öffentliche Gelder ausgekommen. Das ist eine Finte. Allein durch die öffentliche Rettung der HRE hat die Deutsche Bank über 2 Milliarden gerettet, die sie der Pleitebank ohne Sicherheiten geliehen hatte und die sich in Luft aufgelöst hätten, wären wir Steuerzahler nicht eingesprungen. 12 Milliarden US-Dollar erhielt die Deutsche Bank von den amerikanischen Steuerzahlern durch die Rettung des Versicherungskonzerns AIG. Aber die Irreführung der Öffentlichkeit verschwindet hinter einem bezaubernden Lächeln und dem einschmeichelnden Schweizer Akzent des Deutsche-Bank-Chefs.
Einige wenige verantwortlichen Vorstände traten zurück oder wurden zurückgetreten, aber mit dem Hinweis sie trügen keinerlei persönliche Schuld kassieren sie schamlos ihre „Erfolgstantiemen“ und ihre millionenschwere Abfindungen – und das teilweise sogar finanziert aus den staatlichen Hilfsgeldern.
Der SPIEGEL berichtete, dass ein einzelner Hedge-Fonds-Manager namens David Tepper im Jahre 2009 4 Milliarden Dollar kassierte, nur weil er darauf wettete, dass die US-Regierung nach Lehman Brothers nicht noch weitere Banken Pleite gehen lassen würde. Eine zynische Wette auf die Dummheit und den Langmut der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler.
Die Banker haben Schäden in Milliardenhöhe hinterlassen aber für den Schaden von einer Pfandflasche oder von ein paar aus dem Abfall geholten Maultauschen werden andere per Gerichtsbeschluss ihrer beruflichen Existenz beraubt. Ganze Gefängnisse sind voller U-Bahn-Schwarzfahrer, die ihre Strafgebühren nicht bezahlen können.
Die Oben lässt man laufen, die unten werden gehängt. Wir sind wieder im Feudalismus angekommen.
II. Das systemische Versagen der Justiz
Wer nun erwartet hätte, die Justiz würde sich mit diesen kriminellen Handlungen der Banker befassen, sieht sich ge- und enttäuscht.
Die Justiz wäscht ihre Hände in Unschuld und zieht sich auf den Standpunkt zurück, das Strafrecht könne nicht sanktionieren, was das Aktien-, Handels- Bilanz- oder Kapitalmarktrecht erlaube.
Die originäre Aufgabe des Strafrechts ist der Schutz des friedlichen Zusammenlebens der Menschen. Kaum etwas anderes aber hat in jüngerer Zeit den inneren Frieden der Gesellschaft so zerrüttet wie die Finanzkatastrophe.
Die Wiedergutmachung eines Schadens gehört zu den grundlegenden Rechtsprinzipien.
Die Straftatbestände der Untreue, des Betrugs, der Hehlerei und der Erpressung sind erfüllt, doch der „hölzerne Handschuh“ des Strafrechts (Heribert Prantl) packt nicht zu. Die wenigen bisherigen Strafverfahren gegen Verantwortliche lassen nicht erwarten, dass je ein Bankvorstand oder je ein Politiker für eingetretene Verluste ernsthaft zur Verantwortung gezogen würde oder gar haften müsste.
Das Strafrecht ist auf derartige Herausforderungen gar nicht vorbereitet. Der frühere Vorstandsvorsitzende der Mittelstandsbank IKB wurde angeklagt. Aber nicht wegen der vielen Milliarden Euro, die während seiner Amtszeit in heute nicht mehr handelbare Derivative versenkt wurden. Ihm wird u.a. als Untreue vorgeworfen, auf Bankkosten eine überteuerte Hifi-Anlage gekauft zu haben.
Die Mittel und Möglichkeiten des Strafrechts nehmen offenbar in dem Maß ab, je mehr Nullen an einer Schadenssumme hängen. Dem „Too big to fail“ folgt das „too big for justice“.
Polizei, Staatsanwaltschaften, Richter sind maßlos überfordert, um Rechtswidrigkeit und Schuld von einzelnen Verantwortlichen nachzuweisen. Sie verirren sich in einem undurchdringlichen Gestrüpp von Rechtsvorschriften und sie versinken in einem Meer von Beweismaterial und Datenmengen im zwei- bis dreistelligen Terabyte-Bereich.
Zwischen Strafjustiz und den Bankern besteht ohnehin keine Waffengleichheit. Die Banker rücken mit ganzen Kolonnen höchstbezahlter Anwälte an, dagegen sind die Staatsanwälte meist hilflos unterlegen. Und wenn sie wie im Fall Zumwinkel hart zugreifen, dann laufen sie Gefahr von Oben versetzt oder wie einige hartnäckige Steuerprüfer in Hessen von Oben mit psychiatrischen Gutachten dienstunfähig erklärt zu werden
Da sagt man doch lieber gleich, es liegt ein Marktversagen vor. Gegen Systemkriminalität gibt es kein Sanktionsrepertoire.
Und sollte es tatsächlich einmal zu einer Verurteilung kommen, so verweisen die Angeklagten spätestens in der Revisionsinstanz auf die Gutachten von Wirtschaftsprüfern oder die Bewertung von Ratingagenturen, auf die sie sich verlassen konnten, und die Richter greifen dann wie im Fall Vodafone bei Ackermann auf die Rechtsfigur des „unvermeidbaren Verbotsirrtums“. Die verantwortlichen in den Großbanken werden geradezu „systemisch“ von strafrechtlicher Verantwortung freigesprochen.
Die Finanzkrise offenbart eine systemische Krise des Strafrechts, es gibt kein Sanktionsrepertoire gegen Systemkriminalität von oben.
III. Das systemische Versagen der Politik
Hinter dem „systemischen“ Risiko verbirgt sich ein systemisches Versagen der Politik.
Die verantwortlichen Politiker tun so, als hätten sie mit den Ursachen des Bankenkollapses nichts zu tun, ja – mehr noch – sie lassen sich inzwischen sogar als „Retter“ feiern. Sie tun so, als habe uns die Finanzkatastrophe wie ein Tsunami – ausgelöst durch ein fernes Erdbeben – überrollt.
Dabei hatte die Politik auf vielfältige Weise die Roulettemaschine des Casinos erst richtig in Schwung gebracht. 2005 rühmte sich etwa der damalige Bundesfinanzminister auf seiner regierungsoffiziellen Website: Die Bundesregierung habe in den vergangenen Jahren wichtige Stufen erklommen auf dem Weg zu einem erfolgreichen Finanzplatz Deutschland in Europa und der Welt. Oder: die gewaltigen Potenziale des deutschen Finanzmarktes müssten als Motor für Wachstum und Beschäftigung vollständig ausgeschöpft werden.
Von 2001 bis Oktober 2008 wurden insgesamt 35 Gesetze und Maßnahmen auf dem Finanzsektor auf den Weg gebracht und durch das Parlament geschleust: 2002 bedurfte die Forderungsverwaltung durch ausgelagerte Zweckgesellschaften keiner Erlaubnis mehr, 2003 wurden Verbriefungen gefördert und erleichtert, der Ankauf von Kreditforderungen eines Kreditinstituts durch eine unkontrollierte Zweckgesellschaft wurde von der Gewerbesteuer und unter bestimmten Umständen von der Umsatzsteuer ausgenommen, 2004 wurden Hedgefonds zugelassen oder es wurden die Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen steuerfrei gestellt und so das Ausplündern gesunder Betriebe geschmiert und Tausende Arbeitsplätze vernichtet.
Finanzminister Steinbrück nannte das Kapitel „Finanzmarktpolitik“ einen Eckpfeiler im Koalitionsvertrag der Großen Koalition. Jörg Assmussen, Hans Eichel, Peer Steinbrück haben das hohe Lied vom Finanzplatz Deutschland gesungen. Mit glänzenden Augen schauten sie auf die Londoner City und auf die New Yorker Wall Street, treuherzig und unterwürfig bewunderten sie die Investmentbanker mit ihren Milliarden Boni und Vergütungen.
Bei der Gesetzgebung führte die Finanzwirtschaft die Feder. Mitarbeiter von Finanzinstituten wurden in die Ministerien abgeordnet. Die Gesetzentwürfe schrieben oft die Gleichen, die die Banken berieten. So entwarf etwa die Kanzlei Freshfields die Gesetzesvorlage zur Verstaatlichung der Hypo Real Estate. Im Standesrecht von normalen Anwälten nennt man das „Parteiverrat“.
Die Politik hat sich auf bloße Hand- und Spanndienste für hochqualifizierte Verschwörer reduziert. Ja mehr noch, viele Politiker saßen während und nach ihrer Amtszeit mit im Boot der Banker. Der ehemalige Superminister Wolfgang Clement bei der Citigroup, der ehemalige wirtschaftspolitische Sprecher der CDU Friedrich Merz beim Hedgefonds TCI, der ehemalige Bundeskanzler Schröder verdingte sich als Festredner des Hedgefonds-Anbieters Superfund. Mit dem früheren Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank Otmar Issing – er war danach Berater der Pleitebank Lehmann Brothers und von Goldman Sachs – machte die Kanzlerin den Bock zum Gärtner und berief ihn zum Vorsitzenden der Kommission zur Reform der internationalen Finanzmärkte. Die Liste der Namen, die die Seite wechselten, ließe sich beliebig verlängern. Die Drehtür zwischen Politik und Finanzwirtschaft dreht sich schneller als ein Ventilator.
Um von ihrem vorausgegangenen Tun abzulenken, haben uns Politiker den Bären aufgebunden, die Finanzkrise komme aus den USA, sie habe uns überfallen wie ein „Springinsfeldteufel“ – so redete etwa Steinbrück. Sie haben uns eingeredet, die Finanzkrise habe mit der Insolvenz von Lehman Brothers begonnen. Alle diese Ausflüchte waren glatt gelogen: Schon im Februar 2003 berichtete das Handelsblatt, dass Steinbrücks Amtsvorgänger, Hans Eichel zusammen mit Schröder und Clement mit den Spitzen von Banken und Versicherungen zusammentreffen wollten, um über die Gründung einer Bad Bank zur Auslagerung fauler Kredite zu beraten. Schon damals schätzten Fachleute den Bestand der deutschen Banken an „notleidenden Krediten“ auf 150 bis 160 Milliarden Euro.
Nach Angaben von Wolfgang Hetzer vom European Anti-Fraud Office (OLAF) hatte die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungen (BaFin) schon im Jahre 2007 – also lange bevor uns angeblich der Teufel aus den USA ansprang – ca. 750 Analysen zu möglichen Fällen von Insiderhandel und Marktmanipulation angefertigt, 103 neue Untersuchungen eingeleitet und in 42 Fällen gegen 113 Personen Strafanzeige erstattet. Durchgedrungen ist die Aufsicht damit offenbar nicht.
Niemand hält nach, dass dem systemischen Risiko eine systemische politische Korruption vorausging.
IV. Das systemische Versagen der Wirtschaftswissenschaften
Die Finanzkrise ist ein Beleg für das systematische Versagen der herrschenden ökonomischen Lehre.
Es waren nur ganz wenige Wirtschaftswissenschaftler, die vor einer Krise gewarnt haben, die allermeisten wurden von der Krise völlig überrascht oder noch mehr: sie wollten von Krisengefahren nichts wissen. Sie haben die Finanzkrise zuerst nicht kommen sehen – und danach nicht geglaubt, dass sie sich zur Wirtschaftskrise auswachsen würde.
Noch am 10. Oktober 2008, also nachdem Ackermann schon den „Tod des Bankensystems“ an die Wand malte, meinte laut Bild-Zeitung Deutschlands „bester Ökonom“ Hans-Werner Sinn, das Geld bei deutschen Banken sei sicher.
Die radikalsten Marktliberalen – wie etwa Prof. Juergen B. Donges, emeritierter Wirtschaftswissenschaftler der Uni Köln und Botschafter der INSM – blicken bis heute nicht über ihre ideologischen Scheuklappen und erklären die Finanzmarktkrise schlicht als Staatsversagen. Niedrige Zinsen und Geldvermehrung der amerikanischen Zentralbank seien die eigentliche Ursache, behauptet er.
Wie in kaum einem anderen Land galt unter Deutschlands Wirtschafswissenschaftlern die absolut herrschende Meinung, dass die „Märkte“ zu einer angemessenen Preisbildung führen, dass sich der Staat sich aus den Märkten möglichst herauszuhalten hat und der unregulierte, freie Wettbewerb zu „effizienten“ Ergebnissen führe. Seit Jahrzehnten haben die Wirtschaftweisen des Sachverständigenrates, die Konjunkturforschungsinstitute und die allermeisten wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühle nichts Wichtigeres zu tun, als dieses Dogma zu verteidigen und der Politik anzudienen.
Der Monetarismus oder angebotsorientierte, der Unternehmerlogik folgende Lehren verdrängten nachfrageorientierte oder makroökonomische Ansätze nahezu vollständig. Wirtschaftsempirische Forschung über Marktversagen fand in Deutschland praktisch nicht statt. Konjunkturstützende Maßnahmen des Staates etwa galten als „Strohfeuer“. Der Lohn als Nachfragefaktor spielte in den Modellen keine Rolle.
Es gab geradezu einen Herdentrieb. Lohndumping, Unternehmenssteuersenkungen, Deregulierung, Flexibilisierung, Privatisierung und schwacher Sozialstaat galten als die Erfolgsrezepte im Standortwettbewerb. Diese Rezepte galten als „alternativlos“, Bundeskanzler Schröder nannte sie „objektiv notwendig“. Bei jedem Scheitern, wurde immer nur eine Erhöhung der Dosis der gleichen Rezeptur empfohlen.
In ihrem Dogmatismus haben sie nicht nur gegen die Prinzipien der Wissenschaftlichkeit verstoßen, viele sog. Experten, wie etwa Raffelhüschen, van Suntum, Rürup, Miegel, Börsch-Supan, Zimmermann, Hüther usw. – Sie kennen sie alle aus den Medien – waren ganz unmittelbar mit der Wirtschaft oder ihren PR-Agenturen verbunden.
Als Denkfabriken getarnte Propaganda-Agenturen wie etwa Mont-Pèlerin-Gesellschaft, die Hayek Stiftung, das Institut der deutschen Wirtschaft (IW), der Kronberger Kreis, die Stiftung Marktwirtschaft, die Heinz Nixdorf Stiftung, die Ludwig-Erhard-Stiftung oder die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft vor allem die Bertelsmann Stiftung und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft unterzogen die gesamte Öffentlichkeit einer Gehirnwäsche.
Wissenschaftler und gesellschaftlichen Kräfte, die Alternativen zum neoliberalen Dogma vorschlugen, konnten dem bestehenden Propagandaapparat nichts mehr entgegen setzen. Die Gleichschaltung wurde bestenfalls noch durch sporadische Kritik aus dem Ausland gestört:
Nobelpreisträger Paul Krugmann etwa nannte Steinbrück einen „Dummkopf“, der Chefvolkswirt der US-Investmentbank Goldman Sachs Jim O’Neill oder Nobelpreisträger Robert Solow hielten ihren deutschen Kollegen „absurde Vorstellungen“ vor. Auch der Präsident der französischen Konjunkturforschung warnte die Kollegen seiner Zunft im Nachbarland.
Robert Skidelsky zog in seinem Buch “Keynes für das 21. Jahrhundert” ein gnadenloses Fazit: Die Krise ist “das Resultat des intellektuellen Versagens der wirtschaftswissenschaftlichen Profession” und sie erwies “die unglückselige Nutzlosigkeit des größten Teils der derzeit tonangebenden akademischen monetären Ökonomie.”
Wer von „systemischer“ Krise spricht, weiß offenbar gar nicht, was er damit sagt: Es ist die Krise des Systems, das die Ökonomen wissenschaftlich untermauert haben.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise müsste die herrschende Ökonomie in eine Sinnkrise gestürzt haben. Doch eine grundlegende Debatte über eine wirtschaftspolitische Wende oder gar einen Neubeginn findet nicht statt.
Es gilt nach wie vor das Prinzip: Umso schlimmer für die Praxis, wenn sie unserer Theorie nicht folgt.
V. Das systemische Versagen der Medien
„Der tagesaktuelle deutsche Wirtschaftsjournalismus stand dem globalen Finanzmarkt gegenüber wie ein ergrauter Stadtarchivar dem ersten Computer mit einer Mischung aus Ignoranz und Bewunderung, ohne Wissen, wie er funktioniert, ohne Ahnung von den folgenreichen Zusammenhängen, die sich aufbauen; im Zweifel schloss man sich der vorherrschenden Meinung an. Die weltweite Krise des Finanzmarktes, die globale Krise der Großen Spekulation, löste auch eine Krise des Wirtschaftsjournalismus aus“, so fassen Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz in einer umfänglichen empirischen Studie zusammen.
Es will schon etwas heißen, wenn eine Publizist und ein ehemaliger Chefredakteur das „eigene Nest“ derart beschmutzen. Aber sie können sich auf sicherem Terrain bewegen. Sie haben die wirtschaftsjournalistische Arbeit der wichtigsten Leitmedien, nämlich von ARD-Aktuell, der Deutschen Presseagentur und von fünf überregionalen Tageszeitung von 1999 – also dem Rücktritt von Oskar Lafontaine als Finanzminister – bis zur offenen Krise 2009 gründlich ausgewertet.
Das Ergebnis ist niederschmetternd:
Wohlgemerkt, die Rede ist von den sog. Qualitätsmedien und nicht vom Kampagnenjournalismus der Bild-Zeitung oder von kleinen Zeitungen mit ausgedünnten Redaktionen bei denen sich die Grenzen zwischen Journalismus und der Übernahme von Public-Relations-Beiträgen ohnehin zunehmend vermischen.
Zu einem vergleichbar vernichtenden Ergebnis kommt ein Monitoring der Schweizer Medienwissenschaftler Kurt Imhof und Mario Schranz. „Lemminge statt Wachhunde“ titelt die Schweizer Wochenzeitung. Die Spezies der WirtschaftsjournalistInnen sei großmehrheitlich konditioniert im Paradigma der unfehlbaren Selektions- und Entdeckungsfunktion des Marktes.
Der Wirtschafts- und Finanzmarktjournalismus habe die Distanz zu den Subjekten und Objekten seiner Berichterstattung verloren.
Über diese Befunde hinaus ist festzustellen, dass sich in der zurückliegenden Dekade Verlage und die von ihnen eingesetzten Chefredakteure mit den wirtschaftlich und politisch Mächtigen geradezu verbündet haben.
Statt Vorsicht und Abstand erleben wir bei vielen Journalisten Nähe und Kooperation mit Wirtschaft und Politik, wir beobachten Kampagnen – statt kritischen Journalismus, Nachplappern statt Analyse. Vor allem aber gibt es eine Verneigung vor den Mächtigen und nur wenig Empathie für die Schwächeren in dieser Gesellschaft.
Zu einer umfassenden Analyse der Befindlichkeiten des Journalismus müsste darüber hinaus noch der Einfluss des krebsartig wuchernden Lobbyismus und die Wirkung der wirtschaftsnahen Think-Tanks und ihrer Propagandaagenturen auf die veröffentlichte Meinung gehören.
In kaum einer Talkshow fehlt ein „Botschafter“ der INSM. Hans-Olaf Henkel, Arnulf Baring, Oswald Metzger und wie die „Botschafter“ dieser arbeitgeberfinanzierten PR-Organisation auch heißen mögen, werden höchst selten als wirtschaftsliberale Polit-Lobbyisten, sondern meist als „Experten“ eingeführt. Wenn man nur auf die Mainstream-Medien schaute, könnte man den Eindruck gewinnen, dass es in Deutschland nur ein paar Dutzend Ökonomen mit Reputation gäbe. Es werden immer dieselben gefragt und zitiert, also die Sinns, die Straubhaars, die Franzens, die Zimmermanns, die Hüthers, die Miegels und höchst selten und oft nur als Alibi noch Bofinger oder Horn mit abweichender Meinung.
Man fragt nicht nach dem Interessensbezug etwa von Herrn Raffelhüschen zur Versicherungswirtschaft,
Wirtschaftsjournalistinnen und –journalisten haben offenbar vergessen oder haben nie darüber nachgedacht, dass die Wirtschaftswissenschaft keine „harte“ sondern eine Gesellschaftswissenschaft ist, mit zahllosen Schulen und kontroversen Lehrmeinungen.
Dass ökonomische Studien einem Erkenntnis leitenden Interesse, ja sogar einem unmittelbaren Interessensbezug auf einen Auftraggeber unterliegen können, scheint in Vergessenheit geraten zu sein. Ideologiekritik oder Ideologieverdacht wird sogar als Verschwörungstheorie beiseite geschoben.
„Konform, uniform, chloroform“ so lautet die Überschrift eines Kapitels in Heribert Prantls Büchlein „Kein schöner Land“ in dem er die „Verbetriebswirtschaftlichung des Gemeinwesens“ nachzeichnet und beschreibt wie die neoklassische Ökonomie in Deutschland nicht nur zur vorherrschenden sondern zur allein herrschenden Lehre geworden ist.
Es gilt der Satz: Umso schlimmer für die Praxis, wenn sie nicht mit unserer Theorie übereinstimmt.
Da der Wirtschaftsjournalismus kaum ein Wort über seine Defizite in der Vergangenheit übrig hat, ist innere Einkehr und Besserung nicht zu erwarten.
VI. Die Finanzkrise wird zur Krise der Staatsverschuldung
Die Finanzkrise ist aus der öffentlichen Debatte nahezu verschwunden, die dadurch verursachte Wirtschaftskrise wird systematisch schön geredet. Alle reden vom Aufschwung XXL und dass Deutschland „gestärkt“ aus der Krise hervorgegangen sei. Dabei hat selbst der neoliberal ausgerichtete Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung der Regierung ins Stammbuch geschrieben, dass von einem „neuen Wirtschaftswunder“ keine Rede sein könne und dass das Bruttoinlandsprodukt 2010 immer noch unter dem Niveau von 2006 liege. Und sobald es um Lohnverhandlungen geht erklärt dann Gesamtmetall-Chef Kannegiesser, dass wir bei der Produktion sind erst 70 Prozent und beim Auftragseingang 80 Prozent des Einbruchs wettgemacht hätten.
Es ist geradezu in einer Art Gehirnwäsche gelungen, die Ursachen und die Auswirkungen der Finanzkrise aus dem öffentlichen Bewusstsein zu verdrängen. Die Rede ist inzwischen nur noch von staatlichen Schuldenkrisenkrisen. Dabei hat Finanzminister Schäuble sozusagen regierungsoffiziell eingeräumt, dass die derzeitige Schuldenkrise eine unmittelbare Folge der Finanzkrise ist. In einem Beitrag für die FTD räumte er ein, dass die krisenbedingten Nettokosten für die Unterstützung des Finanzsektors durch die G20-Länder vom Internationalen Währungsfonds auf 905 Milliarden Doller geschätzt werden.
Zusammen mit den durch die Finanzkrise erforderlichen Konjunkturimpulsen erhöhte sich dadurch die Staatsverschuldung der Eurozone in nur einem Jahr um fast 10 Prozentpunkte (auf 78,7 Prozent vom BIP 2009, gegenüber 69,3 Prozent in 2008).
Aber statt nur die geringsten Anstalten zu machen, das Geld wieder von denjenigen zurückzuholen, die mit der Zockerei einen Riesenreibach machten, heißt es nun, dass die Verschuldung damit zu erklären sei, dass Deutschland und viele Länder Europas „über ihre Verhältnisse gelebt“ hätten.
Wer hat eigentlich in Deutschland über seine Verhältnisse gelebt?
Die Arbeitnehmer deren Reallöhne seit nunmehr über 20 Jahren nahezu stagnierten, sicherlich nicht. Die 6 Millionen Arbeitslosen und Hartz IV-Bezieher, bei denen jetzt mit dem sog. Sparpaket noch weiter gekürzt wird , die Zeit- und Leiharbeiter oder die Rentner, deren gesetzliche Rente durch die endlosen Rentenreformen über die „Riestertreppe“ oder Nachhaltigkeitsfaktoren seit der Jahrtausendwende um ein fünftel gesenkt wurde [PDF – 230 KB] haben mit Sicherheit auch nicht „über ihre Verhältnisse“ gelebt.
Im Gegenteil: Deutschland hat seit Jahren „unter“ seinen Verhältnissen gelebt, weil es durch Lohndumping und Unternehmenssteuersenkungswahn einen riesigen Leistungsbilanzüberschuss erzielt hat. „Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD-Land“, heißt es in einem OECD-Bericht aus dem Jahr 2008. So entwickelten sich die Unternehmens- und Vermögenseinkommen, die zwischen 2000 und 2010 um nominal 45 Prozent zulegten, fast dreimal so stark wie die Arbeitnehmerentgelte. Diese wuchsen über das letzte Jahrzehnt nominal lediglich um 16 Prozent. Real – also nach Abzug der Inflation – sind die durchschnittlichen Bruttoverdienste pro Beschäftigtem im vergangenen Jahrzehnt sogar gesunken: 2010 lagen sie nach Abzug der Inflationsrate um vier Prozent niedriger als im Jahr 2000.
Die Lohnquote, also der Anteil der Löhne am Volkseinkommen, die in den 70er Jahren noch bei über 70 Prozent lag, ist um fast 10 Prozent auf etwas um die 60 Prozent gesunken, während im Gegenzug der Anteil der Kapital- und Vermögenseinkommen entsprechend zunahm. Nach einer DIW Studie aus diesem Jahr stiegen die privaten Nettovermögen allein von 1991 bis 2009 um 99 Prozentpunkte auf unvorstellbare 7.370 Milliarden Euro.
Wer in Deutschland „über seinen Verhältnissen“ gelebt hat, zeigt sich vor allem in der Verteilung dieses immens gewachsenen Vermögens: Die obersten 20% der Vermögensverteilung besitzen rund 80% des Nettogeldvermögens (Bruttogeldvermögen minus Konsumentenkredite), während alleine die obersten 10% zwei Drittel besitzen. Die untersten 25% besitzen nicht nur kein Nettogeldvermögen, sondern sie verfügen sogar über ein negatives Nettogeldvermögen – sprich, sie haben mehr Schulden als Guthaben. Zwei Drittel der Deutschen verfügen laut DIW über gar kein oder nur ein sehr geringes Nettogeldvermögen.
Trotz des privaten Reichtums und der öffentlichen Armut wird täglich aus allen Ecken erzählt, dass die Staatsschulden das größte Problem wären, dass unsere beklagenswerten Enkel die Zinsen bezahlen müssten, dass unsere Generation über unsere Verhältnisse lebte.
Werden wirklich die künftigen Generationen belastet?
Die Wahrheit ist: Die Schulden der einen, sind zu jedem Zeitpunkt, also jetzt und in alle Zukunft, die Vermögen der anderen.
„Generationengerechtigkeit“ ist zu einem politischen Kampfbegriff geworden, der von der sozialen Ungleichheit und von der Ungleichheit der Vermögensverteilung innerhalb der heutigen und der künftigen Generationen ablenken soll.
Wir haben es mit einer intragenerativen Belastung (also der zwischen den derzeit Armen und Reichen) und nicht um eine intergenerativen Belastung (also nicht zwischen alt und jung) durch die Staatsverschuldung zu tun.
Sie alle haben gewiss im Fernsehen schon mal die sog. Schuldenuhr gesehen, auf mit schwindelerregender Geschwindigkeit die Zahlen rasen mit denen die Staatsschulden ansteigen. Man müsste neben diese Schuldenuhr einfach eine Uhr stellen, die den Vermögenszuwachs in jeder Sekunde misst.
Dann würden die staunenden Fernsehzuschauer oder die staunenden Touristen vor dem Büro des Steuerzahlerbundes in Berlin aber sehen, dass die Vermögensuhr viel schneller läuft als die Schuldenuhr und würden sich vielleicht fragen, wieso das bei ihnen persönlich eigentlich nicht der Fall ist. Dann würden die Leute vielleicht auch fragen, was denn mit den Vermögen geschieht und warum die berühmten „Leistungsträger“, die den Staat über Jahre gedrängt haben, Steuern für sie zu senken, damit sie mehr leisten können, nun dem Staat das Geld in Form von Staatsanleihen borgen können und dabei noch zusätzliche Zinsgewinne erzielen. Viele von denjenigen, die vom Staat in den vergangenen Jahren so großzügig bedacht wurden, haben offenbar gar nicht gewusst, was sie mit dem Geld machen sollen, das da so unverhofft in ihre Taschen gespült wurde.
Sie haben es im Ausland als Staatsanleihen von Griechenland oder Portugal angelegt. Oder sie haben damit im Finanz-Casino gespielt.
Hier schließt sich der Kreis zum Beginn meines Referates. Und wenn nicht bald etwas geschieht, dann werden wir schon in absehbarer Zeit in die nächste Finanzkrise geraten. Nur eines ist dann sicher, die Spekulanten könnten nicht noch einmal die Verluste auf die Allgemeinheit sozialisieren. So viel Geld könnten die verschuldeten Staaten nicht noch ein weiteres Mal aufbringen, ohne dass sie selbst pleite gehen würden.
Was diese Staatspleite für die Bürgerinnen und Bürger bedeuten würde, möchte man sich gar nicht erst ausdenken.
Es wäre Ihnen und mir sicherlich unschwer möglich zahlreiche weitere Einblicke zu geben, wie diese Demokratie von OBEN auf den zentralen Feldern der Politik funktioniert.
Verbarrikatierte Demokratie
Man könnte noch eine Vielzahl von politischen Festschreibungen und Gesetze anführen, mit denen sich die Politik dauerhaft gebunden hat und sich dann der argumentativen und damit der politischen Auseinandersetzung mit dem Hinweis auf nicht mehr veränderbare Zwänge entzieht.
Ein konkretes Beispiel für eine derart „verbarrikadierte Demokratie“ oder für eine Demokratie von OBEN ist das Projekt Stuttgart 21.
Ich will hier nicht den Streit um einen oberirdischen Kopf- nachzeichnen, dafür haben selbst viele Verhandlungstage im Rahmen einer sog. „Schlichtung“ nicht ausgereicht.
Nein, mir geht es hier nur um die Behauptung, dass das Projekt S 21 in einem legalen und legitimen demokratischen Verfahren beschlossen und deshalb gegen alle „Wut“ der Bürger durchgesetzt werden muss.
Den Gegnern von S 21 wird vorgehalten, man brauche keine Volksabstimmung, denn das Vorhaben sei nach demokratischen Prinzipien und Verfahren entschieden worden und die „Wutbürger“ hätten ausreichend Gelegenheit zum Mitreden gehabt.
Diese Behauptung ist schlicht falsch.
Eine direkte Beteiligung der Bürger gab es in den 16 Jahren des Planungsprozesses für dieses Projekt praktisch nie. Über das Projekt wurde faktisch Anfang 1994 entschieden. Es stimmt, dass S 21 mit Mehrheiten in den entsprechenden Gremien beschlossen wurde. Es stimmt aber auch, dass diesen Gremien die wahre Dimension dieses Projekts, seiner technischen und Schwierigkeiten, wenn nicht gar Unmöglichkeit, vor allem aber die wirklichen Kosten bewusst verschwiegen wurde. Geschweige denn, dass die Bürgerinnen und Bürger, die jetzt auf die Straße gingen, darüber etwas erfahren hätten.
Bei demokratischen Abstimmungen, also etwa den Kommunalwahlen im Juni 1994 spielte der „große Wurf Stuttgart 21“ jedoch kaum eine Rolle. Für die Wahlbürgerinnen und Wahlbürger war das damals noch eine Zukunftsvision die mit den konkreten Problemen der Menschen nichts zu tun hatte. Erst nach dieser Wahl wurde eine erste Machbarkeitsstudie veröffentlicht.
Die Landtagswahlen 1992 lagen weit vor der Entscheidung und bei den Wahlen 1996 war die Entscheidung schon gefallen.
Und die Bahn in ihrem gigantomanen Denken weigerte sich von Anfang an über alternative Pläne für die Einbindung Stuttgarts in eine schnelle Verkehrsmagistrale Paris – Budapest auch nur nachzudenken.
Von den S 21 Befürwortern wird weiter behauptet, die Bürgerinnen und Bürger hätten ja die Gelegenheit gehabt, in dem vorausgegangenen rechtlichen Planfeststellungsverfahren ihre Einwände durch Eingaben einzubringen. Immerhin seien mehr als 10.000 Einwände auch gerichtlich überprüft worden. Was dabei unterschlagen wird, dass solche Eingaben nur Aussicht auf Berücksichtigung hatten, wenn sie Korrekturen am vorgegebnen Plan oder Detailbeschwerden zum Inhalt hatten.
Eine Ablehnung des Projektes oder Anträge auf die Prüfung von Alternativen waren gar nicht möglich. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat auch nicht etwa das Pro und das Contra für S 21 überprüft, sondern ausschließlich darüber entschieden, ob mit dem Planfeststellungsbeschluss das planerische Ermessen überschritten wurde, ob also rechtsfehlerfrei geplant worden ist.
Schon gar nicht haben die Gerichte darüber entschieden, ob der einmal gefasst Plan auch tatsächlich durchgeführt werden muss.
Die Gerichte hatten entgegen der Behauptung der Befürworter von S 21 nicht etwa ein Bürgerbegehren untersagt, sondern das Verwaltungsgericht Stuttgart hat 2009 nur entschieden, dass das schon eingeleitete Bürgerbegehren mit dem Ziel eines Ausstiegs aus dem Vorhaben rechtlich nicht mehr zulässig sei, weil die Stadt Stuttgart sich schon längst vertraglich zu einer finanziellen Beteiligung verpflichtet hatte.
Niemand hätte aber den Rat der Stadt z.B. daran hindern können, statt eines förmlichen Bürgerbegehrens wenigstens eine Bürgerbefragung durchzuführen.
Das politische System hat sich hinter den selbst aufgebauten Barrikaden verschanzt. Das spüren die Menschen, wenn laut Umfragen die Hälfte der Deutschen mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, unzufrieden sind. Dass es immer weniger zur entscheiden gibt, führt dazu, dass immer weniger Menschen von ihrem demokratischen Stimmrecht Gebrauch machen. Dass sich die Politik selbst eingemauert hat, führt zu allgemeiner Politik- und Politikerverdrossenheit und baut eine Stimmungslage in der Bevölkerung auf, in der die Gefahr besteht, dass sich immer mehr nach einer starken Führerfigur sehnen, die diese Mauern einfach umwirft. Die Demokratie wäre damit endgültig am Ende.
Fazit:
Bertolt Brecht hat die entscheidende Frage gestellt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?“
Sie selbst könnten noch endlos viele Beispiele aneinanderreihen die das Gesamtbild ergeben, dass die Demokratie nicht mehr vom „Demos“, also dem Volk, sondern von OBEN ausgeht. Dabei würde sich auch zeigen, dass mit OBEN nicht einmal mehr nur die Regierungen oder die Parlamente gemeint sind, sondern dass sich die Politik insgesamt zum Handlanger mächtiger ökonomischer Interessen gemacht hat, sei es weil die Parteien ohnehin auf deren Seite stehen oder sich der Logik dieser Interessen unterworfen haben, sei es dass die führenden Personen politisch korrumpiert wurden, durch finanzielles Zubrot, durch Posten oder einfach nur durch Anpassung an den Medien-Mainstream.
Mehrere Umfragen der letzten Jahre (ARD-Deutschlandtrend von infratest dimap Ende 2006; eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie des Münchner Instituts Polis/Sinus 2008; der Eurobarometer der EU 2007) kommen übereinstimmend zu dem Befund, dass ungefähr die Hälfte der Deutschen mit der Art und Weise, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert weniger oder gar nicht zufrieden ist.
Ärmere Menschen beurteilen das Funktionieren der Demokratie noch weitaus schlechter:
73% der Arbeitslosen, 63% der Hartz-IV-Haushalte, 61% der Ostdeutschen, 60% der Haushalte mit einem Nettoeinkommen von unter 700 Euro beurteilen die demokratische Praxis in Deutschland kritisch (siehe Polis/Sinus Studie).
Das sind höchst gefährliche Alarmzeichen.
Nun darf man aber nicht den Fehler machen, Verdruss und Unzufriedenheit mit dem Funktionieren unserer Demokratie gleichzusetzen mit der Ablehnung von Demokratie:
Denn mehrere Umfragen kommen nämlich auch zum Ergebnis, dass die ganz überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung eine demokratisches Staatswesen, das Grundgesetz und den Sozialstaat für verteidigenswert halten.
So hat etwa das Institut für Demoskopie Allensbach festgestellt, dass über 80 % unser Grundgesetz für gut halten.
Auch die Polis/Sinus-Studie der FES kommt zu dem Befund, und dass die große Mehrheit der Bundesbürger (78 %) unsere Gesellschaftsordnung für verteidigenswert hält.
Die kritische Haltung der Bevölkerung ist also eher (noch) eine Politik-, Politiker- und Parteienverdrossenheit als Demokratieverdrossenheit.
Nach einer gerade dieser Tage veröffentlichten Umfrage der Universität Hohenheim glauben 54 Prozent der Befragten nicht, dass die Politik die Finanzkrise in den Griff bekommen wird. Fast zwei Drittel (64 %) sind der Meinung, der Politik fehle es an fachlicher Kompetenz, um die Strategien der Finanzunternehmen zu durchschauen. Nur jeder Vierte traut der Politik zu, dauerhaft größeren Einfluss auf die Wirtschaft und die Banken zu gewinnen. Und fast drei Viertel der Bevölkerung (72 %) gehen davon aus, dass die Banken und Versicherungen nichts aus der Krise gelernt haben. Und drei Viertel der Befragten (74 %) gehen davon aus, dass die Politik die Interessen des Finanzsektors mehr berücksichtigt als die der Steuerzahler.
Die Unzufriedenheit mit dem Funktionieren mit der Demokratie, mit der Politik, mit den Politikern ist eigentlich nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Politik in zentralen Fragen dauerhaft gegen den Mehrheitswillen regiert. Das ist bei Hartz IV so, bei der Rente mit 67 so, bei der Gesundheitsreform, beim Kriegseinsatz in Afghanistan, bei der Atompolitik, bei gigantomanen Großprojekten wie Stuttgart 21. Man könnte noch eine ganze Reihe wichtiger Politikfelder aufzählen, bei denen die Bürger das Gefühl gewonnen haben, dass ihre Meinung von der Politik, von den Parteien und von den Regierungen nicht mehr gefragt ist.
Ja es ist noch schlimmer, ihre Meinung kommt in der öffentlichen Debatte gar nicht mehr vor.
Wir erleben geradezu eine Barriere der Medien gegenüber den Meinungen und Befindlichkeiten der großen Mehrheit in zentralen Fragen der Gestaltung der Politik und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wer über die veröffentlichte Meinung verfügt, verfügt auch über die Öffentliche Meinung und die öffentliche Meinung bestimmt wiederum wesentlich auch die Politik. Wir erleben das nicht nur in Deutschland, sondern – vielleicht noch offensichtlicher – in Italien oder in Frankreich.
Ohne dass diese Medienbarriere nicht zum Thema wird oder dass sie durchbrochen wird, wird es keinen Richtungswechsel in der herrschenden Politik geben und wird es keinen Durchbruch der Wut der Bürger geben.
Demonstrationen sind sicherlich ein Mittel mit dem viele Menschen ihren Protest und ihren Widerstand äußern können. Demonstrationen können einen öffentlichen Diskurs anstoßen, sie können ihn aber nicht argumentativ führen. Und – was vielleicht noch entscheidender ist – Demonstrationen unterliegen wiederum der Interpretationsmacht der Leitmedien. Viele unter Ihnen werden das schon erlebt haben, wenn sie an einer Demo teilgenommen haben und anschließend darüber in der Zeitung lasen. Man hat in der Regel das Gefühl, dass man auf einer ganz anderen Veranstaltung war. Häufig wird noch nicht einmal das Ziel des Protestes genannt, sondern die Schlagzeilen werden von einigen Übergriffen einzelner – oft sogar eingeschleuster – Demonstrationsteilnehmer beherrscht.
Wir brauchen deshalb eine Gegenöffentlichkeit zur derzeitigen „Vermachtung der Öffentlichkeit“ durch wirtschaftlich mächtige Akteursgruppen, durch Staat, Parteien und Verbände und vor allem auch durch die wenigen monopolartigen Medienunternehmen.
Ob die Blogger dieses Meinungskartell durchbrechen und wieder eine lebendigere Demokratie herstellen können, darüber wollen wir heute Abend ab 18.00 Uhr diskutieren.
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