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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Haarausfall als Chance
Datum: 9. April 2022 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Ideologiekritik, Rezensionen, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Haben Sie auch die Schnauze voll davon, dass Ihnen Ihre Lebensprobleme, Schwierigkeiten und Leiden als „Herausforderung“ oder „Chance zum inneren Wachstum“ verkauft werden? Oder dass man Ihnen nahelegt, zu meditieren oder achtsamer zu leben, um Ihre „Resilienz“ (Widerstandskraft) zu steigern? Oder dass man Ihnen vorhält, Sie würden einfach zu negativ denken? Dann sollten Sie das Buch der Journalistin Juliane Marie Schreiber lesen, meint unser Rezensent Udo Brandes. Diese stieß bei ihren Recherchen für ihr Buch „Ich möchte lieber nicht. Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven“ unter anderem auf Absurditäten wie die Zeitungsschlagzeile „Haarausfall als Chance“. Von Redaktion.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Schreiber diagnostiziert für unsere Gesellschaft, dass der Druck, unter allen Umständen eine positive Haltung einzunehmen, so hoch sei wie noch nie zuvor. Unternehmen, Denkfabriken, Coaches, Nachbarn und vor allem die Werbung terrorisierten die Menschen mit der Forderung, doch positiv eingestellt zu sein. Und das Schlimme sei: Diejenigen, die nicht positiv denken, würden stigmatisiert. Maßgeblich dazu beigetragen habe ein neuer psychologischer Zweig:
„Dieser Glücksterror hat Rückenwind von einer neuen Psychologieströmung bekommen, der Positiven Psychologie, die sich seit ihrer Entstehung Ende der Neunzigerjahre in der westlichen Welt ausgebreitet und – wenig überraschend – eine umsatzstarke Industrie im Rücken hat. Ihrer Grundidee nach gelingt ein glückliches Leben vor allem dann, wenn man negative Gedanken und Emotionen konsequent vermeidet und sich auf das Positive fokussiert, selbst, wenn das ‚vielleicht auf Kosten‘ des ‚Realismus‘ geht“ (S.8).
Der Begründer dieser Positiven Psychologie ist ein US-amerikanischer Psychologe namens Martin Seligman, dessen Karriere Schreiber so beschreibt:
„Martin Seligman hat seit 1998 eine sehr gute Zeit. Höchstpersönlich baute er an seiner Uni in Pennsylvania im Jahr 2001 das Positive Psychology Center aus. Gefördert wurde es mit Forschungsmillionen, vor allem von konservativen Stiftungen. Hier traf Motivationspsychologie auf neoliberales Weltbild (..). Seligman behauptet nämlich, er habe so etwas wie die Weltformel, na ja, jedenfalls‚ die Glücksformel‘ gefunden. Wie gut, dass ‚Glück‘ seitdem kein vager und vieldeutiger Begriff mehr ist, nein, Glück ist nun messbar. Seligmans Glücksformel lautet ‚H = S + C + V‘. Was nach Chemie oder einem Fußballverein klingt, soll aber nur sagen: Glück ist gleich genetische Voreinstellung plus Umstände plus willentliche Kontrolle (happiness = genetic set point + circumstances + voluntary control), und zwar in der Aufteilung 50, 10, 40. Also die Hälfte sei Genetik, ein Zehntel Schicksal, und der Rest liege in unserer eigenen Hand“ (S. 51).
Mit anderen Worten: Seligman will suggerieren, dass das Glück des Menschen einfach eine Sache der Entscheidung ist. Passt natürlich wunderbar zur neoliberalen Ideologie „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Und zwar jeder allein. Dass diese „wissenschaftliche“ Richtung der Psychologie kompletter Humbug ist, kann man im Detail in dem Buch der Soziologin Eva Illouz und des Psychologen Edgar Cabanas nachlesen (Näheres dazu auf den NachDenkSeiten hier). Seligman konnte mit seiner Theorie aller Wahrscheinlichkeit auf jeden Fall etwas glücklicher werden. Er kassiert inzwischen pro Optimismus-Vortrag 30.000 Dollar.
Glück als neues Statussymbol
Sie werden es vielleicht auch schon in Gesprächen mit Freunden, Bekannten, Kollegen usw. festgestellt haben: Es gibt Menschen, bei denen ist im Leben immer alles „wunderbar“. Der Urlaub war „so schön“. Der Geburtstag war ein Fest, das alle begeisterte. Das Wochenende mit der Ehefrau/dem Ehemann war fantastisch. Das Sexleben ohnehin. Von solchen Menschen hört man nie, dass irgendetwas in ihren Leben vielleicht nicht perfekt ist. Warum ist das so? Schreiber hat dafür eine, wie ich glaube, zutreffende Erklärung:
„Unsere Kultur des Glücks verneint den Schmerz, den körperlichen genauso wie den seelischen, und sie ignoriert seine biologische und soziale Funktion (nämlich zu zeigen: es stimmt was nicht; UB). Das hat nicht nur individuelle, sondern auch zwischenmenschliche Gründe. Als soziales Wesen ist uns Status und Anerkennung wichtig. Bisher ließen vor allem alle möglichen materiellen Besitztümer den Status steigen, aber auch Leistung oder Wissen. Erst seit Kurzem kommt das hedonistische Glück als neue Dimension hinzu. Die Glücklichen haben ein kostbares Gut, das wir alle gern hätten. Seitdem man es mit Bildern der ganzen Welt zeigen kann, wird das edle Dinner am ausgewählten Boutique-Reiseort zum Ausdruck des erfüllten Lebens. Doch wenn das Zeigen des Glücklichseins selbst zum Status wird, gibt sich natürlich niemand die Blöße und redet über dunkle und schmerzvolle Erlebnisse – es könnte ja die Anerkennung von anderen mindern“ (S. 101).
Aber: Nach wie vor spielen Statussymbole wie materieller Erfolg (zum Beispiel ein eigenes Haus zu besitzen), Titel (warum gab es so viele Plagiatsaffären in Bezug von Doktorarbeiten von Politikern?) oder Macht natürlich eine große Rolle. Aber es stimmt schon: Ein glückliches Leben zu haben, das ist eine Art von Statussymbol geworden, das gerne zur Schau gestellt wird.
Warum Schimpfen das Leben verbessert
Sind aber diese Glücksstreber, die alles Negative aus ihrem Leben verdrängen und nur noch das Positive sehen wollen, wirklich die glücklicheren Menschen? Oder anders gefragt: Haben sie wirklich das bessere Leben? Mein Antwort wäre ohnehin: nein. Denn erstens kann man das Ungemach, das einem im Leben widerfährt, nicht aus dem Leben aussperren. Und zweitens, wer es verdrängen will, der wird es trotzdem nicht los. Bei dem kommt es zum Beispiel in Form von Magenschmerzen wieder. Deshalb fand ich es sehr schön, wie Schreiber in ihrem Buch beschreibt, wie wohltuend und sinnvoll das Schimpfen ist. Sie erklärt dies am Beispiel eines Experiments. Menschen sollten dabei eine Hand in eiskaltes Wasser halten. Dann wurde die Zeit gemessen, wie lange sie dies aushalten können. Beim zweiten Versuch wurde ihnen gleichzeitig eine Liste mit Schimpfwörtern vorgelegt, die sie laut lesen sollten, während ihre Hand in eiskaltes Wasser getaucht war. Darunter Wörter wie „Hoden-Gmon“ oder „Schwingtitte“. Ein Vokabular, das man ohne Weiteres zu Herbert Wehners Zeiten auch im Bundestag hätte hören können (nämlich von ihm selbst), das aber in unseren politisch korrekten Zeiten sogleich ein großer Skandal wäre. Wie dem auch sei: Bei dem Versuch kam heraus, dass Menschen, die die Liste der Schimpfwörter laut vorlasen, längere Zeit ihre Hand in das eiskalte Wasser eintauchen konnten. Schimpfen und Fluchen erleichtert es also offenbar, Schmerz aushalten zu können. Mit anderen Worten: Schimpfen und Fluchen entlastet und tut uns gut. Und das gilt natürlich nicht nur für körperliche Schmerzen, sondern auch für seelische Belastungen. Darüber hinaus kommt Schreiber auch vollkommen zu Recht zu dem Schluss:
„… Schimpfen (ist) eigentlich ein zivilisatorischer Fortschritt. Statt den Idioten, der uns die Vorfahrt genommen hat, aus dem Wagen zu zerren und ihm einen Scheitel zu ziehen, wählen wir eine symbolische Ersatzhandlung. Wir attackieren ihn mit Worten, die er nicht einmal hört. So gehen alle ungeschoren aus dem Streit heraus und wir fühlen uns besser“ (S. 113).
Aber das negative Denken, das Unzufriedensein, Wut, Ärger – all dies sollte auch aus einem anderem Grund nicht verdrängt oder wegmeditiert werden. Denn solche Gefühle haben auch gesellschaftlich und politisch eine wichtige Funktion: Wenn Menschen nicht wütend werden, dann werden sie auch nicht politisch aktiv. Und wenn sie nicht politisch aktiv werden, dann verändert sich auch nichts. Genau das ist der Grund, warum der eingangs erwähnte Psychologe Martin Seligman von erzreaktionären Stiftungen und Konzernen wie Coca-Cola Fördergelder erhalten hat: Seine Glückstheorie ist so etwas wie ein politisches Narkotikum. Es lässt die Menschen die neoliberale Ideologie („Jeder ist seines Glückes Schmied“) verinnerlichen. So kommen die Menschen nicht mehr auf „dumme Ideen“, nämlich die bestehenden Verhältnisse infrage zu stellen. Weil sie damit beschäftigt sind, via Achtsamkeit, Meditation und Yoga individuell ihr Glück zu finden. Deshalb schreibt Schreiber zutreffend:
„Karl Marx’ berühmte 11. Feuerbachthese müsste eigentlich lauten:‚Die Optimisten (anstatt die Philosophen; UB) haben die Welt nur positiv interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie zu verändern.‘ Denn gerade weil sie ein revolutionäres Potential haben, können negative Emotionen eine ‚revolutionäre Situation‘ erzeugen. Statt sich die Missstände schön zu reden, sollte man lieber die Dinge in der Welt ändern“ (S.145).
Resümee
Ausgerechnet an einer Stelle, in der Schreiber argumentieren will, man solle sich lieber nicht, wie in vielen Ratgebern empfohlen, auf das Bauchgefühl verlassen, wird sie irrational und lässt ihren Ressentiments gegenüber Menschen, die anders als sie denken, freien Lauf. Denn sie begründet ihre Skepsis gegenüber dem Bauchgefühl damit, dass schließlich auch „Verschwörungstheoretiker, radikale Impfgegner und Rassisten“ ihrem Bauchgefühl folgen würden (S. 78, 4. Zeile). Ähnliche Aussagen mit dem Tenor, dass Impfgegner irrationale Idioten sind, finden sich an mehreren Stellen im Buch.
Dass nach Aussage des Robert Koch-Institutes mRNA-Impfstoffe weder vor Selbst- noch Fremdansteckung noch vor einer Erkrankung schützen, ist dann wohl darin begründet, dass beim RKI ausschließlich Verschwörungstheoretiker arbeiten, die nur ihrem Bauchgefühl folgen. Und dass das amtlich für die Sicherheit von Medikamenten zuständige Paul-Ehrlich-Institut im eigenen Sicherheitsbericht viele schwerwiegende Impfschäden bis hin zu Todesfällen dokumentiert hat, liegt sicherlich daran, dass dort radikale Impfgegner ihr Unwesen treiben, die überdies bestimmt auch noch Rassisten sind.
An dieser Stelle im Buch von Schreiber offenbart sich eine in der Gesellschaft inzwischen weit verbreitete intolerante Geisteshaltung, die jeden, der anders denkt, als Feind und „bösen Menschen“ denunziert, den man exkommunizieren, also aus der Gemeinschaft ausschließen muss (Synonyme für die zu exkommunizierenden „Bösen“ sind dann Vokabeln wie „Verschwörungstheoretiker“).
So eine Geisteshaltung ist natürlich kein individuelles Phänomen dieser Autorin, sondern spiegelt die gefährlich intolerante bis totalitäre Tendenz unserer Gesellschaft wider. Da ich aber genau dieses im Grunde antidemokratische Freund-Feind-Denken ablehne und der Meinung bin, erwachsen und demokratisch zu sein, heißt vor allem auch, Ambivalenzen auszuhalten, möchte ich dieses Buch trotzdem empfehlen. Denn es ist ansonsten eine fundierte und unterhaltsam geschriebene Kritik an der neoliberalen Ideologie, die an einem Punkt ansetzt, der jeden betrifft: am Wunsch nach einem guten Leben. Und da hat die Autorin vollkommen recht, wenn sie den gesellschaftlichen Zwang zum „Gut-drauf-sein“ als die eigentliche Krankheit diagnostiziert, die überhaupt erst Probleme schafft. Weil dieser Zwang den normalen emotionalen Zustand, nämlich dass man sich nicht immer gut und schon gar nicht glücklich fühlen kann, pathologisiert. Und weil durch die Unterdrückung negativer Emotionen auch gesellschaftliche Zustände, die beim einzelnen Menschen Unglück hervorrufen, als politischer Konflikt stillgelegt und zum individuellen Problem gemacht werden. Deshalb meine Empfehlung: Kaufen. Es lohnt sich.
Juliane Marie Schreibers Buch „Ich möchte lieber nicht. Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven“ ist bei Piper erschienen.
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