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Titel: Der kollektive Schatten Deutschlands. Oder: Wieviel Faschismus steckt immer noch in uns Deutschen?

Datum: 9. März 2022 um 8:45 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Ideologiekritik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Militäreinsätze/Kriege
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Ein Angriff auf das ruhige Gewissen unseres Volkes. Von Gotthilf Freudenreich[*] – Die ganze Welt beschäftigt sich mit dem völkerrechtswidrigen Krieg Russlands. Dazu kann ich nicht viel sagen – die Sachlage ist verworren, die Urteile scheinbar klar. Stattdessen möchte ich die Situation gerne als Spiegel benutzen und meinen Blick auf Deutschland richten, um einen besonderen Aspekt psychologisch zu beleuchten: Wieso werden in den Medien und der Politik Deutschlands Russland und sein Präsident derzeit dämonisiert, wie es das noch nie seit dem 2. Weltkrieg einem kriegsführenden Volk gegenüber gab? Woher kommt dieser explosive, gesellschaftlich legitimierte Russenhass in Deutschland???

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Es geht mir also nicht darum, was Russland tut, sondern was Deutschland tut und warum. Davon habe ich einfach mehr Ahnung. Außerdem glaube ich, dass die Psychologie der aktuellen Diskussion eine Perspektive hinzufügen kann, zu der andere Sozialwissenschaften keinen Zugang haben.

Redaktionelle Zwischenbemerkung:

Der Text ist lang. Er ist spannend. Der psychologisch geschulte Autor vermittelt Einblicke in unser persönliches und gesellschaftliches Sein. Er bietet eine Analyse und eine Therapie.

Wenn Sie die Möglichkeit haben, dann könnten Sie auf der Basis dieses Textes eine Diskussion in Ihrem Freundes- und Familienkreis anstoßen. Dann einfach weiterleiten. –

Weiter im Text von Gotthilf Freudenreich:

Vorüberlegungen

Für meine Gedanken baue ich auf 2 Prämissen auf:

  1. Psychologische Abwehrmechanismen wirken nicht nur bei Einzelpersonen, sondern auch bei ganzen Völkern. In meiner Betrachtung sind Abspaltung, Verdrängung, Projektion und Wiederholungszwang besonders interessant.
  2. Asien und Westeuropa/USA haben eine völlig unterschiedliche Art ihres Verhältnisses zur Welt. In Asien ist das Individuum in seine Mitwelt eingebunden – in Europa versucht es, seine Umwelt zu beherrschen, was sich in unterschiedlichen philosophischen Grundkonzepten niedergeschlagen hat. Ich möchte sie hier vereinfacht Kooperation versus Konkurrenz nennen. Andere Worte dafür wären kollektivistisch versus individualistisch.

Als Einschränkung muss ich vorausschicken, dass ich hier grundlegende Tendenzen beschreibe, die natürlich nicht für alle Menschen gelten, besonders nicht für die, die sich mit diesen Themen beschäftigen oder selbstreflexiv das eigene und kollektive Unbewusste erforscht haben. Diese dürften ihren Anteil am Schatten weitgehend integriert haben und können daher aus einer Metaperspektive auf die Situation schauen. Die meisten Menschen sind jedoch mehr oder weniger unbewusst verwickelt. Das heißt, sie glauben die Realität einigermaßen objektiv abzubilden, befinden sich aber in Wirklichkeit im Spiegelkabinett ihrer Projektionen.

Darüber hinaus gilt natürlich, dass jeder Mensch aufgrund seiner individuellen Vergangenheit und seines kulturellen Kontextes seine eigene, subjektive Wirklichkeitskonstruktion hat und jede Interpretation der aktuellen Situation immer nur mehr oder weniger subjektiv sein kann – das gilt auch für mich und die hier dargelegten Gedanken! Und als jemand, der selbst den Wehrdienst mit der Waffe verweigert hat, möchte ich betonen, dass ich grundsätzlich dagegen bin, Konflikte als Krieg auszutragen. Allerdings habe ich inzwischen notgedrungen akzeptieren müssen, dass den Eliten weltweit dieser Wunsch, den ich mit den meisten einfachen Menschen teile, egal ist.

Die aktuelle Situation

In ganz Europa schlägt die moralische Empörung über den Einmarsch Russlands in die Ukraine derzeit hohe Wellen. Die von regierungsnahen Medien geschürte Ablehnung Russlands in den letzten 2 Dekaden ist in unserer liberalen, toleranten Gesellschaft innerhalb nur weniger Tage in einen offenen Russenhass umgeschlagen, der fast schon eine Pogromstimmung genannt werden muss. Immerhin werden in Europa seit einigen Tagen Russen körperlich bedroht, öffentlich diffamiert, beruflich diskriminiert und ihr Besitz beschädigt, eingefroren, beschlagnahmt oder sogar enteignet. Menschen, die vor 2 Wochen noch nicht wussten, wo die Ukraine liegt, schlagen plötzlich auf alles ein, was russisch ist. Aber der normale Russe kann ja nichts dafür, wenn die Regierung Russlands die Entscheidung trifft, ein anderes Land anzugreifen. Auch Deutschland macht da keine Ausnahme – im Gegenteil: Es schreit mit am lautesten, fordert die härtesten Sanktionen. Zur Begründung wird selbst das eigentlich schon entsorgte Völkerrecht wieder aus der Tonne gezogen. Während es vor wenigen Tagen noch als Sakrileg galt, gegen Corona zu demonstrieren, weil man sich dann mit den Nazis gemein machte, gibt es derzeit eine politisch abgesegnete Querfront mit ultranationalistischen Ukrainern, weil es ja gegen Russland geht – und da müssen alle rechtschaffenden Menschen, egal welcher politischer Coleur, zusammenstehen. In jedem anderen denkbaren Krieg – beispielsweise gegen Frankreich – würde man als zivilisiertes Land den Gegner immer noch als Mensch achten und ihm gegenüber bestimmte soziale Umgangsregeln einhalten, doch Russland gegenüber brechen alle Dämme. Warum ist das so?

In früheren Jahrhunderten bis hin zum 1. Weltkrieg, speziell zur Oktoberrevolution, waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland deutlich besser, mit einem regen personellen Austausch, gerade auch unter den Eliten. Katharina die Große ist da nur die Spitze des Eisberges. Außerdem hat Russland Deutschland nie angegriffen, seit Napoleons Russlandfeldzug aber mehrmals befreit und zuletzt in die Wiedervereinigung entlassen. Eigentlich müsste Deutschland also dankbar sein und aufgrund seiner Geschichte alles dafür tun, um den Konflikt friedlich zu lösen. Stattdessen beschließen wir Sanktionen, die nicht nur Russland schaden, und liefern schwere Waffen an die Ukraine, die den Krieg vermutlich nur verlängern und auf beiden Seiten viele zusätzliche Leben kosten werden.

Wie kommt es also, dass Medien und Regierung, die ansonsten permanent auf political correctness achten und Wert darauf legen, die kleinste Randgruppe zu inkludieren, gegenüber Russland ganz andere Maßstäbe anlegen? Plötzlich wird über Russland und Wladimir Putin in einer Art geredet, die jeden zivilisatorischen Anstand vermissen lässt. Dabei wird dieses vieldimensionale Land, das ähnlich wie Deutschland eine tiefe Tradition in Kunst und Wissenschaft hat, auf eine einzige Person verkürzt, die zu einem hitlerähnlichen Diktator stilisiert und völlig entmenschlicht wird. So mancher Journalist fühlt sich berufen, eine psychopathologische Ferndiagnose über diese Person abzugeben, ohne jemals auch nur eine einzige Rede von ihm gelesen zu haben. Das alles sagt einem Psychologen mehr über Deutschland als über das besprochene Subjekt.

Natürlich war die Tendenz schon in den letzten Jahren vorhanden. Es begann in dem Moment, als klar wurde, dass der neue Präsident der Ausplünderung seines Landes, wie es unter seinem Vorgänger Boris Jelzin normal war, Einhalt gebieten würde. Ab diesem Moment sprach man vom demokratisch gewählten Präsidenten Russlands als „Machthaber“ oder „nationalistischer Autokrat“, der sein Volk „unterdrückt“ und ähnlich – so als ob er der neue Zar wäre und es in Moskau kein Mehrparteien-Parlament nach westlichem Vorbild gäbe. Der Ton verschärfte sich mit der Sezession der Krim, die in den Medien übereinstimmend als Annexion interpretiert wurde. Doch jetzt ist die latente Russophobie in offenen Hass umgeschlagen, angefeuert durch einen massiven Empörungsjournalismus, und schließt auch große Teile der ehemals systemkritischen Linken mit ein. Man spricht vom „irren Despoten“ und vom „Massenmörder“, der „eiskalt“ das Völkerrecht gebrochen hat und jede Entscheidung selbstherrlich allein fällen würde. Man vergleicht den Überfall auf die Ukraine mit dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Welt. Unsere Außenministerin versteigt sich dahin, Russland wirtschaftlich „ruinieren“ zu wollen – das würde richtig „teuer“ werden! Bundeskanzler Scholz nennt Putins Völkermord-Vorwurf an den Russen in der Ukraine „lächerlich“ und hält mit dem Beifall aller(!) Parteien eine militaristische Ermächtigungsrede im Bundestag: „Putin, der Kriegstreiber“, „skrupellos“, der die Ukraine „von der Weltkarte tilgen will“. Als Sahnehäubchen zaubert er noch schnell 100 Milliarden für die Rüstung aus dem Hut – was hätten sich die unterbezahlten Sozialberufe über einen Bruchteil dieser Summe gefreut! Damit liegt Deutschland mit seinen Rüstungsausgaben nun noch vor Russland. Anstatt „Von deutschem Boden soll nie wieder ein Krieg ausgehen!“ heißt es jetzt: „Ab morgen wird zurückgeschossen!“. Und die EU öffnet alle Grenzen für flüchtende Ukrainer – wir werden auch das noch schaffen.

Die Entwicklung der letzten zwei Dekaden

Jeder, der das Kriegsgeschehen beobachtet, weiß, dass es im Gegensatz zu Flächenbombardements der NATO in Jugoslawien und im Irak bisher noch zu keinem in der Ukraine gekommen ist, dabei wäre es der russischen Luftwaffe sicher ein Leichtes, das Land in kürzester Zeit einfach plattzumachen. Wladimir Putin hat angekündigt, dass es nicht um die Eingliederung der Ukraine in die Russische Föderation geht, sondern um eine begrenzte militärische Aktion zur Demilitarisierung und Entnazifizierung. Er betonte auch, dass die Angriffe nur militärischen Zielen dienen, die Zivilbevölkerung geschont und ukrainische Soldaten achtungsvoll behandelt werden sollen – also Regeln, die für einen Krieg eigentlich nicht rücksichtsvoller sein könnten. All das wird hierzulande bewusst ignoriert oder als Propaganda abgetan. Die Wahrheit stirbt im Krieg immer zuerst, das weiß man seit Lord Ponsonbys 10 Regeln der Kriegspropaganda. Dabei hat Europa – allen voran auch Deutschland – 8 Jahre lang weggeschaut, als ultranationalistische Kräfte aus der Ukraine einen Apartheidstaat gemacht haben und auch alle Bemühungen hintertrieben, das Problem mit den abtrünnigen selbsternannten Volksrepubliken auf diplomatischem Wege im Rahmen des Minsk-II-Vertrages zu lösen. Einen Versuch, sich in das russische Gegenüber hineinzuversetzen und seine Perspektive einzunehmen, gab es nur von denen, die keine Macht haben – vorzugsweise einigen Linken – während von den herrschenden politischen Institutionen nur Forderungen an Russland formuliert wurden, was dieses tun müsse, um vom Westen freundlich als Vasall akzeptiert zu werden.

Wenn es um militärische Interventionen geht, müssten Europa und die USA eigentlich brav den Mund halten – immerhin haben sie in den letzten 20 Jahren selbst so viele völkerrechtswidrige Kriege geführt, dass es ihnen nicht anstehen dürfte, Putin schon nach 6 Tagen einen „Massenmörder“ und „Kriegsverbrecher“ zu nennen: Wer selbst im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen schmeißen. Doch hat die Doppelmoral auch in Deutschland eine lange Tradition.

Seit der Gründung der BRD hat dieses Land, obwohl es aufgrund seiner Geschichte aufs Höchste zum Frieden verpflichtet wäre und das auch im Grundgesetz verankert ist, mit unterschiedlichen Maßstäben gemessen: Kriege der eigenen Verbündeten, vor allem der „Schutzmacht“ USA, wurden verharmlost, Kriege des politischen Gegners dramatisiert. Natürlich wird jeder die eigenen Untaten schönreden und die des Gegners deutlich schwerer gewichten, das tut man schon aus Gründen der Psychohygiene. In den letzten 20 Jahren wurde still und heimlich das Völkerrecht aus dem westlichen Sprachgebrauch entsorgt und durch „regelbasierte Ordnung“ ersetzt, ein Euphemismus für das „Recht des Stärkeren“. Auch das Grundgesetz wurde Schritt für Schritt ausgehöhlt. Das ermöglicht es, dass nun auch deutsche Soldaten wieder in aller Welt mitmarschieren dürfen. Proteste gegen die Kriege des eigenen Lagers gab es von offizieller Seite kaum, von Sanktionen ganz abgesehen. Das „Nein“ Gerhard Schröders zum Irakkrieg war schon das höchste der Gefühle, wozu sich (West-)Deutschland in seiner Nachkriegsgeschichte hat hinreißen lassen (und das vermutlich vorrangig aus wahltaktischen Gründen). Darüber hinaus haben lediglich ein paar linke Intellektuelle immer mal den Finger gehoben und harmlos-hilflos „dududu“ gemacht oder sind folgenlos zu Ostermärschen auf die Straße gegangen, wie bei allen westlichen Völkerrechtsbrüchen seit dem Koreakrieg.

Seit 9/11 hat der Opportunismus in der gesteuerten öffentlichen Meinung noch einmal extrem zugenommen, der alles rechtfertigt, was man selbst tut, da man ja per se der „Gute“ ist. Auf der anderen Seite wird jeder Schritt des politischen Gegners dämonisiert, weil dieser ja sowieso zur „Achse des Bösen“ gehört. Da darf man auch jenseits des Völkerrechtes ungestraft draufhauen, wovon im Nahen Osten ausgiebig Gebrauch gemacht wurde. Doch war die Berichterstattung über Saddam Husseins Einmarsch in Kuwait oder Baschar al-Assads Krieg gegen die islamistischen Rebellen in Syrien harmlos gegenüber dem Sturm, der gerade gegen Russland losgebrochen ist. Doch was ist der Grund jenseits der russischen Frechheit, es zu wagen, gegen die Verteidiger der „westlichen Werte“ aufzubegehren, in Deutschland auf eine nie dagewesene Weise jedes Maß zu verlieren und in eine kollektive Hetze gegen Russland zu verfallen? Wieso wird Wladimir Putin moralisch noch unter den Taliban angesiedelt?

These 1: Abspaltung

Die alte BRD in den Grenzen der 3 westlichen Besatzungszonen hat den Faschismus nur unvollständig aufgearbeitet und den Rest abgespalten!

Während sich bis heute jeder Linke dafür schämt, was Stalin, Mao und Pol Pot im Namen des Kommunismus angerichtet haben – immerhin wird es ihnen von ihren Gegenspielern bei jeder Gelegenheit als „Blüten des Kommunismus“ unter die Nase gerieben – hat es die westliche Propaganda erfolgreich geschafft, so zu tun, als ob Kapitalismus und Faschismus nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun hätten! Als ob Nazideutschland die individuelle Erfindung eines Machtneurotikers namens Adolf Hitler und als solches eine zufällige Entgleisung und nicht das Ergebnis imperialistischen Profitstrebens und westlicher Geopolitik gewesen wäre. Die Propaganda geht teilweise sogar so weit, zu behaupten, dass der Name „Nationalsozialismus“ es ja schon nahe lege, dass er eigentlich eine linke(!) Despotie wäre. Es gibt also eine völlige Abspaltung des Faschismus im bundesdeutschen, spätkapitalistisch geprägten Kollektivbewusstsein: Wir haben damit nichts zu tun!

In Wirklichkeit war das 3. Reich natürlich die Organisationsform des deutschen Großkapitals und müsste daher „Hitlerkapitalismus“, „Hitlerimperialismus“ oder „Nationalkapitalismus“ heißen, wie man richtigerweise auch von Mussolinikapitalismus, Francokapitalismus und ähnlichem sprechen müsste! Nach dem 2. Weltkrieg wurden ein paar Exponenten des 3. Reiches in den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen geopfert, aber die zweite Riege der NSDAP-Kader durfte mit Billigung der Besatzungsmächte die politischen Institutionen der Bundesrepublik (Justiz, Militär, Politik) aufbauen. Die gesamte wirtschaftliche und politische Elite war mit ehemaligen Mitgliedern der NSDAP durchsetzt. Das Konterfei Hans Globkes, der Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze war und der erster Nachkriegs-Chef des Bundeskanzleramtes wurde, hängt immer noch im Kanzleramt. Ähnliche Beispiele gibt es viele. Lieber Altnazis als Linke! Banken und Konzerne, die von Faschismus und Krieg profitiert hatten, existierten in den westlichen Besatzungszonen weiter und wurden durch den Marshallplan wieder in Stellung gebracht. Und während in Westdeutschland mit amerikanischem Geld das Wirtschaftswunder erblühte, übernahm die DDR die Reparationszahlungen an Russland.

Dass die alten Mächtigen in der neuen BRD alles tun würden, ihren eigenen Anteil an der Katastrophe des 2. Weltkrieges aus dem öffentlichen Bewusstsein zu tilgen, sollte jedem einleuchten. Dafür war die sprachliche und gedankliche Trennung von Faschismus und Kapitalismus ein überaus nützliches Werkzeug unter vielen. So kann man es kaum dem normalen Bürger aus den Altbundesländern anlasten, wenn er unfähig ist, den Faschismus als die Extremform des Kapitalismus zu erkennen, sondern beide für zwei unvereinbare Pole hält: hier die kapitalistische Freiheit – dort die faschistische Despotie (Sie dürfen sich jetzt gerne selbstkritisch hinterfragen). In der DDR wurde die Verbindung zwischen beiden immer gesehen, doch seit der „Wiedervereinigung“ wird in den Schulen natürlich auch das altbundesdeutsche Narrativ gelehrt. Selbst junge Linke im Osten glauben zunehmend, dass die USA Deutschland vom Faschismus befreit hat und der Russe (mit-)schuldig am Krieg war.

These 2: Verdrängung

Die deutsche Dämonisierung Russlands beruht auf einer Mischung aus Antikommunismus und der verdrängten Schuld am Völkermord an 27 Millionen Russen.

Heutzutage wird in der Bundesrepublik jedes Jahr und zu Recht dem Holocaust und der Vernichtung der Sinti und Roma gedacht. Dieser Teil der Schattenarbeit wurde also geleistet. Die Unterteilung in Über- und Untermenschen nach rassistischen Gesichtspunkten ist in einer globalisierten Welt allerdings schon lange nicht mehr cool – Kontostand und Bekenntnis zu westlichen Werten sind für die Sortierung von Oberschicht und Fußvolk völlig ausreichend und die Eliten aller Länder verstehen sich bestens.

Was aus der Schuld- und Gedenkkultur völlig herausfällt, sind zwei andere Zielgruppen der Nazis: Kommunisten und Slawen. Die Russen liefen bei Adolf Hitler unter „slawische bolschewistische (= kommunistische) Barbaren“, den Affen näher als den Menschen. Dieses Bild wurde von den Medien nach 1933 überall verbreitet. Die Weiten Russlands waren das, was das „Volk ohne Raum“ unter Ausrottung der dortigen Bevölkerung erobern wollte. Dieses Ansinnen erfüllt übrigens ganz klar den Tatbestand des Völkermordes, weshalb es nicht wundern darf, wenn Russland da sehr sensibel ist.

Die andere Komponente ist der Bolschewismus als der Versuch einer alternativen, kooperativen Wirtschaftsweise. Der Kommunismus hat eine Parallele im kooperativen Grundprinzip der „asiatischen Produktionsweise“ (Rudolf Bahro), weshalb vermutlich ausgerechnet Russland und China zum Vorreiter des Sozialismus wurden, wenn es auch aufgrund des ökonomischen Entwicklungsstandes dort nur zu einer feudalen Variante reichte. In seinem Anspruch, das auf Konkurrenz und Profit beruhende Wirtschaftssystem überwinden zu wollen, ist der Kommunismus ab seiner Entstehung der Erzfeind des Kapitalismus weltweit. Dieses Feindbild prägte auch die BRD seit ihrer Gründung, wie das Verbot der KPD 1956 und später die Berufsverbote für Linke sowie der Kalte Krieg gegen den Ostblock belegen.

Die Russen verbinden also zweierlei Feindbilder in Personalunion: eine „minderwertige“ Rasse UND den Kommunismus, wobei Letzterer bis heute als Feindbild aktuell ist. Das verhinderte es, die versuchte Ausrottung der Russen wie andere Formen des Völkermords anzuerkennen. Die Aussage unseres aktuellen Bundeskanzlers Olaf Scholz, es wäre „lächerlich“, wenn Wladimir Putin von Völkermord spricht, reiht sich lückenlos in diese Ignoranz ein, genauso wie die Entziehung der Gemeinnützigkeit für den VVN (Verein der Verfolgten des Naziregimes). Während andere rein rassische Feindbilder, beispielsweise gegenüber den Franzosen oder dem jüdischen Volk, weitgehend aufgelöst werden konnten, blieb das Feindbild Russland unter der dünnen Tünche einer demokratischen Umgestaltung bis heute im kollektiven Unbewussten Deutschlands bestehen: Unsere Regierung feiert jährlich die Landung in der Normandie, gedenkt in Yad Vashem in Jerusalem der 6 Millionen ermordeten Juden – aber keine bundesdeutsche Regierungsdelegation fuhr jemals nach Moskau, wenn dort jährlich der 27 Millionen Kriegstoten – überwiegend Russen – gedacht wird. Willy Brandt hat es nur bis zum Kniefall in Warschau geschafft, mehr war ihm leider nicht vergönnt.

Auch wenn Russland unter Boris Jelzin von US-Beratern schon längst an den neoliberalen Weltkapitalismus angepasst wurde, ist Kooperation immer noch tief im kollektiven Bewusstsein von Russland bis China verwurzelt. Das drückte sich im immer wieder an Westeuropa geäußerten Wunsch nach Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Ost und West aus, von Gorbatschow, Jelzin und viele Jahre lang auch von Putin vorgetragen. Der Westen, sich als Sieger des Konkurrenzkampfes zwischen Ost und West wähnend, kann nur in Hierarchien denken, wo jedes Land seinen Platz unterhalb des Hegemons hat und Russland als „Regionalmacht“ (Barack Obama) einordnete. Selbst die vielgepriesene Demokratie erzeugt eine Hierarchie zwischen Gewinnern und Verlierern einer Wahl. Eine Kooperation auf Augenhöhe ist in diesem System nicht vorgesehen, auch nicht unter den westlichen Staaten. Demzufolge ließ der Westen die Russen abblitzen: „Ihr dürft Euch unterordnen, uns eure Rohstoffe schenken – eure Sicherheitsinteressen interessieren uns nicht!“ Und nach einer Schamfrist von einigen Jahren ordnete sich auch der frischvereinigte US-amerikanische Satellitenstaat Deutschland wieder in den westlichen Chor ein und mischte kräftig mit bei der NATO-Osterweiterung, bei der Abwertung Putins für seine an russischen Interessen orientierte „renitente“ Politik und beim Putsch in der Ukraine 2014.

These 3: Projektion

Deutschland braucht die Projektion seiner eigenen Schatten zum Abbau innerer Spannungen.

Wenn ich sehe, wie mit Schaum vor dem Mund Russland und sein Präsident verbal immer weiter in die Nähe von Hitlerdeutschland geredet werden, dann ist das meines Erachtens nichts anderes als eine Projektion, um die Verdrängung der eigenen Geschichte nicht wahrnehmen zu müssen! Man leugnet etwas bei sich selbst und unterstellt es dem Gegenüber. Das entlastet. Der Sieger schreibt zwar die Geschichte in seinem Sinne – aber er darf nicht erwarten, dass seine Verbrechen auch aus dem (kollektiven) Unbewussten gelöscht werden. Und alles, was verdrängt wird, bahnt sich irgendwann wieder auf irgendeine Weise den Weg ans Licht – zum Beispiel als Projektion. Die aktuelle Dämonisierung Russlands dient damit dem Abbau innerer Spannungen, die durch die Verdrängung erzeugt wird, und gleichzeitig der nationalen Identitätssicherung: Wir sind besser als die!

In der Zusammenschau wird deutlich, dass Deutschlands Eliten aufgrund ihrer Siegerattitüden, ihrer wirtschaftlichen Interessen und ihrer transatlantischen Abhängigkeit es nicht nur nicht verstehen WOLLEN, sondern aufgrund des Verdrängens der eigenen Schuld vermutlich auch nicht verstehen KÖNNEN, dass ein Land, das das Trauma von 27 Millionen Toten trägt, keine Lust hat, die NATO als westliches Militärbündnis direkt vor der Haustür zu haben. Stattdessen gehen sie in die Projektion und tun so, als ob ihre eigene Vergangenheit – der totalitäre Aggressor – Russlands Gegenwart wäre.

Dabei ist die Ablehnung der NATO durch Russland nicht unbegründet. Immerhin hat der westliche Imperialismus in den letzten 20 Jahren mindestens 7 völkerrechtswidrige Kriege aus wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen geführt. Natürlich hat der Wolf Kreide gefressen und kommt in seiner Selbstdarstellung als Friedensengel daher. Aber jeder, der Marx gelesen hat, weiß, dass der Kapitalismus zur Akkumulation des Kapitals 3 Hauptwege hat: billige Rohstoffe, billige Arbeitskräfte, neue Absatzmärkte. Dafür schreckt er vor nichts zurück. Nachdem der Versuch des Westens, sich die Rohstoffe Sibiriens auf friedliche Weise einzuverleiben, dank Putin gescheitert ist, muss Russland davon ausgehen, dass er es sich mit Gewalt holt – dafür ist sein Rohstoffreichtum einfach zu verlockend. Um das zu erkennen und darauf zu reagieren, muss man kein „durchgeknallter Diktator“ sein – dafür reicht rationales Denken und Verantwortungsbewusstsein im Interesse des Volkes, das man vertritt, völlig aus. Das rechtfertigt nicht den Bruch des Völkerrechts, den Russland nun seinerseits begangen hat, macht ihn aber nachvollziehbar. Obwohl Russland versucht, auf die westlichen Sanktionen symmetrisch zu antworten, hält es sich in seiner Propaganda, die es natürlich auch betreibt, vornehm zurück: Verbale Entgleisungen á la „Killer“, „Hitler“ oder „Monster“ wird man bei Wladimir Putin und anderen russischen Persönlichkeiten – anders als bei unseren Politikern – nicht finden, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart, dafür sind diese „Barbaren“ dann doch zu kultiviert.

These 4: Wiederholungszwang

Solange Deutschland den Faschismus nicht vollständig aufgearbeitet und integriert hat, läuft es Gefahr, immer wieder in dasselbe Muster zu geraten.

Projektion ist nicht die einzige mögliche Reaktion auf die Abspaltung und Verdrängung der deutschen Geschichte. Ein anderer psychischer Mechanismus ist der Wiederholungszwang: Alles, was nicht integriert wurde, wird so lange wiederholt, bis es bewusst begriffen und integriert worden ist. So wundert es nicht, dass seit Corona der Totalitarismus in neuem Gewande aufersteht und Deutschland dabei den Scharfmacher in Europa gibt. Im Zuge dessen ähnelt die deutsche Gesellschaft immer mehr dem, was sie Russland vorwirft: Untertanengeist und Blockwartmentalität blühen, der Meinungskorridor verengt sich zunehmend, alternative Medien werden diffamiert oder verboten und die Ideologie einzelner Interessenvertreter bestimmen in offenbarungsreligiöser Weise die öffentliche Meinung, wogegen der rationale Diskurs der Meinungsvielfalt weitgehend unterdrückt wird. Die Gesellschaft wird holzschnittartig in Gut und Böse unterteilt und die Politik wird immer undemokratischer. Das Land wurde in den letzten Jahren hauptsächlich von einer Einzelperson dominiert, die ähnlich lange an der Macht war wie Wladimir Putin, und niemand kann garantieren, dass es unter Olaf Scholz anders wird. Dabei sollte man sich bewusst sein, dass es in der gesamten Weltpolitik niemals um die Willkür einzelner Personen geht, sondern dass diese immer nur Repräsentanten derer sind, die wirklich die Macht haben, sowie Ausdruck systemischer Mechanismen und psychischer Verstrickungen. Das heißt, dass der einzelne Politiker seiner Rolle verpflichtet ist und dieser nur eine individuelle Note verleihen, aber nicht völlig ausbrechen kann. Das gilt für J. Biden und W. Putin genauso wie für unseren Bundeskanzler. Außerdem wird das deutsche Volk schon seit vielen Jahren mental auf den nächsten Krieg vorbereitet und von nun an auch militärisch hochgerüstet. Mit Jason Brennan gesagt: Die Hooligans marschieren, die Hobbits laufen mit, und ein paar Vulkanier erheben warnend die Stimme (J. Brennan: „Gegen Demokratie: Warum wir die Politik nicht den Unvernünftigen überlassen dürfen“). Ein bisschen erinnert mich das an „Das Bildnis des Dorian Gray“: Der schöne Schein der Demokratie wird verbal noch gewahrt, doch hinter dem Schleier verzerrt sich das Gesicht immer mehr zur Fratze eines neuen (umgekehrten) Totalitarismus (nach Sheldon S. Wolin). Letztendlich ist es nichts anderes als die Wiederholung dessen, was Max Horkheimer treffend so zusammengefasst hat:

„Der Kapitalismus in der Krise wird aufrechterhalten mit den terroristischen Mitteln des Faschismus. Deshalb sollte vom Faschismus schweigen, wer nicht auch vom Kapitalismus reden will.“

Erstaunlicherweise sind die (älteren) Ostdeutschen – selbst wenn sie Gegner des DDR-Systems waren – bei der Dämonisierung Russlands deutlich zurückhaltender und differenzierter. Vermutlich war die Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone zumindest auf Russland bezogen effektiver: Die Nazis und Kapitalisten waren vor den Russen, soweit es ihnen möglich war, in die westlichen Besatzungszonen geflüchtet. Ihr Besitz wurde eingezogen und verstaatlicht. Statt Altnazis übernahmen Linke den Aufbau einer kooperativen Gesellschaft nach stalinistisch-russischem Vorbild. Daran kann man berechtigterweise viel kritisieren, was letztendlich auch zur Wende führte, doch zumindest wurde der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Faschismus niemals weggelogen. Jedes Kind wusste, welchen Blutzoll Russland im 2. Weltkrieg gebracht hatte und kannte das sowjetische Ehrenmal in Berlin-Treptow. Der Besuch einer KZ-Gedenkstätte gehörte in den oberen Klassen zum Pflichtprogramm, wo aller Ermordeten gedacht wurde, auch der Kommunisten und Russen. Und natürlich kennen viele Menschen in der ehemaligen DDR Russland auch aus eigener Anschauung und wissen, dass ein Schwarz-Weiß-Bild zu kurz greift. Möglicherweise spielt es für den Unterschied in der Reaktion auf die aktuelle Situation auch eine Rolle, dass das Deutsche Reich als Ganzes vom Hitlerfaschismus von außen befreit wurde, dass es die Ostdeutschen aber allein geschafft haben, sich von der autoritären Bevormundung ihres Sozialfeudalismus zu lösen. Das schafft Selbstbewusstsein. (Wer jetzt glaubt, die ostdeutschen Neo-Nazis als Gegenargument ins Feld führen zu können: Das sind überwiegend Nachwendekinder, die in den von Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ der östlichen Bundesländer groß geworden sind und von westdeutschen NPD-Kadern trainiert wurden!)

Therapievorschlag

Wenn ein Individuum schwere Verletzungen oder schuldhafte Handlungen abspaltet oder verdrängt, wird es in Zukunft neben der Projektion auch viel psychische Energie dafür aufwenden müssen, das Verdrängte im Unbewussten zu halten, um es ja nicht bewusst werden zu lassen. Projektionen dienen dabei nur als kurzfristiger Blitzableiter um Spannung abzubauen, ohne die Verletzung wirklich zu heilen. Das heißt, dass dieser Mensch nicht fähig ist, wirklich frei und selbstbestimmt zu leben. Psychotherapie versucht, diesen Prozess umzukehren, indem das Individuum sich dem Verdrängten stellt, es bewusst werden lässt, die damit verbundenen Gefühle fühlt – meist Schmerz, Schuld und Scham – und das Verdrängte als Teil seiner eigenen Lebensgeschichte integriert. Dadurch wird dieser Mensch selbstbewusster, freier und psychisch resistenter gegenüber neuen Verletzungen.

Ich gehe davon aus, dass die gleichen Grundgesetze, die eine einzelne Person determinieren, grundsätzlich auch für die kollektive Psyche einer Gesellschaft gelten. Daraus lässt sich ableiten, dass auch Deutschland als Ganzes auf Dauer nicht umhinkommen wird, sich der oben beschriebenen Abspaltung und Verdrängung zu stellen. Das heißt, dieses Thema muss durch eine öffentliche Auseinandersetzung in das eigene Bewusstsein geholt und als Teil der deutschen Geschichte anerkannt werden. Das betrifft nicht nur die Fehlinterpretation des Faschismus als zufälliges Ereignis oder den Völkermord an den Russen, sondern auch die jahrzehntelange Verdrängung dieser beiden Fakten in der Nachkriegszeit. Neben den Medien hätte auch die Regierung eine Verantwortung, indem sie beispielsweise im eigenen Land die Gedenkstätten pflegt, den 8. Mai als Tag der Befreiung Deutschlands würdigt und mit einer offiziellen Delegation auch in Russland daran teilnimmt. Darüber hinaus sollte Deutschland anerkennen, dass es nicht nur Israel, sondern auch Russland gegenüber eine besondere Verantwortung hat. Da das Thema ein Teil der jüngeren deutschen Vergangenheit ist, sollte es ähnlich wie der Holocaust Eingang in die Geschichtsbücher erhalten, um auch nachwachsende Generationen darüber zu informieren, was ein rassisch begründeter Faschismus anrichten kann.

Vermutlich wird es im ersten Moment schmerzhaft sein, mit so viel Schuld und Scham konfrontiert zu werden. Allerdings hat Deutschland es geschafft, seine Schuld und Scham dem jüdischen Volk gegenüber anzunehmen, auch den Sinti und Roma, den Polen, Franzosen und allen anderen Völkern gegenüber, über das es sich erhoben hatte – warum sollte es Russland gegenüber nicht gehen? Die DDR hat mit ihrer Erinnerungskultur bewiesen, dass man daran nicht zerbricht, sondern bewusster daraus hervorgeht. Solange das nicht geschehen ist, werden sich weiterhin sympathische Intellektuelle aus Ost und West streiten, weil sie nicht merken, dass bei aller Ähnlichkeit des Wissens jeder von ihnen der Vertreter eines anderen gesellschaftlichen Kontextes und damit eines anderen kollektiven Unbewussten ist. Doch wenn das Drama des Faschismus allen(sic!) Deutschen in seiner vollständigen(sic!) Ganzheit bewusst geworden ist, wird es diesen Streit vermutlich nicht mehr geben.

Die Erkenntnis, dass der Faschismus die extremste Form des Kapitalismus ist, wird die Menschen der aktuellen Wirtschaftsweise gegenüber kritischer werden lassen und zugleich dem Neofaschismus vorbeugen. Die Einsicht, dass eine auf Konkurrenz aufbauende Wirtschaftsform im Endeffekt niemals dem Leben als Ganzem dienen kann, würde zur Suche nach einer Alternative führen, die unter Berücksichtigung der Erfahrungen des Ostblocks ganz bestimmt nicht noch einmal in eine Zwangskollektivierung führen würde, sondern sich in eine Richtung bewegen könnte, die individuelle und kollektivistische Aspekte integriert, wie es beispielsweise die Gemeinwohlökonomie tut.

Deutschland ist zwar inzwischen wirtschaftlich wieder sehr stark, hat aber seine außenpolitische Verantwortung weitgehend an die EU und die NATO delegiert oder lässt sich gleich ganz von den USA bevormunden/vertreten. Eine vollständige Integration der Schatten der Vergangenheit würde auch dazu führen, wieder in die eigene Kraft zu kommen und ein gesundes nationales Selbstwertgefühl zu entwickeln, fern völkischer Überheblichkeit oder nationaler Selbstzerknirschung. Aus dieser Kraft heraus wäre es möglich, wirklich verbindend zwischen Völkern zu wirken oder auch die eigenen Interessen gegen den Vormund USA selbstbewusst zu vertreten. Dazu gehört in erster Linie ein unbedingter Wille nach Frieden, der ganz sicher nicht mit einer hemmungslosen Aufrüstung zu erreichen ist. Außerdem würde es überflüssig, den eigenen Schatten auf andere Völker oder deren Präsidenten zu projizieren, sondern diesen selbst in Zeiten eines Konfliktes mit Achtung und rationaler Sachlichkeit zu begegnen. Nach der Rücknahme der Projektion könnte Deutschland das tun, was aus seiner Geschichte heraus im Moment seine vornehmste Aufgabe wäre: zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. Die Verletzungen zwischen diesen beiden Ländern scheinen deutlich älter und komplizierter zu sein als nur der Putsch von 2014. Die tatsächliche Aufarbeitung der deutschen faschistischen Vergangenheit würde auch dazu führen, die Asow-Bataillone, die Bandera-Verehrung und die juristische und faktische Diskriminierung ethnischer Minderheiten in der Ukraine als das zu benennen, was es sind: faschistische Tendenzen – anstatt dieses von korrupten Oligarchen dominierte Land weiter als EU-tauglichen, demokratischen Musterstaat zu idealisieren.

Aussichten für die nahe Zukunft

Die Gegenwart sieht leider nicht so rosig aus. Deutschland als Ganzes hat meines Erachtens diese kollektive Selbstreflexion bisher noch nicht geleistet und stattdessen das, was in der DDR schon an Schattenarbeit geschehen ist, gleich mit verdrängt. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es bis heute keine eigenständige Politik macht, sondern genauso wie die Ukraine ein Spielball der USA ist. Getrieben durch seine transatlantischen Eliten, in denen – wie auch im Rest des Volkes – die faschistische deutsche Vergangenheit unbewusst weiter ihr Unwesen treibt, rennt es genau in die Gegenrichtung des Friedens: in einen neuen großen Krieg. Dafür wirft unsere Regierung alle antimilitaristischen Grundsätze, die die Väter des Grundgesetzes nach zwei von Deutschland verursachten Weltkriegen nicht zufällig in die Verfassung geschrieben hatten, über den Haufen. Christian Lindner (FDP) träumt von der „schlagkräftigsten Armeen Europas“ und Friedrich Merz als aktueller CDU-Vorsitzender redet schon vom „Einsatz der NATO gegen Russland“. Wieder einmal soll durch Deutschland die Welt genesen – dieses Mal an westlichen Werten. Da kann ich nur hoffen, dass unsere politischen Eliten Bertold Brechts berühmtes Gedicht von den 3 Kriegen Karthagos noch im Hinterkopf haben – das wäre dann der dritte!

Soweit ein paar Überlegungen aus der psychologischen Perspektive über das Verhältnis Deutschlands zu Russland. Aber möglicherweise ist es alles ganz anders oder nur meine subjektive Wirklichkeitskonstruktion, um mir Unerklärbares zu erklären – wer kann das schon genau wissen?

Titelbild: mentalmind / Shutterstock


[«*] Gotthilf Freudenreich ist das Alter Ego eines unangepassten Menschen, der in der DDR aufwuchs, mit 16 gegen die Ausbürgerung Biermanns protestierte und seitdem — in der Hoffnung auf einen besseren Sozialismus — als Dissident aktiv war. Die Wiedervereinigung erlebte er als Wechsel von sozialfeudalistischer Bevormundung zu egoistischem Irrsinn. Den Traum von einer gerechten Welt gibt er dennoch nicht auf — nur als „links“ bezeichnet er sich heute nicht mehr.


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