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Titel: Verschoben bis zum Sanktnimmerleinstag?

Datum: 8. März 2022 um 13:47 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Soziale Gerechtigkeit, Wahlen
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In Frankreich steht aktuell die Wahl des Präsidenten an. Der jetzige Präsident Emmanuel Macron, von seinem Volk President de Rich genannt, will es wieder werden. Ob Macron gewinnt, obwohl die Kritik an seiner Amtsführung und seinen Entscheidungen, oft gegen das Volk getroffen, heftig ist, hängt davon ab, dass es möglicherweise nicht gelingt, ihm einen Kandidaten einer geeinten Front progressiver Kräfte gegenüberzustellen. Einen aussichtsreichen Mann aber gibt es: Jean-Luc Mélenchon, allein, ihm fehlt der wirklich große Rückhalt weiterer linker und progressiver Kräfte. Stattdessen schielen rechtsradikale, mindestens reaktionäre Kräfte nach dem höchsten Amt im Land, und die werden eifrig unterstützt vom Großkapital, welches genau wie auch Macron alles beim Alten belassen möchte. Das existierende Alte indes – es ist eine Schande für die Grande Nation, ein Zustand voller Pein, voller Arroganz, voller Heuchelei, ein Wandel hin zum Guten – der wird verschoben bis zum Sanktnimmerleinstag? Von Frank Blenz.

Bevor der eigentliche Artikel beginnt, sei hier eine Post von meinem Gesprächspartner und Experten Sebastian Chwala vorangesetzt, der zeigt, welcher Wind gerade in Frankreich weht in Sachen Präsidentschaftswahlkampf. Chwala schreibt: „Eine neue Frechheit aus dem französischen Wahlkampf seitens Emmanuel Macrons gibt es heute zu vermelden. Wie aus dem Umfeld des Amtsinhabers zu vernehmen ist, gedenkt dieser sich keinen TV-Debatten mit seinen 11 Mitbewerbern zu stellen. Diese Formate würden dem Staatschef nicht genügend Raum für die Entwicklung seiner politischen Projekte bieten. Doch ist dies eine ziemlich perfide Ausrede, um sich politisch nicht auf den Zahn fühlen lassen zu müssen. Denn bisher liegt überhaupt kein Programmentwurf für die nächste Legislaturperiode vor. Macron versucht aktuell, allein durch seinen Amtsbonus zu punkten und sich der französischen Öffentlichkeit so weit wie möglich zu entziehen. Selbst seine Kandidatur erklärte er nicht persönlich, sondern in Form einer überlangen Presseerklärung. Macrons Strategie, sich als unnahbare Führungsperson, die demokratische Kontrollinstanzen verlacht, zu zelebrieren, könnte in der gegenwärtigen geopolitischen Krisensituation aufgehen, da sich Macron durch die Möglichkeit, die ihm sein Amt bietet, als Krisenmanager darstellen kann. Zumal alle Umfragen darauf hindeuten, dass die Mehrzahl der Franzosen keine tiefe Verstrickung des Landes in den Krieg in der Ukraine wünscht. Außerdem haben sämtliche Rechtskandidaten idelogisch und/oder finanziell in der Vergangenheit die Nähe der russischen Führung gesucht und sind deshalb argumentativ in der Defensive. Dagegen befinden sich der “grüne” Kandidat Jadot und die Sozialdemokratin Hidalgo verbal auf Eskalationskurs. Beide Kandidaten dürften allerdings Mühe haben, überhaupt in die Nähe der 5-Prozent-Marke zu kommen, wie die kaum besuchten Wahlkampfveranstaltungen der Beiden zeigen.“

Die gesellschaftliche Lage in Frankreich – sie ist alles andere als stabil, friedlich, sozial, verbindend, zukunftsorientiert. Viele Menschen kämpfen sich in unserem Nachbarland (so wie zunehmend auch bei uns und in vielen Ländern Europas) Tag für Tag durch, um ihren Lebensstandard zu sichern, irgendwie würdevoll zu halten, im schlimmeren Fall wenigstens nicht ganz abzustürzen. Diese Lage zu verbessern, dafür stehen an und für sich der Präsident des Landes, die weiteren Entscheidungsträger, die dazu geschaffenen Gesetze und Regeln, das zum Wohl des Volkes getätigte Wirken der Mächtigen. Eigentum verpflichtet, Macht verpflichtet. Allein – er ist nicht vorgesehen: der große Wurf für ein wirkliches Aufatmen bei den einfachen Menschen des Landes. Aufgeatmet, gejubelt und gefeiert wird vor allem bei den Reichen, dessen Präsident Macron ist und es womöglich bleibt. Es hat ja enorme Vorteile, in deren Lage zu sein. Allein ist es mir vollkommen unverständlich, wie ein reicher, einflussreicher, schöner, chicer Mensch in Paris sein Glück finden kann, wenn er neben sich mehr und mehr Menschen sieht, denen es schlecht geht.

Gegen den Wahnsinn, der zunehmend in Schwung kommt, ist trotz allem und mutigerweise landauf landab Samstag für Samstag zu erleben, wie viele Menschen auf die Straße gehen, demonstrieren, protestieren, sich solidarisieren, eingebunden in die Bewegung der Gelbwesten (das Kleidungsstück, das zu jeder Ausrüstung eines Autos gehört und weithin sichtbar ist). Die Westen sind zum Symbol geworden, zum Signal, welches aufleuchtet: Vielerorts ist zu hören: „Nein zu diesen Verhältnissen!“

Plakativ aufgezählt sind es unter anderem diese, die Protest hervorrufen: hohe Mieten, hohe Lebenshaltungskosten, schrittweise Beschneidung der Arbeitnehmerrechte, schlechte Behandlung von Alten, Kürzungen in sozialen und kulturellen Bereichen, während die Liste der Vermögenden größer wird und deren Vermögen immer ausufernder gerät. Die Ausweitung der Befugnisse des Präsidenten – gerade in der immer noch andauernden Covid-Krise wird durchregiert, bis die Schwarte kracht – macht die Menschen auf der Straße noch wütender. Macron und seine Regierung agiert. Inklusive Demütigung, Erpressung, Ausgrenzung und Existenzgefährdung von Kritikern, Gegnern und Skeptikern versus die vielfältigen Maßnahmen bis hin zum verhassten Pass Sanitaire – der Impfpass, welcher die Eintrittskarte zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ist. In Frankreich wird der überaus hart und unbarmherzig umgesetzt, auch wenn es im Alltag scheint, als trügen die meisten Franzosen diese Politik mit, es ist eher die Resignation und die Ohnmacht, die es ermöglicht. Es gehört zum bösen Drama, auch zu sagen, wie brutal die Macht durch Macrons Infrastruktur durchgedrückt wurde und wird, dies schon mal mit Sonderpolizei (Gendarmerie und CRS-ORDNUNGSPOLIZEI) in Form zum Beispiel massiver Gewalt gegen Demonstranten. Selbst geächtete Waffen kommen da zum Einsatz, das Zielen der Schützen auf die Gesichter der Demonstrierenden mit der Absicht, Augen zu treffen und zu verletzen, eingeschlossen. Ein Beitrag (von vielen) – hier von der TAZ – beschreibt die Brutalität, die bisher zu keinen Konsequenzen für die Täter und Befehlsgeber – einschließlich Macron – führten.

Polizeigewalt in Frankreich
Hände zerfetzt, Augen weg
Mit Tränengasgranaten und Hartgummigeschossen malträtiert Frankreichs Polizei Demonstranten. Regeln werden missachtet (TAZ)

Auszug aus dem Artikel:

Fotograf die Hand abgerissen

Am Samstag hat indes ein weiterer Demonstrant bei der Explosion einer Polizeigranate eine Hand verloren, er wurde zudem am Kopf verletzt. Der 30-jährige Schlosser Sébastien M. war als Fotograf der Gilets jaunes ganz vorn dabei, als ein paar Hitzköpfe eine für Renovierungsarbeiten dienende Bretterwand vor dem Gebäude der Nationalversammlung zu demontieren versuchten. Die Polizei antwortete mit Tränengasgranaten.

Hat Sébastien M. eine dieser Granaten in die Hand genommen, oder wurde er direkt getroffen? Laut Augenzeugen waren seine Verletzungen schrecklich. Eine Untersuchung soll nun klären, wie und warum er vermutlich von einer Granate vom Typ GLI-F4 verletzt wurde.

Diese wird in Europa nur von Frankreichs Polizei bei Kundgebungen verwendet. Sie enthält 25 Gramm TNT, damit bei der Detonation nicht nur das Tränengas entweicht, sondern auch ein gewaltiger Knall erzeugt wird.

Einmalig in Europa

Auch der Einsatz von Hartgummigeschossen durch Frankreichs Polizei wird aufgrund der zahlreichen Verletzungen heftig kritisiert. Diese werden aus Waffen des Typs LBD-40 abgefeuert und unterscheiden sich vom in anderen Ländern bekannten Gummischrot.

Laut Vorschrift dürfen die Patronen mit 4 Zentimeter Durchmesser nicht auf Kopfhöhe und nicht auf kurze Distanz verschossen werden. Diese Regel wird aber, wie auf Videos zu sehen ist, ständig missachtet.

Laut dem Magazin Nouvel Obs wurden diese „Hartgummi-Granatwerfer“ in der überwiegenden Zahl von rund 9.000 registrierten Fällen auch nicht von darauf spezialisierten Einheiten der Gendarmerie oder CRS-Ordnungspolizei eingesetzt, sondern von aus diversen Polizeibeamten gebildeten Adhoc-Formationen.

Falsche Munition im Einsatz

Außerdem verwendet die französische Polizei laut Angaben von Brügger & Thomet, dem Schweizer Hersteller der LBD-40 (auch als GL06 angeboten), nicht die mit geschäumtem Kunststoff versehene Originalmunition „SIR“, sondern ein Produkt der Konkurrenz.

Auf taz-Anfrage erklärt der Waffenfabrikant: „Bei Nutzung von Munition von Drittherstellern kann die Präzision beeinträchtigt werden und das Verletzungsrisiko steigt signifikant.“

Trotz aller Einwände hat Frankreichs oberstes Verwaltungsgericht vor wenigen Tagen eine Klage der Menschenrechtsliga gegen die LBD-40 abgewiesen und damit für deren weiteren Einsatz grünes Licht gegeben.

Dem nicht genug, was so alles im Land von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ (französisch Liberté, Égalité, Fraternité) möglich ist, beweist sich mit derlei Ereignissen: Während der Lockdowns zeigten sich Uniformierte überaus aktiv und brutal gegenüber Bürgern, die sich mutmaßlich nicht an Regeln hielten, Rassismus inklusive: Man erinnert sich an den Übergriff der Polizei auf einen schwarzen Musiker, der vor dem Haus seiner Wohnung zusammengeschlagen wurde. ..

Was war geschehen?

In einem Interview mit dem französischen Nachrichtenmagazin Loopsider berichtete Michel, dass er in das Studio gegangen sei, nachdem er vor der Tür ein Polizeiauto gesehen habe. Er hatte sich zuvor unsicher gefühlt, da er sich auf der Straße ohne Atemschutz-Maske aufgehalten habe, die in Frankreich aufgrund der Corona-Pandemie überall getragen werden muss. Die Aufnahmen zeigen, wie die Tür des Studios aufgebrochen wird, worauf Michel von zwei Polizisten auf engstem Raum geschlagen und getreten wird und das über mehrere Minuten hinweg. Währenddessen soll der Produzent rassistisch beleidigt worden sein. Verstanden habe er Sätze wie: „Du schmutziger N***a.“

Nun also geht es zur Wahl. Wahlen sollten ja etwas ändern. Wäre ich Franzose, ich wäre genau wie viele Menschen in dem schönen, unseren Nachbarland ernüchtert, ohnmächtig, wütend und mir bewusst: es ändert sich nichts, auch die kommenden fünf Jahre nicht. Könnte man meinen. Es wird durchaus so sein, dass der aktuell amtierende und unbeliebte Emmanuel Macron weitere Jahre agieren darf, darüber wird in Medien der großen Gazetten, TV und Rundfunksender frohlockt. Was Wunder, ist er einer von ihnen. Macron will es nochmal wissen, selbstbewusst bis selbstgefällig hält er sich gar dazu befähigt, Jahrhundertherausforderungen zu stemmen.

Der Deutschlandfunk brachte dazu passend aktuell die Nachricht, die zugleich Macrons Botschaft, ja Eitelkeit und Arroganz verkündet:

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (AP / dpa / Jean-Francois Badias)
Dies kündigte er in einem Brief an die Franzosen an. Er sei Kandidat, um eine französische und europäische Antwort auf die Herausforderungen des Jahrhunderts zu finden, schreibt Macron. Der Brief wurde zunächst von Regionalzeitungen online veröffentlicht.
Morgen endet die Frist für Bewerberinnen und Bewerber um das Präsidentenamt, bis zu der sie die nötigen 500 Unterschriften von Bürgermeistern und Abgeordneten für ihre Kandidatur gesammelt haben müssen. Gewählt wird am 10. und 24. April. In Umfragen liegt Macron seit Wochen deutlich vor der Rechtspopulistin Le Pen und dem rechtsextremen Politiker Zemmour. Nach derzeitigem Stand könnten Macron und Le Pen wie bereits 2017 in einer Stichwahl gegeneinander antreten.

Interessant wie entlarvend ist, dass die Geschichten von staatlich angeordneter Gewalt – siehe taz und Video – und die DLF-Aussage zu „Macron – … sei ein Kandidat, um eine französische und europäische Antwort auf die Herausforderungen des Jahrhunderts zu finden“ – in Gegenüberstellung einen Angst machenden Widerspruch ergibt und die Frage aufwirft: „Kann so ein Mann mit dem Hang zu Gewalt und Machtmissbrauch eine europäische Antwort geben – Europa, der Kontinent der Menschen und Völker, des Friedens, der Werte usw.?

Der Wahlkampf in Frankreich, für deutsche Beobachter wirkt der wie ein einerseits transparentes Schaulaufen, andererseits wie ein innerfranzösisch scheindemokratischer Akt, scheinen die Karten doch schon verteilt, was die Chancen für den Einzug in den Elysee anbelangt. Macron ist kein Mann aus dem Volk, er stammt aus den Kadern der Elite-Unis und feinen Internate. Ein Mann aus dem Volk – seit zig Jahren ist das keine Option für das wichtigste Amt im Staat. Liberté, Égalité, Fraternité – die drei Versprechensworte stehen würdevoll an Eingangsportalen wichtiger Gebäude das Landes, als Deutscher staunt man schon mal im Vorbeigehen über solche Versprechen und möchte die Atmosphäre für wahr halten, dass sie in Frankreich auch gelebt werden. Gehalten werden sie nicht, stellt man dann aber immer wieder in Frankreich fest.

Der Frankreich-Kenner Dr. Sebastian Chwala, ein Politologe und Philosoph, macht er sich wie ich so seine Gedanken … Er beobachtet schon lange die französische Gesellschaft und gerade den Verlauf des Wahlgeschehens. Er konstatiert über die Umfragen: „Die neueste Umfrage des CEVIPOF-Instituts für die erste Runde der Präsidentschaftswahlen in Frankreich am 10. April ist interessant und aufschlussreich. Im Gegensatz zu den kommerziellen Meinungsforschungsinstituten ist das CEVIPOF eine wissenschaftliche Einrichtung. Der allgemeine Trend der Projektion dieses Instituts sieht aktuell Macron und Mélenchon im Aufwind, während die übrigen Kandidaten stagnieren oder sinkende Werte aufweisen. Die in dieser Umfrage hier ausgewiesenen Werte für Marine Le Pen sind die niedrigsten aller verfügbaren Daten von Umfrageinstituten, entspräche aber der negativen Tendenz des RN in den letzten beiden Jahren.“

Was Chwala positiv stimmt, ist, dass Mélenchon zulegt, dass seine Werte steigen, dass er sehr aktiv im ganzen Land unterwegs ist und viele Menschen erreicht. Sebastian Chwala gegenüber den NachDenkSeiten: „Am vergangenen Wochenende weilte er in Lyon und es kamen mehrere tausend Besucher zu seiner Wahlkampfveranstaltung.“

Chwala beobachtet auch: „In Frankreich geht der Protest gegen die herrschende Covid-Politik und die neuerlichen Verschärfungen weiter. Macrons Beleidigungen gegen jene Menschen, die sich bisher nicht für eine Impfung entscheiden konnten, dürften mit dazu beigetragen haben, dass die Beteiligung an den Protesten nach den Feiertagen wieder deutlich angezogen hat. Es bleibt aktuell, die KERNFORDERUNG DER GELBWESTENBEWEGUNG lautet: Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Beschäftigten.“

Der Experte weist darauf hin, dass es bedrohliche Tendenzen im Wahlkampf gäbe. So stellte sich zum einen die extreme Rechte Marine Le Pen als moderat dar. Macron gibt derweil den Staatsmann, der seinen Geschäften nach und somit unbequemen Wahldebatten aus dem Weg geht. Und dann steht mit Eric Zemmour ein gefährlicher Mann auf der Bühne. Chwala: „Zemmours Wahlkampftruppen bauen allerdings an der Basis nicht nur auf die Unterstützung von vorbestraften, offen faschistischen Kameradschaften. Viel wichtiger ist Zemmours Unterstützung durch das rechtskonservative vermögende Bürgertum, das seit Monaten eifrig die finanziellen Mittel für den teuren Wahlkampf zuschießt. Anwälte, Hedgefondmanager und nicht zuletzt der Medienunternehmer Bolloré, der Zemmour über sein Sendernetzwerk erst groß gemacht und dieses sukzessive zu einem weit rechts stehenden Propagandanetz umgebaut hat, stehen hinter ihm.“

Zemmour ist bei den Eliten beliebt. Warum? Er fordert Steuersenkungen, Abgabebefreiungen für Reiche. Er fordert die Rücknahme einer Verpflichtung für französische Gemeinden, mindestens 20 Prozent des verfügbaren Wohnraums in sozial geförderter Form bereitzustellen. Zemmour „glänzt“ mit Polemik gegen Minderheiten und Migranten. Klimapolitik steht ebenso nicht auf der Liste der notwendigen Aufgaben für die nächsten fünf Jahre.

Was erschreckend zu beobachten ist, und das ist kein französisches Phänomen: die aussichtsreichen Kandidaten von Macron, Le Pen bis Zemmour haben alle nicht auf dem Schirm, die soziale Krise im Land zu lösen, sie sehen diese nicht als eine Krise, sie sehen sie vielmehr als Druckmittel von Oben nach Unten. Allein der Gedanke, beispielsweise mittels einer Erhöhung der Abgaben von Reichen eine Umverteilung und Entspannung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erzielen, wird vermieden wie das Weihwasser vom Teufel.

Chwala beschreibt, wie reaktionäre Politiker ticken: „Le Pen stellt die Existenzangst der Menschen in den Mittelpunkt ihrer Agitation. Demzufolge verspricht sie Steuersenkungen auf alle Güter des Grundbedarfs, sowie Erhöhungen gewisser Sozialleistungen und Renten. Davon ausgenommen sind allerdings Erwerbslose, diese sind Teil des Feindbildes von Le Pens Fraktion. Der neue finanzielle Spielraum des Staates soll vor allen Dingen durch den Kampf gegen „Betrug und Migration“ gewonnen werden. Dass Erwerbslosigkeit und migrantischer Background nicht selten zusammenfallen, ist kein Geheimnis. Somit setzt der Rassemblement National die alte Front-National-Linie, nach der Zuwanderung letztendlich für alles gesellschaftliche Übel verantwortlich ist, fort. Das erfolgt mit dem Unterschied, dass durch die Anerkennung der Existenzängste der unteren sozialen Gruppen ein Interesse an Wirtschafts- und Sozialreformen vorgegaukelt wird. Letztendlich sollen diese Ängste allerdings kanalisiert werden, indem noch schwächere Sündenböcke gesucht werden. Kapitaleigner werden, wie sollte es rechtsaußen auch anders sein, nicht in stärkere soziale Verantwortung genommen.“

Es könnte dennoch spannend werden. So gibt es Neues aus Frankreich: Die ehemalige Präsidentschaftskandidatin der Sozialdemokraten aus dem Jahr 2007, Ségolène Royal, forderte die offizielle Kandidatin der Partei auf, ihre Kandidatur zurückzuziehen. Gleichzeitig bezeichnet sie die Wahl Jean-Luc Mélenchons als einzige sinnvolle Möglichkeit. Royal gehört eigentlich eher zum rechten Flügel der Partei, zeichnete sich in der Vergangenheit allerdings auch oft genug durch opportunistische Wendungen aus.

Der Politologe Sebastian Chwala beobachtet im Zustand der Linken in Frankreich, dass die in einem überaus engagierten Diskurs stehen, um die Herausforderungen anzunehmen, eine bessere Gesellschaft auf den Weg zu bringen: „Die Linke hat viele Transformationen erfahren. Bildeten einst reformorientierte bürgerliche Kräfte ihren Kern, rückten diese aus Furcht, ihre mitunter kleinen materiellen Vorteile gegenüber der politisch aufstrebenden Arbeiterklasse zu verlieren, nach rechts. Ressentiments gegenüber Erwerbslosen und migrantischen Gruppen fanden sich auch immer unter sozial etablierteren Arbeitern, die sich wahlweise über die Alimentierung von Arbeitsverweigerung oder über Schmutzkonkurrenz empörten. Diese Angst konnte politisch umso mehr bedient werden, je mehr die alten Linksparteien durch die Veränderung der ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen unter Druck gerieten. Heutzutage erscheint daher die gegenwärtige politische Linke oftmals als wenig attraktiv oder zugänglich für viele Menschen, die nicht durch persönliche Bindungen über eine Bezug zur Traditionspflege der Strukturen verfügen. Doch allzu häufig verlangen Linke, dass die häufig eher nach innen gerichteten und entsprechend kodifizierten theoretischen und strategischen Debatten auch von potentiellen Bündnispartnern ebenso als Grundlage des Denkens akzeptiert werden.“

Chwala beobachtet, dass statt einer Verabsolutierung des „Geistes“ der politischen Praxis Raum eingeräumt werden müsse. Die moderne Linke befindet sich noch in einer Art Defensive. Chwala: „Und das, obwohl sich die Eliten und die politischen Entscheidungsträger die Entscheidungen stets einseitig zu Lasten der breiten Masse fällen und sich damit von den Erwartungen einer Mehrheit der Gesellschaft mehr denn je entfremden.“

Die Gegenwartslinke muss diese Sorgen aufnehmen und die zentralen Fragen, wie die soziale Absicherung und somit die Gleichberechtigung der sozial dominierten gesellschaftlichen Gruppen, in das Zentrum ihrer Politik stellen und darf sich nicht an abstrakten Nebenwiedersprüchen aufreiben, so der Experte. „Politische Theorie muss sich immer auch an der Praxis messen lassen. Ein tieferes theoretisches Verständnis der kapitalistischen Verhältnisse wird dann notwendig, wenn die bestehenden gesellschaftlichen und ideologischen Machtverhältnisse Reformbestrebungen aufhalten, weil zu allem Verdruß viele Menschen sich aus ihrer ideologischen Befangenheit nicht lösen können. Dennoch müssen Linke bereit sein, Formen ganz unterschiedlichen Bewusstseins in ihren Reihen zu akzeptieren und Freiräume auch für voluntaristische Aktivitäten zu schaffen. Dabei sollte nicht auf die Einhaltung der Enge der bürokratischen Stränge klassischer Linksparteien gepocht werden. Zu guter Letzt sei darauf verwiesen, dass es natürlich Ziel linker Politik sein muss, die Machtfrage zu stellen. Dabei muss es allerdings darum gehen, diese auch gestalten zu können.“

Der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon und sein Team sind jedenfalls enorm engagiert. Es ist mehr als je zuvor in der jüngeren Geschichte Frankreichs notwendig, sich der Zementierung der Praxis demokratiefeindlicher, menschenfeindlicher Politik entgegenzustellen.

Chwala berichtet über das Wahlprogramm des Kandidaten. Der Politologe kritisiert, dass hierzulande, in der Bundesrepublik, wenig bis nichts berichtet wird, ganz so, als sei es ausgemachte Sache, dass der „Europäer und große Freund Frankreichs“, Macron, die Wahl schon schaukeln wird. Doch so einfach sollte es nicht werden. Chwala: Hier eine (kurze) Zusammenfassung des Wahlprogramms von Jean-Luc Mélenchon für die Präsidentschaftswahlen. Im Kern handelt es sich bei diesem Programm um eine ergänzte und erweiterte Version des schon für Mélenchons Wahlkampagne 2017 veröffentlichten Manifests „L`avenir en commun“ (Die gemeinschaftliche Zukunft).

Viele Punkte behalten ihre Gültigkeit und finden beinahe wortgleich Eingang in das neue Wahlmanifest. Dies gilt insbesondere für die Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik. Hier drängt Mélenchon weiterhin darauf, dass Frankreich in Zukunft wieder eine eigenständige Politik verfolgen müsse. Die Mitgliedschaft in der NATO wird infrage gestellt und die Ablehnung der Expansion der militärischen Präsenz der „westlichen“ Großmächte sowie die Schaffung anti-chinesischer Militärbündnisse stark angedeutet (hier ist Mélenchon bei seinen Medienauftritten allerdings in der Sache deutlich klarer, als im Programm formuliert). Wie nicht anders zu erwarten, stellt sich „L`avenir en commun“ weiterhin klar gegen eine US-dominierte Außen- und Militärpolitik und verspricht im Falle eines Wahlsieges Mélenchons eine Neuorientierung globaler Zusammenarbeit auf Basis „anti-neoliberaler“ Grundsätze. So fordert das Programm einen Abzug aller französischen Truppen vom afrikanischen Kontinent und eine Aufarbeitung von Verbrechen von Angehörigen der französischen Streitkräfte. Auch die hierarchischen und auf Ungleichheit bestehenden ökonomischen und monetären Verhältnisse sollen überwunden werden.

In diesem Zusammenhang muss auf die Positionen zum Umgang mit Flüchtlingen verwiesen werden. Das Wahlprogramm spricht sich nicht für eine Politik der dauerhaften „offenen Grenzen“ aus, sondern fordert die Schaffung von Lebensbedingungen, welche Fluchtbewegungen unnötig machen. Allerdings fordert „L`avenir en commun“ eine Aufnahme und Legalisierung aller aktuell in Frankreich lebenden illegalen Migranten. Die legalen Fluchtgründe sollen erweitert werden (Klima). Zudem soll der Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichert, aber auch das Wahlrecht für in Frankreich lebende Ausländer eingeführt werden. Ähnliches gilt für das Verhältnis zur Europäischen Union nach einem Wahlsieg. Hier wird offen angekündigt, dass weiterhin der konsequente Konflikt gesucht werde, sollte es nach Verhandlungen und Gesprächen nicht möglich sein, eine Akzeptanz der französischen Standpunkte zu erreichen. Mélenchon plädiert hier für eine „Koalition der Willigen“ (meine Worte !), die sich den wirtschaftsliberalen Interessen der EU entgegenstellen soll. Ein Austrittsszenario wird allerdings nicht mehr explizit durchgespielt. Relevant bleibt aber die alte französische Idee einer vertieften Zusammenarbeit im Mittelmeer-Raum, die über eine verstärkte kulturelle Zusammenarbeit vertieft werden soll.

Das zentrale Thema, das sich durch das Programm zieht, ist die Ökologie und die Klimakrise. „L`avenir en commun“ betont immer wieder, dass die Menschheit an einem Scheidepunkt angelangt sei. So können die richtigen Weichen nur gestellt werden, wenn gezielt in die Verfügungsmacht der großen Konzerne eingegriffen und von Seiten des französischen Staates in großem Stil Wirtschaftsplanung betrieben werde. Dabei sollen stark solidarische und genossenschaftliche Strukturen gestärkt werden. Großkonzerne sollen über scharfe Regulierungen zur Einhaltung von Klimazielen gezwungen werden, wenn sie nicht ohnehin durch eine rechtliche Neuregelung, die zentral wichtige französische Wirtschaftsunternehmen zu einer Art nationalem Erbe erklären, direkt unter die Kontrolle des Staates fallen.

Dass demzufolge alle „Reformprojekte“ Macrons nach einem Wahlsieg sofort wieder außer Kraft gesetzt werden sollen, versteht sich dabei von selbst. Eine „Mélenchon-Administration“ will allerdings auch die Polizei entwaffnen und eine zivile Kontrollbehörde schaffen. Wichtiger sind allerdings die sozialen Forderungen. Niemand soll mehr unter die Armutsgrenze fallen und Zeiten der Erwerbslosigkeit für die Rentenberechnung anerkannt werden. Ohnehin plant man, Ansprüche auf Leistungen der Sozial- und Arbeitslosenversicherung auf Menschen ohne eigentliche Leistungsberechtigung auszudehnen, besonders bei Fort- und Weiterbildungen. Zudem sollen Erwerbslose das Recht auf eine regelmäßige halbjährige arbeitsmedinzische Untersuchung erhalten. Im großen Stil soll sozialer Wohnungsbau entstehen. Die Dichte des Angebots öffentlicher und infrastruktureller Dienstleistungen soll so definiert werden, dass diese von allen Menschen erreicht werden können.

Da sich LFI als Erbe des Geists der Aufklärung sieht, verwundert es nicht, dass Bildung als eine zentrale Achse des umrissenen politischen Projekts angesehen wird. Hier sollen die Kapazitäten in allen Bereichen ausgebaut werden. Private Investoren im Bildungsbereich werden abgelehnt. Zwar definiert LFI auch Zielvorstellungen für die nichtakademische Berufsausbildung. Doch auch hier strebt man an, dass die Hürden für verlängerte Bildungskarrieren deutlich zu senken sind.

Alles dies trägt dazu bei, den von Mélenchon und den zentralen Akteuren angestrebten Übergang in eine „6. Republik“ verwirklichen zu können. Die Wahl einer „verfassungsgebenden Versammlung“, die innerhalb von zwei Jahren eine neue Verfassung ausarbeiten soll und deren Mitglieder keine aktiven oder gewesenen Parlamentarier sein dürfen, steht nach wie vor an allererster Stelle in diesem Wahlprogramm. Natürlich schließen sich andere Zielsetzungen an, die, wie Mélenchon es in der Einleitung sinngemäß formuliert, das Gemeinwesen wieder mit den Bürger versöhnt. So sollen Staatsvertreter, welche in die freie Wirtschaft wechseln, ihre Ausbildungskosten zurückzahlen, um den Lobbyismus zurückzudrängen. Zudem liebäugelt man mit einer Rückkehr von Schwurgerichten als Beteiligung der Bürger am Justizsystem. Weiterhin muss in diesem Zusammenhang auch der von mir bereits 2017 kritisierte Plan erwähnt werden, alle Franzosen zu einem 9-monatigen sozialen Pflichtdienst, der auch militärische Komponenten enthalten soll, heranzuziehen. Die Bezahlung soll der Höhe des Mindestlohns entsprechen.

Obwohl also traditionelle patriotische Momente nicht fehlen, erkennt „L`avenir en commun“ die Notwendigkeit einer Dezentralisierung der von Republikanern gerne hochgehaltenen Zentralität und Einheitlichkeit des Staatsgebietes an. Insbesondere die Überseegebiete sollen dadurch größere Anerkennung erhalten, sodass lokale Sprachen, Geschichte und Traditionen Gewicht im Alltagsleben erhalten sollen. Zudem sollen dort Quoten für Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Dienst eingeführt werden, die sicherstellen, dass die Gebiete nicht von Beamten aus dem Mutterland völlig „überfremdet“ werden. Zudem müssen sich Staatsvertreter aus Kernfrankreich Pflichtkurse über die historischen und sozialen Bedingungen der Region, in die sie entsandt sind, belegen.

Sicherlich habe ich in dieser Übersicht einige wichtige Dinge vergessen (ach ja, die Legalisierung und Dekriminalisierung des Cannabiskonsums steht auch 2021 im Programm), ich möchte an dieser Stelle allerdings erst einmal zum Schluss kommen. Weiteren Debatten und Diskussion zum Thema steht ja nichts im Weg.“

Titelbild: Frederic Legrand – COMEO/shuterstock.com


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