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Titel: „Ich ging dorthin, um meinen Feind zu treffen, aber tatsächlich traf ich einen Freund“

Datum: 3. März 2022 um 8:58 Uhr
Rubrik: Friedenspolitik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Kultur und Kulturpolitik
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„Der Kalte Krieg endete für mich, als ich diesen Typen traf. Das war es. Ich ging [dorthin], um meinen Feind zu treffen, aber tatsächlich traf ich einen Freund. Wir wussten nie, welche Freunde wir hatten, bis wir Leningrad besuchten.“ Diese Worte stammen von dem US-amerikanischen Sänger Billy Joel. Es ist Zeit, mal wieder „Leningrad“ zu hören. Das Lied veröffentlichte Joel 1989. Die Geschichte, die hinter dem Lied steht, verdient es, ins Bewusstsein gerufen zu werden. In einer Zeit, in der ein großer Krieg im Raum steht, die Kriegstrommeln geschlagen, Feindbilder geschürt und wieder einmal der Einsatz von Waffen der Öffentlichkeit als „angebracht“ und „gerecht“ verkauft werden, ist Innehalten und Besinnung angebracht. Von Marcus Klöckner

Feindbilder – was haben sie alles in der Geschichte der Menschheit angerichtet! Wenn Feindbilder erst einmal in den Köpfen verankert sind, sind Hetze, Wut und Hass nicht weit. Ist ein Feindbild vollständig gezeichnet, ist alles denkbar: Krieg, Völkermord… .

Der US-amerikanische Pop-Sänger Billy Joel hat in den späten 80er Jahren gelernt, wie groß der Unterschied zwischen Feindbild und Realität sein kann. Er machte sich auf, um einen „Feind“ zu treffen, aber er traf einen Freund. Doch der Reihe nach.

Joel gehört mit zu den bekanntesten Popsängern. „Uptown Girl“, „Piano Man”, „Just the Way You are“ oder natürlich: „We didn’t start the Fire” sind einige seiner bekanntesten Lieder.

1989 veröffentlichte Joel den Song „Leningrad“, der auch in Deutschland bekannt wurde. Das Lied basiert auf den Begegnungen, die Joel mit „Victor“ machte, einem russischen Clown, den er bei einer Konzerttournee hinter dem Eisernen Vorhang kennenlernte.

Mit Leningrad hat Joel ein Lied geschaffen, das „Inhalt“ bietet – einen Inhalt wohlgemerkt, der gerade heute, in einer Zeit, wo immer unverhohlener der Einsatz von Waffen und Gewalt als Friedensmittel propagiert wird, gehört werden muss.

Joel, so sagt er es in einer Zeile des Liedes, war ein „Kind des Kalten Krieges“. Als solches war auch er geprägt von jenen Vorstellungen, die in seinem Land vorherrschten. Russland – das war das Reich des Bösen. Die Russen, die waren „gefährlich“.

Er hatte 1987 die Gelegenheit, nach Russland zu reisen, um dort, in „Feindesland“, seinen Fans zu begegnen und seine Lieder live zu singen. Der Sänger freute sich zwar, seine Fans in Russland zu treffen, gleichzeitig aber war er mit Ressentiments, mit negativen Vorstellungen zu Russland und den Russen beladen. So ging er zusammen mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter in das „dunkle Russland“. Dort traf er Victor. Joel beobachtete Victor und stellte fest, dass Victor seine Tochter zum Lachen brachte. Er dachte sich, wenn Victor meine Tochter zum Lachen bringt, kann er kein so übler Typ sein.

Was dann folgte, war stärker als die Propaganda, die damals – wie auch heute – beide Seiten umgibt.

Joel und Victor lernten sich kennen und wurden schließlich Freunde. Sie sprachen, sozusagen, über Gott und die Welt und ihr so gegensätzliches Leben. Der eine wächst auf in den USA, im Kapitalismus, ist ein Kind der McCarthy-Ära, der andere wächst in Russland auf, hat seinen Vater 1944 in Leningrad verloren, diente in der russischen Armee, verfällt dem Wodka und wird dann Clown, kriegt sein Leben in den Griff und findet die Erfüllung darin, Kinder zum Lachen zu bringen.

Beide begreifen, dass der Gegenüber kein Feind, sondern Mensch ist. Die Freundschaft gipfelt in dem Lied „Leningrad“ (hier der Liedtext), in dem Joel das Leben von Victor und sein Leben gegenüberstellt. Die Freundschaft der beiden Männer geht soweit, dass Victor Jahre später Joel als Geschenk die Asche seines verstorbenen Zwillingsbruders übergibt, wie der Sänger 2016 in einem Interview erzählte.

Und so zeigt das Lied und seine Geschichte auf eindrucksvolle Weise auf, was geschehen kann, wenn die Mauer der politischen Propaganda durchbrochen und Feindbilder überwunden werden. Aus einem Feind wird ein Freund.

Dem steht gegenüber, was gerade im Kampf um die Ukraine zu beobachten ist. Feindbildaufbau und eine Politik auf allen Seiten, die bereit ist, über Leichen zu gehen, bringen großes Leid. Wieder einmal werden Soldaten instrumentalisiert, Bürger propagandistisch beeinflusst und der militärischen Gewalt der Weg geebnet. Wieder einmal verlieren Kinder ihre Väter, wieder einmal glaubt jeder, auf der „richtigen“ Seite zu stehen und für die „gute Sache“ zu kämpfen (und zu töten). Hat die Propaganda erstmal ihre Wirkung entfaltet, dann ist der Feind immer der Gegenüber. Doch die Propaganda kann, das zeigt auch „Leningrad“, zumindest auf der individuellen Ebene durchbrochen werden.

Titelbild: Debby Wong/shutterstock.com


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