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Titel: Aufstand gegen Klinikkahlschlag. „Wir nehmen Karl Lauterbach beim Wort!“

Datum: 17. Februar 2022 um 8:52 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Interviews
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Krankenhausschließungen sind politisch gewollt. In Niedersachsen sollen allein 40 Standorte in den nächsten zehn Jahren dichtgemacht werden und ähnliches steht in Nordrhein-Westfalen auf der Regierungsagenda. Nachdem sich auch der neue Bundesgesundheitsminister in der Vergangenheit als Fan einer radikalen Schrumpfkur der Versorgungslandschaft geoutet hatte, ruderte er zuletzt zurück. Aber Vorsicht: Angesichts eines historischen Leerstands liefert die Pandemie scheinbar sogar neue Vorwände, die Axt an die Strukturen anzulegen. Für das Bündnis Klinikrettung wird umgekehrt ein Schuh draus: Spätestens die Corona-Krise beweise, dass derlei Konzepte in den Papierkorb gehörten. Im Interview mit den NachDenkSeiten erklärt Mitstreiterin Laura Valentukeviciute, warum dem so ist. Mit ihr sprach Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Frau Valentukeviciute, im Frühjahr 2021 hat Karl Lauterbach (SPD) als damals noch einfacher Abgeordneter im Bundestag die vom Bündnis Klinikrettung initiierte Petition „Bundesweite Krankenhausschließungen jetzt stoppen!“ unterzeichnet. Inzwischen ist Lauterbach Bundesgesundheitsminister, und da stellt sich die Frage, ob er sich an die im Aufruf formulierten Forderungen auch hält beziehungsweise halten wird. Gibt es entsprechende Signale von ihm?

Außer der Unterschrift im Mai 2021 haben wir von ihm zu dem Thema nichts weiter gehört. Wir waren in der Tat überrascht, als wir Lauterbachs Unterschrift entdeckten, denn wir kennen seine bisherige politische Linie: mehr Wettbewerb bei den Krankenhäusern, Unterstützung des Systems der Fallpauschalen bis hin zu seiner Befürwortung von Krankenhausschließungen. Am 4. Juni 2019 twitterte er: „Jeder weiß, dass wir in Deutschland mindestens jede dritte, eigentlich jede zweite, Klinik schließen sollten“. Einen Monat später hingegen sagte er in einem Gespräch mit Bürgern und Bürgerinnen, die sich für den Erhalt der Klinik in Köln-Holweide einsetzen, eine Schließung des Krankenhauses Holweide lehne er kategorisch ab. Ziemlich widersprüchlich. Wir nehmen Lauterbach einfach bei seinem letzten Wort. Wenn das nicht gilt, muss er das selbst erklären. Das Krankenhaus Holweide steht übrigens nach wie vor auf der Abschussliste.

Ganz konkret: Wurden in seiner noch kurzen Zeit als Chef des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) weitere Krankenhäuser dichtgemacht beziehungsweise der Beschluss dazu gefasst?

Seit seinem Antritt als Bundesgesundheitsminister wurden die Lungenklinik Borstel in Segeberg, Schleswig-Holstein, und das Main-Spessart-Klinikum Marktheidenfeld in Bayern geschlossen. Die Helios-Klinik in Leisnig schloss die Hauptabteilung Kinder- und Jugendmedizin, im Krankenhaus in Eckernförde wurde die Geburtshilfe, im Ratzeburger DRK-Krankenhaus, beide in Schleswig-Holstein, wurde der Kreißsaal geschlossen. Bayerische Krankenhäuser in Roding und in Schongau stehen kurz vor dem Aus, auch die Geburtsabteilungen in Preetz in Schleswig-Holstein und im Bethanien-Klinikum in Iserlohn, Nordrhein-Westfalen. Etliche weitere Krankenhäuser sind nach wie vor gefährdet.

Einen Monat nach Lauterbachs Tweet zu Schließungen, also im Sommer 2019, „wusste“ zumindest die Bertelsmann Stiftung, dass sich durch eine Reduzierung auf 600 Allgemeinkrankenhäuser die „Qualität der Versorgung für Patienten verbessern und bestehende Engpässe bei Ärzten und Pflegepersonal mildern“ ließen. Es soll Leute geben, die hier einen Widerspruch erkennen …

Richtig, und ich gehöre zu dieser Gruppe und sehe den klaren Widerspruch. Denn wenn es kein Krankenhaus in Wohnortnähe mehr gibt, dann kann doch von der Qualität stationärer Versorgung keine Rede mehr sein. Das ist lebensgefährlich – das Beispiel Havelberg, aber auch Fälle andernorts, wo ein Krankenhaus geschlossen wurde, belegen das. Außerdem ist die Qualität bisher nicht klar definiert. So beziehen sich die Schließungsbefürworter auf Krankenhausratings, zum Beispiel das des F.A.Z.-Instituts. Dort stehen dann aber auf den Spitzenplätzen auch Krankenhäuser, die geschlossen wurden oder von Schließung bedroht sind.

Oder nehmen wir das Thema Personal: Bei noch weniger Kliniken wird es natürlich nicht mehr, sondern noch einmal weniger Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger geben. Die Schließungsbefürworter verschweigen systematisch, dass sowohl die großen als auch die kleinen Krankenhäuser Ausbildungsstätten sind. Verschwindet eine Klinik, gibt es weniger Möglichkeiten, Personal auszubilden.

Das leuchtet ein. Aber wohl nicht allen?

Bei meinen Recherchen bin ich regelmäßig auf den Webseiten der bedrohten Krankenhäuser auf die folgende Information gestoßen: Das Krankenhaus ist eine Ausbildungsstätte für die Uniklinik soundso. Außerdem zeigt die Erfahrung von geschlossenen Kliniken, dass sich vor allem in den ländlichen Regionen das Personal nicht wie auf einem Schachbrett verschieben lässt. Da ist der Weg zum potenziellen Arbeitsplatz im anderen, noch offenen Krankenhaus zu weit. Deswegen verlassen viele Beschäftigte den Beruf nach der Klinikschließung. Politikerinnen und Politiker, die die Schließungspläne der Wirtschaftslobby umsetzen, müssen sich klarmachen, dass sie damit die Personalengpässe weiter verschärfen.

Und dann sind da ja auch noch die Patienten …

Eben. Mit einem Klinikkahlschlag wird es nicht automatisch weniger Kranke geben. Vielleicht aber wird es weniger Patientinnen und Patienten im Krankenhaus geben – das wünschen sich die Klinikschließer. Im Klartext heißt das: Die Zahl der Menschen, für die der Weg bis zum nächsten Krankenhaus zu lang ist, wird zunehmen. Das bedeutet Verlust an Lebensqualität, wenn Schmerzen lange ausgehalten werden müssen oder man lange auf einen OP-Termin warten muss. Das heißt aber auch, die Zahl der vermeidbaren Todesfälle wird steigen. Das macht mich traurig und wütend.

Und seit Corona treten die Widersprüche noch offener zutage?

In der Pandemie müssen wir alle mit Einschnitten leben, um die Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht zu überschreiten. Gleichzeitig halten es die Politikerinnen und Politiker aber nicht für notwendig, die Schließung der Krankenhäuser zu stoppen und die dauerhafte Finanzierung der Krankenhäuser zu sichern. Genauso untätig ist die Politik beim Thema Pflegenotstand: Vor der Pandemie wurde das geleugnet, jetzt wird es zumindest anerkannt, aber immer noch nicht behoben.

Das von Ihrem Verein getragene Bündnis Klinikrettung hat für 2020, Jahr eins der Pandemie, bundesweit 20 Klinikschließungen gezählt. 2021 machten dann „nur“ noch neun Hospitäler dicht. Als Zeichen des Umdenkens werten Sie das eher nicht?

Von Umdenken kann leider keine Rede sein. Denn neben den neun Schließungen gab es an 22 Häusern Schließungen wichtiger Abteilungen wie Chirurgie, Inneres, Notfallstation oder Geburtsabteilung. Die Schließung solcher Abteilungen führt erfahrungsgemäß zu noch größeren finanziellen Engpässen und im weiteren Fortgang zur Komplettschließung. Außerdem sind zum jetzigen Zeitpunkt schon 31 Klinikschließungen beschlossen, die ab 2022 in Kraft treten. Weitere 19 Krankenhäuser sind von Schließung bedroht. In einem Bericht an die Bundesregierung schreibt das RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung von Schließungen, die mit Geldern aus dem Krankenhausstrukturfonds gefördert wurden, und gibt die Einschätzung ab, dass zur Erreichung der sogenannten Sollstruktur die Regierung noch elf Milliarden Euro einplanen soll. Da die RWI-Ökonomen, allen voran Boris Augurzky, die vehementesten Befürworter des Klinikkahlschlags sind und zugleich in den wichtigsten Beratungsgremien der Bundesregierung sitzen, bedeutet dies: Weitere Schließungen in einem massiven Ausmaß sollen tatsächlich kommen und dafür soll eine Menge Geld ausgegeben werden.

Die Krankenhausplanung obliegt bekanntlich den Bundesländern. Könnte die Bundesregierung so einfach dazwischengrätschen, wenn eine Abwicklung schon beschlossene Sache ist?

Selbstverständlich kann die Bundesregierung Abhilfe schaffen, aber es fehlt der Wille dazu. Sie könnte unkompliziert und schnell einen Rettungsschirm zum Beispiel über klamme Krankenhäuser der Allgemeinversorgung spannen. Das hat der Bund während der Pandemie schon bewiesen: Die Kliniken bekamen zum Beispiel Ausgleichszahlungen für Einnahmeausfälle aufgrund verschobener oder ausgesetzter planbarer Operationen und Behandlungen oder erhielten Versorgungsaufschläge für die Behandlung von Covid-19-Patientinnen und -Patienten.

Im Arbeitspapier der AG Gesundheit und Pflege für den Text des Koalitionsvertrages stand einmal der Satz, dass der Bund finanziell einspringt, wenn die Länder ihren Verpflichtungen zur Investitionsfinanzierung nicht nachkommen. Der Passus wurde leider gestrichen. Es würde aber schon helfen, wenn die Bundesländer ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachkommen und die Investitionen in Krankenhäusern wie vorgesehen finanzieren. Laut einem Bericht der Deutschen Krankenhausgesellschaft vom Januar zahlen die Länder aber nur die Hälfte der vorgesehenen Summe. Das ist einer der wichtigsten Gründe, warum Kliniken pleitegehen.

Noch schwieriger liegen die Dinge im Falle privater Kliniken. Sind der Politik die Hände da nicht vollends gebunden?

Warum? Droht einer Klinik das Aus, müssen das jeweilige Land oder der Bund übernehmen. Privatisierungen haben im Krankenhausbereich ohnehin nichts zu suchen.

Nun geht es bei den von der Bertelsmann Stiftung oder der Wissenschaftsakademie Leopoldina empfohlenen Strukturreformen letztlich aber genau darum: noch mehr zu privatisieren und damit die großen Klinikkonzerne noch mehr zu päppeln. Was tun?

Tatsächlich ist der Vormarsch der Privatisierungen im Gesundheitsbereich erschreckend. Wir haben immer weniger öffentliche und immer mehr private Krankenhäuser. Damit wird immer mehr Geld aus dem Gesundheitssektor abgezogen. Gleichzeitig gibt es seit einiger Zeit die Debatte, dass die Gesundheitsversorgung, insbesondere auf dem Land, mithilfe von Medizinischen Versorgungszentren, MVZ, gesichert werden könne.

Abgesehen davon, dass Einrichtungen wie ein MVZ oder auch IVZ, ein Intersektorales Versorgungszentrum, keinen Ersatz für Krankenhäuser darstellen, weil sie nicht an sieben Tagen in der Woche rund um die Uhr eine Notfallversorgung anbieten, stellen solche Zentren eine massive weitere Privatisierung dar. Private Klinikkonzerne und Private-Equity-Fonds haben großes Interesse an ihnen. Und dass die Gesundheit der Menschen dabei kaum eine Rolle spielt, zeigt der im Vorjahr veröffentlichte Plan des Klinikkonzerns Fresenius: Um mehr Geld aus den MVZ rauszuholen, will er sie umstrukturieren und nur die rentablen Abteilungen wie Radiologie, Urologie und Chirurgie belassen. Dazu muss man wissen: Fresenius betreibt durch die Übernahme des Helios-Konzerns die meisten MVZ in Deutschland.

In der Medienberichterstattung zu Corona geht praktisch komplett unter, dass die Kliniklandschaft seit jetzt zwei Jahren einen historischen Leerstand erlebt. Nach den vom Institut für das Entgeltsystem im Krankenhaus GmbH (InEK) erhobenen Klinikdaten lag die Bettenauslastung 2020 und 2021 jeweils gut 13 Prozent unter der von 2019. Das passt nicht zusammen mit dem Narrativ „überfüllter Intensivstationen“, sehr wohl aber mit der Darstellung sogenannter Gesundheitsökonomen, das System leide unter einer eklatanten Überversorgung. Wird nicht gerade diese Entwicklung vielen kleineren, staatlich betriebenen Häusern den Rest geben?

Die geringe Bettenauslastung lag ja daran, dass viele planbare Operationen und Behandlungen aufgrund der Pandemie verschoben worden sind. Außerdem haben die Menschen wegen der Ansteckungsgefahr Angst, ins Krankenhaus zu gehen. Die Schließungen mit geringer Auslastung zu begründen, ist deswegen einfach absurd und zynisch. Und was die Überversorgung angeht: Es gibt vor allem die Überversorgung mit den privaten Fachkliniken, die sich auf lukrative Fälle wie orthopädische Behandlungen spezialisieren. Diese Krankenhäuser machen ja nichts anderes und beteiligen sich übrigens auch nicht an der Behandlung der Covid-19-Patientinnen und -Patienten.

Dagegen müssen die Allgemeinkrankenhäuser alle Patientinnen und Patienten aufnehmen, auch diejenigen, die nach Diagnosis Related Groups, DRG, kaum Geld einbringen. An solchen Krankenhäusern mangelt es schon jetzt. Und wenn der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann sagt, dass Überversorgung herrsche, weil es im Raum Essen zahlreiche orthopädische Kliniken gibt, dann hat er damit wahrscheinlich sogar recht. Aber mit seinem neu aufgestellten Krankenhausplan will er trotzdem die Allgemeinversorger schließen. Die gut ausfinanzierten orthopädischen Kliniken sind hingegen von Schließungen nicht betroffen.

Haben Sie also Sorge, dass die Pandemie am Ende sogar als Vorwand beziehungsweise als Treiber des Klinikkahlschlags herhalten muss?

Es ist bedenklich, dass die Pläne aus der Vor-Pandemie-Zeit wieder aus der Tasche gezogen werden und zwar schon seit Herbst 2021. Das zeigt, dass es nie um Bedarf ging.

Ist es nicht naiv zu glauben, die Zeit ließe sich einfach zurückdrehen, so dass künftig wieder jeder Bürger in nächster Nähe ein Krankenhaus vorfindet? Wie soll das bezahlt werden?

Da muss man keine Zeit zurückdrehen. Es gibt einfachere Wege für eine ausreichende Finanzierung der Krankenhäuser. In unserer Bilanzpressekonferenz im Dezember haben wir vier Rezepte für eine bessere Ausfinanzierung der Kliniken aufgezeigt. Diese sind: Kostendeckung statt Gewinnerzielung, Abschaffung der Fallpauschalen, mehr Personal durch weniger Bürokratie und die Einführung einer Bürger-Krankenversicherung.

Und ausgerechnet Karl Lauterbach soll das umsetzen?

Das geht nur mit Druck von der Straße. Deswegen wollen wir ihm am 22. Februar unsere gesammelten Unterschriften – samt seiner Unterschrift – überreichen und ihn an seine Forderung an Jens Spahn, Krankenhausschließungen zu stoppen – erinnern.

Welche Rolle wollen Sie und das Bündnis Klinikrettung beim „Druck von der Straße“ spielen?

Anders als noch vor ein paar Jahren gibt es mittlerweile in den Medien auch kritische Berichterstattung über Krankenhausschließungen. Aber das reicht noch nicht aus, um Veränderungen zu erreichen. Wir wollen das Thema auch mit und in den politischen Gremien kritisch diskutieren. Wir fordern von der Bundesregierung, die Vertreterinnen und Vertreter unseres Bündnisses in die Expertenkommission zu berufen, die im Koalitionsvertrag vorgesehen ist, um über die Neuausrichtung der Krankenhausstruktur zu beraten. Allerdings steht noch in den Sternen, wann diese Kommission eingerichtet wird. Das Gesundheitsministerium beschäftigt sich mit der Pandemie. Andere Fragen fallen unter den Tisch und die Krankenhausschließungen werden fortgesetzt. Hier wollen wir intervenieren und mit unseren Aktionen den politischen Kurs umdrehen. Aktuell sind wir schon 19 Organisationen im Bündnis. Je breiter das Bündnis wird, desto schwerer wird es für die Politik, uns zu ignorieren.

Titelbild: © Rolf Zöllner

Laura Valentukeviciute, Jahrgang 1980, ist Mitbegründerin, Vorstandsmitglied und Sprecherin des Vereins Gemeingut in BürgerInnenhand (GiB), der sich für die Demokratisierung der Daseinsvorsorge und für die gesellschaftliche Verfügung über Güter wie Wasser, Bildung, Mobilität und Gesundheit einsetzt. Als Sozialwissenschaftlerin beschäftigt sich Valentukeviciute seit 2007 mit dem Thema Privatisierung der Infrastruktur der öffentlichen Daseinsvorsorge als Referentin und Autorin.


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