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Titel: Andrej Hunko über den ukrainischen Botschafter, Waffenlieferungen und die „harten Auseinandersetzungen über die Geschichtsdeutung“
Datum: 15. Februar 2022 um 9:11 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Interviews, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Dies ist der zweite Teil eines Interviews mit dem Aachener Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko, der seit 2009 für DIE LINKE im Bundestag sitzt. Hunko hat gerade in seiner Funktion als stellvertretender Vorsitzender der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken (UEL) im Europarat die russische Hauptstadt besucht. In Moskau sprach Hunko mit verschiedenen Regierungs- und Parlamentsvertretern, aber auch mit Vertretern der Opposition und der Zivilgesellschaft. Vor seinem Abflug nach Deutschland hatte Ulrich Heyden die Möglichkeit, den Abgeordneten für die NachDenkSeiten über seine Eindrücke zu befragen. Den ersten Teil des Gesprächs finden Sie hier.
Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrej Melnik, hat sich in den letzten Wochen sehr stark aus dem Fenster gelehnt und ist nicht als Diplomat aufgetreten, sondern er hat Vorschriften gemacht, wie Deutschland Politik machen soll. Das ist absolut ungewöhnlich. Das wäre sogar für einen Journalisten nicht möglich, so aufzutreten. Was ist der Grund, dass das in Deutschland einfach so hingenommen wird?
Es ist in der Tat ein äußerst ungewöhnliches Auftreten gewesen. Es ging ja vor allem um die Frage der Waffenlieferungen. Dass er praktisch die Bundesregierung in der Öffentlichkeit unter Druck gesetzt hat, Waffen zu liefern an die Ukraine. Ich kenne mit Ausnahme des israelischen oder des US-amerikanischen Botschafters kaum einen Botschafter, welcher in dieser Form in der Öffentlichkeit auftritt. Und dass das so aufgenommen wird in den Medien …
…kritiklos…
… und sozusagen weitergetragen wird und der Druck erhöht wird, vor allem auf die SPD, ist schon ein einmaliger Vorgang. Es ist halt so, dass es sehr starke transatlantische Kräfte in den Medien gibt, mit antirussischen Stimmungen. Und dass dann auch so ein Botschafter mit solchen Aussagen entsprechend hofiert wird.
Glauben Sie, dass Deutschland in einem Monat so weit ist, dass die Waffen geliefert werden?
Ich hoffe nicht. Ich glaube nicht. Trotz der in manchen Medien wirklich sehr starken Stimmungsmache für Waffenlieferungen haben wir eine relativ stabile Umfragelage von 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung, die gegen Waffenlieferungen sind, die jetzt nicht prorussisch sind, die aber gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind. Waffen werden sicherlich nicht zur Deeskalation beitragen. Und auch die Vorstellung, die Russen mit deutschen Waffen militärisch zu besiegen, ist ja absurd. Also diese Waffen führen ja nur zur Eskalation.
Noch mal zu dem Botschafter der Ukraine. Können wir uns vorstellen, dass der mexikanische Botschafter in Deutschland – Mexiko ist ja noch ein größeres Land als die Ukraine – eine solche Rolle spielt wie jetzt der ukrainische Botschafter? Das ist ja völlig undenkbar. Es ist ja auch so, dass der ukrainische Botschafter versucht, die Geschichte ein stückweit umzuschreiben, indem er versucht, die Verbrechen der Wehrmacht und des Nazi-Regimes gegenüber der Sowjetunion mit der Operation Barbarossa so zu konstruieren, dass es zum Druckmittel für die Waffenlieferungen an die Ukraine wird.
Ich erinnere daran, dass Arseni Jazenjuk, der Ministerpräsident der Ukraine, 2015 in den „Tagesthemen” unwidersprochen erklären konnte, dass die Rote Armee 1945 die Ukraine nicht befreit hat, sondern dass das der Beginn der Okkupation gewesen sei.
Wir stehen vor harten Auseinandersetzungen über die Geschichtsdeutung. Ich fürchte, um eine Legitimation für eine weitere Eskalation zu haben, wird auch an der Geschichte gearbeitet. Und die Geschichtsnarrative werden verschoben: um die Rolle der Roten Armee und der Sowjetunion – und Russland als Hauptland der Sowjetunion – in den Hintergrund zu rücken.
Nun zur Frage der humanitären Hilfe für die Ukraine. Deutschland fliegt seit mehreren Jahren verletzte ukrainische Soldaten nach Deutschland aus. Indem Angela Merkel das Minsker Abkommen unterschrieben hat, hat sie eigentlich eine neutrale Position für die gesamte Ukraine – also auch für die Volksrepubliken – bezogen. Das heißt, wenn in den Volksrepubliken Menschen zu Schaden kommen, müsste Deutschland eigentlich genauso humanitäre Hilfe zur Verfügung stellen. Es müsste ja nicht unbedingt humanitäre Hilfe für Soldaten sein. Man könnte ja auch mal 100 verletzte Zivilisten aus den Volksrepubliken in deutsche Krankenhäuser bringen. Aber über so etwas wird in Deutschland gar nicht diskutiert.
Nein, nein. Die offizielle Position der Bundesregierung versteht sich an der Seite der Ukraine, also auf der Seite von Kiew, und betrachtet die Volksrepubliken als No-Go-Area. Es wird ja immer gesagt, deutsche Politiker fahren in den Donbass. Die fahren aber immer nur auf die ukrainische Seite.
Wird das eigentlich von der deutschen Öffentlichkeit wahrgenommen, wenn man da an die Grenze fährt, dass das nur der Nordteil des Donbass ist und der Südteil in der Hand der Separatisten ist?
Nein, es wird eben so dargestellt, als ob man in der gesamten Konfliktregion sei. Dabei war Frau Baerbock mit ihrer militärischen Ausrüstung und den Bildern, die sie produzierte, ausschließlich an der Frontlinie. Ich fände es sehr wünschenswert, wenn sich Journalisten und Abgeordnete ein Bild von beiden Seiten machen könnten und auch mal nach Donezk und Lugansk fahren.
Aber Sie waren da, im Februar 2015.
Ja, das wird aber verunmöglicht. Denn du kommst ja über die ukrainische Seite nicht dahin. Und wenn du über die russische Seite fährst, bist du ein „Staatsfeind“. Und ich bin ein „Staatsfeind“ der Ukraine, weil ich damals eine Medikamentenlieferung mit begleitet habe, für die wir in Deutschland gesammelt haben, für das Kinderkrankenhaus in Gorlowka. Und das Problem ist, du kannst es nicht über die ukrainische Seite machen, weil du nicht durch die Kontaktlinie kommst und es keine Kooperation der ukrainischen Behörden gibt. Und wenn du es über die russische Seite machst, verletzt du die territoriale Integrität der Ukraine. Das Gleiche gilt auch für die Krim und für andere „eingefrorene Konflikte“. Wir haben ja noch mehr „eingefrorene Konflikte“ in Europa, Abchasien und Transnistrien. In Berg-Karabach gab es jetzt auch wieder Krieg, also den Versuch, wieder etwas militärisch zu lösen. Man muss Wege finden, die es vor allem Journalisten und Abgeordneten und vielleicht auch zivilgesellschaftlichen Organisationen ermöglichen, sich ein Bild zu machen.
Wären Sie bereit, wieder hinzufahren?
Ich wäre natürlich wieder bereit hinzufahren. Auch mit anderen zusammen. Ich würde auch gerne mal auf die Krim fahren. Nicht weil ich damit anerkennen will, dass die Krim Teil Russlands ist. Aber ich möchte wissen, wie es den Menschen da geht. Stimmt es, dass es eine heftige Repression gegen Krim-Tataren dort gibt? Sind die Leute froh, dass sie jetzt Teil Russlands sind? Oder ist das nur eine Minderheit? Wie leben die Menschen? Die werden ja auch sanktioniert vom Westen. Die können ja gar nicht reisen. Diese ganzen Probleme würde ich ja gerne mal wahrnehmen, aber es ist verdammt schwer, wenn du dich nicht dem Vorwurf aussetzen willst, die sogenannte Annexion der Krim zu legitimieren.
Was ist der Grund, dass wir in Deutschland, obwohl die Kriegsgefahr tausendmal größer ist als 1983, wo es eine riesige Friedensbewegung gab, dass es diese Friedensbewegung heute nicht gibt? Und was müsste getan werden, damit die Menschen wieder auf die Straße gehen? Anders kann man ja den Krieg nicht stoppen.
Es gibt einen Aufruf „Nie wieder Krieg“ mit 200 Erstunterzeichnern. Ich habe diesen Aufruf, der inzwischen von Tausenden unterzeichnet wurde, auch unterschrieben.
Ich habe auch den Eindruck, dass es in verschiedenen Städten Vorbereitungen für Demonstrationen gibt. Es ist nicht vergleichbar mit dem Anfang der 1980er Jahre. Es gelingt auch, die Friedensbewegung zu delegitimieren, als etwas old-school-mäßiges darzustellen, obwohl die Stimmung eigentlich relativ klar ist, zum Beispiel keine Waffenlieferungen an die Ukraine. Aber die Leute haben dann wieder Angst. Man setzt sich dann dem Vorwurf aus, russland-freundlich zu sein. Aber das gab es ja in den 1980er Jahren auch. Da hieß es ja: „alles von Kommunisten unterwandert“. Diese Angst hat man im öffentlichen Diskurs etabliert. Und das wird kommen, je mehr sich die Stimmung in entsprechende Aktionen umwandelt.
In Ihrer Partei Die LINKE gibt es ja auch Debatten über die „korrekte“ Position zu Russland. Wie sehen Sie da die Gemengelage zurzeit? Ihre Position ist NATO-kritischer als bei vielen Anderen.
Erstmal muss man sagen, dass DIE LINKE die Waffenlieferungen ganz entschieden ablehnt. Und dabei auch ein stückweit die Position der SPD stützt. Wir haben uns auch immer gegen die Sanktionen ausgesprochen, die seit 2014 verhängt wurden, nicht weil wir alles gut finden, was Russland macht, das wird ja oft völlig missverstanden, sondern weil es einfach die falschen Instrumente sind.
Ich habe mal eine Anfrage an die Bundesregierung gestellt. Von welchen positiven Wirkungen kann die Bundesregierung bei den ganzen Sanktionen, die in den letzten Jahren immer mehr zugenommen haben, berichten? Da wurde dann in der Antwort auf irgendeine kleine Südseeinsel verwiesen. Ansonsten nichts.
Also, in meiner Partei gibt es schon ein paar Positionen, welche die LINKE gemeinsam vertritt. Wir haben auch ein Grundsatzprogramm. Dort steht, Auflösung der Nato und Ersetzung der Nato durch ein europäisches Sicherheitssystem unter Einbeziehung Russlands, das auf Abrüstung zielt. Nun gibt es in den aktuellen Bewertungen immer Schattierungen.
Nun, ich bringe mal ein Beispiel. Eine Bundestagsdebatte im April 2021. Da tritt eine Abgeordnete Der LINKEN auf und fordert Truppenrückzug von beiden Seiten der ukrainischen Grenze. Wenn man von Russland fordert, zieht von eurem eigenen Territorium Truppen an der Grenze zurück, in einer Situation, wo wir als Linke – zumindest ich – sagen, die Aggression geht vom Westen aus, finde ich das sehr fragwürdig.
Also ich kenn’ jetzt diese Debatte nicht. Wenn wir jetzt Truppen nach Litauen schicken und noch „Battle Groups“ der EU nach Rumänien verlegt werden sollen, und wenn jetzt überlegt wird, Waffen über Estland in die Ukraine zu liefern, dann muss dies meines Erachtens im Mittelpunkt stehen. Das ist die Aufgabe einer Linken in Deutschland. Wenn der Ton von deutscher Seite verschärft wird, muss diese Verschärfung des Tons im Mittelpunkt der Kommunikation stehen. Also man muss sich vor allem mit den eigenen Falken auseinandersetzen und in diese Richtung wirken. Das heißt nicht, dass man sich positiv beziehen muss – das tu’ ich ja auch gar nicht – zum Beispiel auf die russischen Truppen. Aber ich finde es abstrakt, sich hinzustellen und zu sagen: Truppen auf beiden Seiten abziehen. Ja, das ist abstrakt richtig. Aber Politik ist ja auch noch konkret. Und konkret sollte man auch schon schauen, was macht der eigene Laden? Was läuft da von deutscher Seite und da muss man vor allem eine Wirkung entfalten. Und da muss man vor allem gegen die wirken, die auf Eskalation zusteuern.
Eine Frage noch zu Ihrer Familie. Dass Sie von Ihrer Familie her auch Ukrainer sind, spielt das bei Ihren Aktivitäten mit rein?
Eigentlich ganz wenig, denn ich bin total deutsch sozialisiert. Ich bin in München geboren. Ich bin völlig deutsch erzogen worden. Meine Mutter hat einen deutschen Hintergrund, mein Vater ukrainisch. Und die Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte kam erst viel später. Es gibt ein schönes Bild. Mein Großvater, der vor meiner Geburt gestorben ist, hat auf Seiten der ukrainischen Nationalisten gekämpft, auf der Seite von Symon Petljura seinerzeit – und sein Bruder in der Roten Armee. In den 1920er Jahren – während des Bürgerkrieges – ging also ein Riss durch die Familie.
Diese Auseinandersetzung haben wir spielerisch gehabt in der Familie. Also mein Vater wollte immer ein Denkmal aufbauen für seinen Vater. Da habe ich gesagt, dann mache ich daneben ein Denkmal für meinen Großonkel, der in der Roten Armee war. Wir haben die Auseinandersetzung auch wie viele Deutsche, über die eigene Rolle in der eigenen Familie, über Wehrmacht und Widerstand und was weiß ich. Diese Auseinandersetzung, die bei der Sozialisierung vieler Linker eine Rolle spielte, habe ich vielleicht ein bisschen vor dem Hintergrund des ukrainischen Bürgerkrieges in den 1920er Jahren geführt.
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