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Titel: Der US-Beauftragte in Schloss Bellevue ist wiedergewählt

Datum: 14. Februar 2022 um 8:53 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Bundespräsident, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte
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Alle sind irgendwie zufrieden. Der wiedergewählte Bundespräsident Steinmeier hält eine eingängige Rede – zumindest in den Ohren der Mehrheit klingt das so. Und die NachDenkSeiten kritisieren. Muss das sein? Ja, es muss. Denn dieser Bundespräsident steht nicht nur in unseren Diensten. Er war von Anfang an und sogar schon in seiner Zeit als Außenminister ein deutlich erkennbarer, wenn auch klug agierender Beauftragter der westlichen Führungsmacht. Dass er so agiert, lässt sich an der Dankesrede belegen, die Steinmeier gestern nach der Wahl gehalten hat. Bevor Sie uns also gleich als Spielverderber im gängigen Spiel der freundlichen Vernebelung betrachten, sollten Sie die folgende Analyse lesen. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Indizien für die Fremdbestimmung unseres Bundespräsidenten

Hier ist das Video mit der Rede des Bundespräsidenten vom 13.2.2022

In der Anlage zu diesem Artikel finden Sie den verschrifteten Text der Rede, die der wiedergewählte Bundespräsident nach der Wahl gehalten hat.

Markante, das Thema dieser Analyse betreffende Textpassagen sind gefettet. Einige Passagen sind zum Beleg der These von der Fremdbestimmung im Folgenden gesondert zitiert:

Frieden ist nicht selbstverständlich. Er muss immer wieder erarbeitet werden, im Dialog, aber wo nötig, auch mit Klarheit, mit Abschreckung, mit Entschlossenheit. All das braucht es jetzt.

Dass Frieden immer wieder erarbeitet werden muss, ist richtig. Aber warum bleibt Bundespräsident Steinmeier nicht bei der friedenspolitisch entscheidenden Aussage des Bundeskanzlers von 1969 – „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein“? Warum wendet er sich zurück zur Konzeption des Kalten Krieges: Abschreckung? Damit, mit dem Konzept der Abschreckung und Politik der Stärke, hat der „Kanzler der Alliierten“ (Zwischenruf von Kurt Schumacher, SPD, am 25.11.1949), Konrad Adenauer, und damit haben seine Nachfolger im Kanzleramt operiert. Dieses Konzept machte den Kalten Krieg immer härter und führte letztlich zum Bau der Mauer. Erst danach leitete Willy Brandt als Außenminister und dann als Bundeskanzler mit seiner neuen Ostpolitik die Ära der Verständigung, des Sich-Vertragens ein. Im Oktober 1969 hieß die wegweisende, oben zitierte Formel dann: Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein.

Abschreckung ist im Kern kein friedenspolitisches Konzept. Selbstverständlich muss man vorsorgen, auch für den Ernstfall. Aber diese Vorsorge ist etwas ganz anderes als Abschreckung. Abschreckung enthält Drohung. Und Drohung kann nicht die Basis einer Politik des Friedens und der Verständigung sein. Abschreckung ist auch die Konzeption der USA. Man sieht hier schon die US-Nähe des amtierenden Bundespräsidenten zur Führungsmacht des Westens.

Anders als 1989 und 1990 verabredet, hat der Westen Russland aus Europa hinausgeworfen. Das haben wir auf den NachDenkSeiten schon mehrmals angesprochen und belegt. Siehe zum Beispiel hier am 09. Februar 2022: Debatte um NATO-Osterweiterung. Ein Nebenkriegsschauplatz. Russland wurde unnötig isoliert und nach alten Vorbildern zum Bösen stilisiert. Das ist deutlich das Konzept der USA und der NATO. Es liegt nicht in unserem Interesse. Der wiedergewählte Bundespräsident Steinmeier macht sich jedoch die Version von NATO und USA zu eigen. Siehe hier:

Zur Klarheit gehört eines: Man mag viel diskutieren über die Gründe der wachsenden Entfremdung zwischen Russland und dem Westen. Nicht diskutieren kann man dies: Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung!

„Russland trägt die Verantwortung“. Russland ist schuld an einem möglichen Krieg. Diese einseitige Schuldzuweisung ist eine der Voraussetzungen für die Möglichkeit eines Krieges. Dann wäre das Land zwar weitgehend zerstört, aber die Verantwortlichen können behaupten: wir waren‘s nicht. Die Russen waren‘s.

Die Schuldzuweisung an Russland liegt im Interesse der USA. Diese haben in den letzten Jahren und Jahrzehnten einen Krieg nach dem anderen geführt, die USA waren expansiv und aggressiv und sind dies auch nach einer kurzen Pause um das Jahr 1990 auch in Europa wieder geworden. Jetzt an Russland den Aggressor festzumachen, ist eine große Hilfe für die USA in der öffentlichen Auseinandersetzung. Man merkt das deutlich in der folgenden Hymne auf NATO und EU. Ihnen – und nicht der Entspannungspolitik der Sechziger- und Siebzigerjahre – wird die deutsche Einheit zugeschrieben. Das ist Grundlagen-Propaganda zugunsten der USA und der NATO:

Nicht nur in der Ukraine, in vielen Ländern Osteuropas wächst die Angst. Deshalb stehen wir an der Seite der Esten, der Letten, der Litauer; wir stehen gemeinsam mit Polen, Slowaken und Rumänen und allen Bündnispartnern: Sie können sich auf uns verlassen. Deutschland ist Teil der NATO und der Europäischen Union. Ohne sie würden wir Deutsche nicht in Einheit und Freiheit leben. Das vergessen wir nicht. Ohne jede Zweideutigkeit bekennen wir uns zu den Verpflichtungen in diesem Bündnis.

Der Eindruck der Aggressivität Russlands wird von Steinmeier weiter verstärkt. Nicht die NATO-Osterweiterung, nicht die Aggressivität des Westens gerade auch in der Ukraine im Vorfeld des Maidan – 5 Milliarden $ für NGOs usw. – sind die Ursache des gefährlichen Konflikts, nein, so Steinmeier, der russische Truppenaufmarsch ist für die Ukraine eine Bedrohung:

Russlands Truppenaufmarsch kann man nicht missverstehen. Das ist eine Bedrohung der Ukraine und soll es ja auch sein. Aber die Menschen dort haben ein Recht auf ein Leben ohne Angst und Bedrohung, auf Selbstbestimmung und Souveränität. Kein Land der Welt hat das Recht, das zu zerstören – und wer es versucht, dem werden wir entschlossen antworten!

Anders als Versuch der Bedrohung könne man den Truppenaufmarsch nicht verstehen, so Steinmeier. Man könnte es ja vielleicht auch als eine ziemlich hilflose Aktion Russlands verstehen, dem Westen ein „Bis hierher und nicht weiter“ zu signalisieren.

Offensichtlich ist der deutsche Bundespräsident nicht in der Lage und nicht willens, sich in die Lage des russischen Nachbarn zu versetzen. Dann hätte er nämlich schon verstanden, dass für Russland zum Beispiel eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine, die sehr schnell mit dem Anspruch verbunden wäre, die Krim und damit auch den von Russland gepachteten Hafen Sewastopol zurückzuholen, etwas im Kern Bedrohliches wäre.

Die Personalisierung des neuen Konfliktes mit Russland ist ein wichtiges Element und eine wichtige Hilfe für die Durchschlagskraft der westlichen Propaganda. Die gängigen Formeln: „Putin! Aber der Putin! Ich kann Präsident Putin nur warnen“. Siehe im Folgenden:

Verehrte Delegierte, unsere Gemeinschaft ist die Gemeinschaft liberaler Demokratien, die die Stärke des Rechts über das Recht des Stärkeren stellt. Ich weiß wohl: In den Augen von autoritären Herrschern gelten demokratische Institutionen als schwach. Dort, wo alle Macht in einer Hand konzentriert ist, verachtet man eine Versammlung wie diese als belangloses Ritual. Dort gelten demokratische Entscheidungsprozesse als Schwäche, das Recht als Bremsklotz, das Bemühen um Freiheit und Glück der Bürgerinnen und Bürger als naiv. Aber ich kann Präsident Putin nur warnen: Unterschätzen Sie nicht die Stärke der Demokratie!

Wichtig für die westliche Propaganda ist die Ideologisierung der Auseinandersetzung – hier die westliche schöne und gute Demokratie und dort die Autokratie, Diktatur oder was einem sonst noch einfällt. Dass der alte und der neue Bundespräsident einen so einfältigen Blick auf den Zustand der Demokratie im Westen hat, ist schon bemerkenswert. In den meisten westlichen Ländern bestimmen die Superreichen, wo es langgeht. Sie beherrschen die Medien und die Wirtschaft. Das zusammen reicht. Zur Überlagerung dieser Wirklichkeit müssen die politisch Tätigen das Gegenteil behaupten. Steinmeier macht das im weiteren Verlauf seiner Rede vorzüglich, vorzüglich im Sinne des Interesses seiner Auftraggeber:

Warum bin ich da so sicher? Unsere Demokratie ist stark, weil sie getragen wird von ihren Bürgerinnen und Bürgern. Weil sie ihre Kraft nicht mit Unterdrückung, nicht mit Drohung nach außen und Angst im Inneren erkauft. Weil sie den Menschen mehr zu bieten hat als Ideen von nationaler Größe und Herrschaft über andere.

Dann folgt im nächsten Absatz noch einmal die Personalisierung und noch einmal die Umkehrung der Verantwortung für die Krise um die Ukraine. Putin ist schuld. Er habe die Schlinge um den Hals der Ukraine gelegt. Martialischer gehts nicht. Dieser Text ist eines neu gewählten Bundespräsidenten, der sich aus der aktuellen Politik heraushalten sollte, unwürdig:

Demokratien sind nicht alle gleich, nein. Aber sie sind einander im Inneren verwandt. Und auch dies verbindet uns: Wir suchen nicht die Konfrontation nach außen. Das ist die gleichlautende Botschaft aus Washington, Paris und Berlin in diesen Tagen: Wir wollen friedliche Nachbarschaft in gegenseitigem Respekt. Bald jährt sich zum 50. Mal die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki: Möge dieser Jahrestag nicht der Anlass sein, an dem wir uns in Ost und West das Scheitern der Bemühungen um dauerhaften Frieden in Europa eingestehen müssen. Arbeiten wir im Gegenteil für die Erneuerung dieses kostbaren Erbes. Ich appelliere an Präsident Putin: Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine! Suchen Sie mit uns einen Weg, der Frieden in Europa bewahrt!

Zur Rede des Bundespräsidenten passt auch seine nächste Reise. Siehe hier der Screenshot aus seinem Reiseterminkalender:

Ergänzende Anmerkungen zum grundsätzlichen Problem der Abhängigkeit deutscher Politik von den USA und westlichen Einrichtungen wie der NATO

Es ist nichts Besonderes, sondern eher etwas Selbstverständliches, dass der oberste Repräsentant wie auch der Außenminister/die Außenministerin des wichtigsten US-Verbündeten den USA nahesteht und im besten Fall von ihnen benannt und gesteuert ist.

Versetzen Sie sich doch einfach mal in die Lage der Spitze der Weltmacht USA. Regierung, Präsident, Geheimdienst oder was auch immer – sie werden weltweit Verbündete suchen und wenn sie diese gefunden haben, dann werden ihre Beauftragten, ihre Botschafter, ihre Geheimdienste dafür zu sorgen haben, dass diese Verbündeten verbunden bleiben und in ihrem Land erfolgreich sind, und dass sie vor allem auch bei der Propaganda helfen, die mindestens die Hälfte des Erfolgs der westlichen Politik ausmacht.

Die oder der Verbündete muss nicht immer Präsident oder Regierungschef des zu steuernden Landes sein. Einfluss auf Parteien und Medien hilft auch. Vor allem muss ein Netz geflochten werden, weil andernfalls das Spiel leicht auffliegen könnte. Wie wichtig das ist, wurde gestern schlagartig zum Beispiel an dem Interview des ZDF in der Sendung „Was nun, Herr Steinmeier?“ sichtbar. Durchgehend wohlwollend, keine kritische Frage, obwohl viel zu hinterfragen gewesen wäre. Andere Medien sind ähnlich.

Die Karriere Steinmeiers war schon bis zur Wahl zum Bundespräsidenten gezeichnet von eigenartigen Ereignissen und Erfolgen

  • Steinmeier war Chef des Bundeskanzleramtes bei Bundeskanzler Gerhard Schröder. Er war wesentlich daran beteiligt, die Agenda 2010 einzuführen und durchzusetzen. Ein wichtiges Element der Durchsetzung war das sogenannte Kanzleramts-Papier, eine Streitschrift zugunsten der Agenda 2010, die unter der Ägide von Steinmeier im Kanzleramt erarbeitet worden ist und am 21. Dezember 2002 das Licht der Öffentlichkeit erblickte.
  • Gerhard Schröder hat 2005 willentlich die Wahlperiode vorzeitig beenden lassen. In den Neuwahlen siegte Angela Merkel. Steinmeier wurde Außenminister. Ich konnte mir das damals nicht erklären und kann mir das bis heute nur so erklären, dass die Alliierten ihre Hand zugunsten dieses Kandidaten im Spiel hatten. Außenpolitischer Sprecher oder Fachmann der SPD für die Außenpolitik war Steinmeier damals jedenfalls nicht.
  • Bei der nächsten Bundestagswahl im Jahre 2009 wurde Steinmeier Spitzenkandidat der SPD. Er fuhr mit 23 % eines der schlechtesten Ergebnisse der SPD seit 1949 überhaupt ein. Nur 2017 war das Ergebnis mit 20,5 % noch schlechter.
  • Für die Wahlniederlage von 2009 wurde Steinmeier mit dem Amt des SPD-Bundestagsfraktionsvorsitzenden belohnt. Rätselhaft. Ohne besondere Protektion ist das nicht möglich.
  • Als es dann 2013 trotz magerem Wahlergebnis – SPD 25,7 %, CDU/CSU 41,5 % – wieder die Chance gab, Ministerämter zu besetzen, wurde der erfolglose Fraktionsvorsitzende wieder Außenminister. Ohne besondere Protektion geht das nicht.
  • 2017 wurde dann Frank-Walter Steinmeier Kandidat für die Wahl des Bundespräsidenten. Er hatte dafür auch die besondere Unterstützung der Bundeskanzlerin Angela Merkel von der CDU.

Eine rundum sonderbare Karriere. Aus meiner Sicht nicht verständlich, wenn man die eigentlich Mächtigen im Hintergrund nicht sieht.

Ins Bild der besonderen Beziehungen des deutschen Bundespräsidenten und früheren Chefs des Bundeskanzleramtes zu unseren amerikanischen Freunden passt übrigens auch sein Verhalten im Umgang mit dem US-Guantanamo-Gefangenen und deutschen Staatsangehörigen Kurnaz. Die FAZ berichtete am 11.2.2017 über diesen Vorgang: ‚ANWALT BERNHARD DOCKE: „Steinmeier wollte Kurnaz nicht aus Guantanamo holen“‘.

Schlussbilanz: Wenn man den heute erkennbaren Konflikt zwischen dem Westen und Russland für gefährlich und bedrohlich hält, dann muss man Menschen in die Auseinandersetzung schicken können, die fähig und bereit sind zu Vermittlung, insbesondere solche, die fähig sind, sich in die Lage des Anderen zu versetzen. Die oben zitierten Äußerungen aus Steinmeiers Dankesrede von gestern zeugen davon, dass Steinmeier dazu nicht willens und/oder nicht fähig ist. Daraus kann man und muss man wohl auch den Schluss ziehen, dass er im Kern nicht für eine Deeskalation ist. Das ist schlimm, zumal Bundesaußenministerin Baerbock ebenfalls ausfällt und die neuen Wendungen des Bundeskanzlers Scholz davon zeugen, dass sein entspannungspolitisches Rückgrat biegsam ist.

Anlage

Berlin, 13. Februar 2022

Rede des wiedergewählten Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier

Ich danke Ihnen! Ich danke für das Vertrauen derer, die für mich gestimmt haben. Und ich bitte um das Vertrauen derer, die es heute nicht tun konnten. Das Amt des Bundespräsidenten ist ein überparteiliches, und ich verspreche Ihnen: So werde ich es weiterführen. Meine Verantwortung gilt allen Menschen, die in unserem Land leben. Überparteilich werde ich sein, ja – aber ich bin nicht neutral, wenn es um die Sache der Demokratie geht. Wer für die Demokratie streitet, der hat mich auf seiner Seite. Wer sie angreift, wird mich als Gegner haben!

Dass Sie mir dieses Amt für weitere fünf Jahre anvertrauen, bewegt mich sehr. Es ist mir eine Ehre, eine Freude. Meine Freude aber wäre größer, wenn die Bundesversammlung unter anderen Bedingungen stattfinden könnte, ohne die Beschränkungen der Pandemie. Aber wichtiger noch: Meine Freude wäre größer, wenn unsere Bundesversammlung nicht in eine Zeit der Sorge fiele, Sorge um den Frieden in Europa.

Die Abwesenheit von Krieg auf unserem Kontinent war uns zur Gewohnheit geworden – geschützt von Freunden, in Frieden mit den Nachbarn, seit über dreißig Jahren wiedervereint. Welch ein Glück für unser Land! Doch in diesen Tagen lernen wir neu, was wir hätten wissen können: Frieden ist nicht selbstverständlich. Er muss immer wieder erarbeitet werden, im Dialog, aber wo nötig, auch mit Klarheit, mit Abschreckung, mit Entschlossenheit. All das braucht es jetzt.

Zur Klarheit gehört eines: Man mag viel diskutieren über die Gründe der wachsenden Entfremdung zwischen Russland und dem Westen. Nicht diskutieren kann man dies: Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung!

Russlands Truppenaufmarsch kann man nicht missverstehen. Das ist eine Bedrohung der Ukraine und soll es ja auch sein. Aber die Menschen dort haben ein Recht auf ein Leben ohne Angst und Bedrohung, auf Selbstbestimmung und Souveränität. Kein Land der Welt hat das Recht, das zu zerstören – und wer es versucht, dem werden wir entschlossen antworten!

Nicht nur in der Ukraine, in vielen Ländern Osteuropas wächst die Angst. Deshalb stehen wir an der Seite der Esten, der Letten, der Litauer; wir stehen gemeinsam mit Polen, Slowaken und Rumänen und allen Bündnispartnern: Sie können sich auf uns verlassen. Deutschland ist Teil der NATO und der Europäischen Union. Ohne sie würden wir Deutsche nicht in Einheit und Freiheit leben. Das vergessen wir nicht. Ohne jede Zweideutigkeit bekennen wir uns zu den Verpflichtungen in diesem Bündnis.

Verehrte Delegierte, unsere Gemeinschaft ist die Gemeinschaft liberaler Demokratien, die die Stärke des Rechts über das Recht des Stärkeren stellt. Ich weiß wohl: In den Augen von autoritären Herrschern gelten demokratische Institutionen als schwach. Dort, wo alle Macht in einer Hand konzentriert ist, verachtet man eine Versammlung wie diese als belangloses Ritual. Dort gelten demokratische Entscheidungsprozesse als Schwäche, das Recht als Bremsklotz, das Bemühen um Freiheit und Glück der Bürgerinnen und Bürger als naiv. Aber ich kann Präsident Putin nur warnen: Unterschätzen Sie nicht die Stärke der Demokratie!

Warum bin ich da so sicher? Unsere Demokratie ist stark, weil sie getragen wird von ihren Bürgerinnen und Bürgern. Weil sie ihre Kraft nicht mit Unterdrückung, nicht mit Drohung nach außen und Angst im Inneren erkauft. Weil sie den Menschen mehr zu bieten hat als Ideen von nationaler Größe und Herrschaft über andere.

Demokratien sind nicht alle gleich, nein. Aber sie sind einander im Inneren verwandt. Und auch dies verbindet uns: Wir suchen nicht die Konfrontation nach außen. Das ist die gleichlautende Botschaft aus Washington, Paris und Berlin in diesen Tagen: Wir wollen friedliche Nachbarschaft in gegenseitigem Respekt. Bald jährt sich zum 50. Mal die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki: Möge dieser Jahrestag nicht der Anlass sein, an dem wir uns in Ost und West das Scheitern der Bemühungen um dauerhaften Frieden in Europa eingestehen müssen. Arbeiten wir im Gegenteil für die Erneuerung dieses kostbaren Erbes. Ich appelliere an Präsident Putin: Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine! Suchen Sie mit uns einen Weg, der Frieden in Europa bewahrt!

Unsere Demokratie ist stark – und auch die heutige Versammlung ist ein selbstbewusster Ausdruck dieser Stärke. Schauen Sie sich um in dieser großen Runde: Dass Sie alle heute hier sind, aus allen Teilen unseres Landes, allen Widrigkeiten der Pandemie zum Trotz, das zeigt: Wir achten unsere demokratischen Institutionen. Wir wissen, dass diese Demokratie von der Vielfalt lebt, die Sie alle heute repräsentieren.

Und diese Versammlung zeigt noch etwas: Es gibt in diesem Land, jenseits der Logik von Regierung und Opposition, eine ganz breite Mehrheit für die Stärkung unserer Demokratie. So verstehe ich Ihren Auftrag. Und dafür will ich mein Bestes geben!

Ich will an dieser Stelle aber auch meinen Respekt ausdrücken für meine Mitbewerberin und Mitbewerber in dieser Wahl. Gestatten Sie mir, sehr geehrter Professor Trabert, noch ein zusätzliches Wort. Sie haben mit Ihrer Kandidatur auf ein Thema aufmerksam gemacht, das mehr Aufmerksamkeit verdient: die Lage der Ärmsten und Verwundbarsten in unserem Land. Dafür gebührt Ihnen nicht nur Respekt, sondern ich hoffe, dass Ihr Impuls erhalten bleibt. Das Thema Obdachlosigkeit beschäftigt uns beide – Sie wissen es – seit langer Zeit. Warum schauen wir nicht, ob wir diesem drängenden Thema gemeinsam mehr Aufmerksamkeit verschaffen können? Ich würde mich freuen, wenn wir darüber ins Gespräch kämen.

Verehrte Delegierte, unterschätzen wir nicht die Stärke der Demokratie. Aber unterschätzen wir auch nicht die Herausforderungen, vor denen sie steht! Gegner der Demokratie, von außen und von innen, säen in der Pandemie Zweifel an unserer Handlungsfähigkeit, an unseren Institutionen, an der freien Wissenschaft und den freien Medien.

Ja, es stimmt: Unser Weg heraus aus der Pandemie ist kein geradliniger. Es gab Fehler und Fehleinschätzungen, auch bei uns. Aber man zeige mir ein autoritäres System, das besser durch die Pandemie gekommen wäre! Oder haben sich die selbsternannten starken Männer aller Welt nicht in Wahrheit selbst entzaubert in dieser Krise? Standen die Kaiser mit ihren protzigen Kleidern, mit ihren Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien, nicht am Ende ziemlich nackt da? Der entscheidende Durchbruch im Kampf gegen die Pandemie, die Impfstoffentwicklung in Rekordzeit – die gelang hier, in der freien Wissenschaft, dank brillanter Forscherinnen und mutiger Unternehmer, hier in Mainz, in Deutschland, mit unseren Partnern in Europa und den USA. Wir sollten, bei aller notwendigen Selbstkritik, unser Licht nicht unter den Scheffel stellen!

Wenn ich auf unser Land blicke, dann sehe ich Menschen, die sich Monat für Monat durch diese Pandemie kämpfen – und zwar nicht, weil sie mit eiserner Hand dazu gezwungen werden. Sondern weil sie immer wieder selbst darum ringen, das Richtige zu tun, durchzuhalten, anzupacken! Die übergroße Mehrheit in unserem Land handelt verantwortungsvoll und solidarisch – seit zwei langen Jahren, die sich für viele anfühlen wie eine Ewigkeit. Als Ihr alter und Ihr neuer Bundespräsident möchte ich Ihnen von Herzen danken für diesen großen, gemeinsamen Kraftakt. Ganz herzlichen Dank dafür!

Aber – wir spüren auch das andere. Wir spüren: Nach zwei Jahren Pandemie macht sich Frust breit, auch Enttäuschung, zunehmend Gereiztheit. Wir haben uns aufgerieben im Streit um den richtigen Weg, im Streit weit über die Politik hinaus: in den Betrieben, an den Schulen, unter Freunden, Kollegen, bis hinein in jede Familie. Die Pandemie hat tiefe Wunden geschlagen in unserer Gesellschaft. Ich möchte dabei helfen, diese Wunden zu heilen.

Aber denen, die Wunden aufreißen, die in der Not der Pandemie Hass und Lügen verbreiten, die von “Corona-Diktatur” fabulieren und sogar vor Bedrohung und Gewalt nicht zurückschrecken, gegen Polizistinnen, Pflegekräfte oder Bürgermeister – denen sage ich: Ich bin hier, ich bleibe. Ich werde als Bundespräsident keine Kontroverse scheuen. Demokratie braucht Kontroverse. Aber es gibt eine rote Linie und die verläuft bei Hass und Gewalt. Und diese rote Linie müssen wir halten in diesem Land!

Ich fürchte, die Gegner der Demokratie werden nach der Pandemie nicht leiser werden, sie werden sich neue Themen suchen und vor allem neue Ängste, von denen es reichlich gibt in dieser Zeit: Werden unsere Kinder noch denselben Lebensstandard haben wie wir heute? Kann ich Schritt halten mit dem Lauf der digitalen Welt? Fällt unser Land hinten runter im globalen Wettbewerb? Solche Sorgen sind Nährboden für die, die mit der Angst ihr politisches Geschäft betreiben. Und ich fürchte, sie tun es auch mit dem großen Thema unserer Zeit: dem Kampf gegen den Klimawandel. Diese große Aufgabe, die Transformation hin zu einer nachhaltigen Lebensweise auf unserem Planeten, die sucht kein Land, keine Regierung sich einfach aus. Sie ist nicht weniger als die Überlebensfrage der Menschheit.

Und diese Aufgabe bringt uns in eine Epoche des Aufbruchs und des Umbruchs. Mehr Aufbruch, hoffen manche; mehr Umbruch, fürchten andere. Ich bin überzeugt: Wenn wir aus den großen Umbrüchen einen gemeinsamen Aufbruch machen wollen, dann geht das nicht durch staatliche Verordnung allein. Dann müssen wir Brücken bauen! Brücken bauen zwischen den Generationen; zwischen den Alteingesessenen und denen, die neu hinzukommen; Brücken zwischen Start-Up und Hochofen; zwischen Großstadt und plattem Land; zwischen den Gesprächen in der Kneipe und denen in Brüssel und Berlin. Kurzum: Wir brauchen Brücken in Richtung Zukunft, die breit und stark genug sind, dass wirklich alle darüber gehen können. Dafür will ich arbeiten! Und ich will das Gespräch darüber mitnehmen ins ganze Land, in die Winkel unserer Gesellschaft, fernab vom Selbstgespräch der Hauptstadt, das viele nicht erreicht. Ich will Orte besuchen, an denen Menschen Verluste erleben – und, ja: Es gibt Verluste. Es gibt Orte, die sich völlig neu erfinden müssen. Keiner dieser Orte liegt am Rand der Gesellschaft. Sie alle braucht es für die Zukunft. Sie alle braucht es für einen neuen Zusammenhalt. Es bleibt unsere Erfahrung: Transformation wird nur gelingen, wenn auch die Schwächeren etwas zu gewinnen haben. Und es bleibt unsere Gewissheit: Jeder, den wir verlieren, fehlt der Demokratie!

Solche Gespräche brauchen vor allem eines: Zeit. Die müssen wir uns nehmen, wenn wir nicht dauerhaft aneinander vorbeireden, wenn wir uns nicht in falschen Konflikten verlieren wollen. Ich werde mir diese Zeit nehmen, und auf Zeit-Reise gehen durch unser Land.

Der Übergang meiner Amtszeit fällt auf den 18. März, den Tag der Märzrevolution und der ersten freien Wahlen in der DDR. An diesem stolzen Tag unserer Demokratiegeschichte beginne ich meine Reise durch die Regionen, und verbringe – sehr bewusst – den ersten Tag der neuen Amtszeit in Ostdeutschland. Ich freue mich darauf.

Liebe Delegierte, das Vertrauen, das Sie diesem Amt und das Sie mir entgegenbringen, ist ein kostbares Geschenk. Ich verspreche Ihnen: Ich werde behutsam und respektvoll damit umgehen.

Ein Bundespräsident kann alte Gewissheiten nicht zurückholen. Natürlich nicht. Aber er kann helfen, Zukunftsangst zu nehmen und Zuversicht zu geben. Er kann daran erinnern, wie viele Krisen wir in siebzig Jahren erfolgreich überwunden haben, wie die Ostdeutschen eine Diktatur zu Fall brachten, wie wir an einem vereinten Europa mitgebaut haben. Er kann Menschen Mut machen, Verantwortung zu übernehmen, ihnen den Rücken stärken, wo immer sie sich engagieren und Lösungen suchen für die Probleme unserer Zeit.

Vertrauen in Demokratie ist doch am Ende nichts anderes als Vertrauen in uns selbst. In unserem Grundgesetz steht schließlich nicht: “Alles Gute kommt von oben”, sondern da steht: “Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.” Das ist das Versprechen unserer Verfassung an uns Bürger. Aber darin liegt auch ein Versprechen zwischen den Bürgerinnen und Bürgern: “Zieh Dich nicht zurück, sondern übernimm Verantwortung.” Das ist die doppelte Natur der Demokratie: Sie ist Versprechen und Erwartung zugleich. Demokratie ist eine Zumutung.

Und Mut zu machen zu dieser Zumutung – das genau ist meine Aufgabe.

Es gibt manche, die sagen, die liberale Demokratie sei auf dem Abstieg. Dieses Jahrhundert, sagen andere, werde das Zeitalter der Autoritären, der harten Hand. Sie merken es: Ich halte nichts von solchen Abgesängen.

Nein, nur eines ist gewiss: Die Zukunft ist offen. Und auf diese Offenheit hat niemand, kein Autokrat und keine Ideologie, bessere Antworten als die Demokratie.

Also: Machen wir uns nicht selbst klein! Seien wir nicht ängstlich! Packen wir die Zukunft bei den Hörnern! Mögen die Autoritären doch ihre Eispaläste und Golfressorts bauen. Nichts davon ist stärker, nichts leuchtet heller als die Idee der Freiheit und Demokratie in den Köpfen und Herzen der Menschen!

Jede und jeder von Ihnen, hier im Saal und im ganzen Land, jeder, der sich um mehr kümmert als nur sich selbst – der gewinnt ein Stück Zukunft für uns alle.

Jeder und jede, die sich engagiert – im Beruf oder im Ehrenamt, im Gemeinderat oder im Verein – der kämpft den Kampf um die Zukunft der Demokratie!

Jede und jeder, der anpackt, im Großen und im Kleinen – der bringt die Kraft der Demokratie zum Leuchten!

Liebe Landsleute: Gehen wir‘s gemeinsam an. Ich freue mich auf das, was vor uns liegt!


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