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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Von Giorgio Agamben, über Karl Heinz Roth bis zu ‚verlockenden‘ Endzeitstimmungen
Datum: 30. Januar 2022 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Innen- und Gesellschaftspolitik, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Redaktion
Vieles an der Corona-Politik der Bundesregierung ist widersprüchlich, wissenschaftlich evidenzlos, kurzum haarsträubend. Das verleitet einige dazu, anzunehmen, dass die Bundesregierung kopflos sei und dabei selbst die ‚Wirtschaft‘ mit in den Abgrund reißen würde. Dieser Erklärungsversuch deckt mehr zu als auf. Von Wolf Wetzel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Giorgio Agamben ist ein italienischer Philosoph, der in der Debatte der 1970er und 1980er Jahre eine wichtige Rolle spielte: Dazu gehört auch sein Buch „Ausnahmezustand“, das ich zum Geburtstag geschenkt bekommen habe – mitten im Lockdown 2021. Er ist mir als wichtige Quelle bekannt, bei dem Versuch, den „Deutschen Herbst“ 1976/77, die „Krisenstab-Diktatur“ gegen das Virus RAF (Rote-Armee-Fraktion) oder den Ausnahmezustand nach „9/11“ (2001) einzuordnen.
Ehrlich gesagt, haben wir nicht viel von den Ausführungen des italienischen Philosophen verstanden, den Grundtenor hingegen schon: Ausnahmezustände verschwinden nicht mit ihrem Anlass, sondern nutzen ihn, um in einen Normalzustand überführt zu werden. Dazu gehört u.a. ein solcher Satz, dass sich der Ausnahmezustand als die legale Form dessen zeige, „was keine legale Form annehmen kann.“ (S.7) Ein sehr komplexer Gedanke, der nicht gerade nach sofortigem Applaus ruft.
Ein ganzes Stück leichter ist seine Aussage zu verstehen und zu übertragen:
„Angesichts der unaufhaltsamen Steigerung dessen, was als ‚weltweiter Bürgerkrieg‘ bestimmt worden ist, erweist sich der Ausnahmezustand in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens.“ (S.9)
Und noch etwas war für uns eine zentrale Erkenntnis: Die politischen, repressiven und extra-legalen Maßnahmen zielen weit über den Anlass, die Zerschlagung der RAF, über 9/11 (2001) hinaus. Sie haben so etwas wie eine „gesellschaftssanitäre“ (Ex-BKA-Chef Herold) Dimension. Nun kommt noch eine weitere Person aus den 1970er und 1980er Jahren dazu: Karl Heinz Roth. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass er sich mit dem Buch „Blinde Passagiere. Die Corona-Krise und die Folgen“ (2022) zu Wort meldet.
Karl Heinz Roth ist aus vielerlei Hinsicht ein richtig echter Experte, also auf jeden Fall kein Mietmaul. Er kann fach- und disziplinübergreifend viel zu diesem komplexen Thema sagen: Er hat Medizin studiert und hat jahrzehntelang als Arzt gearbeitet, verfügt also durchaus von „Haus aus“ über medizinische Kenntnisse, die er einbringen kann.
Er ist noch aus einem weiteren Grund ein wertvoller Autor. Er hat eine militante Geschichte, die er bis heute nicht verleugnet, aus der heraus er die heutigen Entwicklungen analysiert, in die er Ereignisse einordnet. Am 9. Mai 1975 geriet Karl Heinz Roth in Köln in eine Polizeikontrolle. In seiner Begleitung war Werner Sauber, ein Mitglied der ‚Bewegung 2. Juni‘. Es kam zu einem Schusswechsel, bei dem Werner Sauber und der Polizist Walter Pauli getötet wurden. Karl Heinz Roth selbst wurde lebensgefährlich verletzt und wegen Mordes angeklagt. 1977 wurde er freigesprochen.
Karl Heinz Roth ist also jemand, der nicht nur das aufgegriffen hat, was in der politischen Szene mit und nach ‚19/68‘ gerade en vogue war. Er gehört zu den Menschen, die ihre eigene politische Praxis mit sehr viel theoretischer Arbeit und Analyse ergänzt bzw. miteinander verbunden haben. Er gehört zu den Mitbegründern der Zeitschrift „Autonomie – Materialien gegen die Fabrikgesellschaft“. Sie war für uns junge Autonome ein ganz wichtiger Aussichtsturm, um über unsere eigene politische Praxis hinauszublicken. Nicht alles verstanden wir, aber wir gaben uns Mühe. Kurzum, Karl Heinz Roth ist eben auch ein exzellenter Theoretiker.
All das ist ungemein wichtig, wenn man die Corona-Politik und die staatlichen Maßnahmen eben nicht nur medizinisch zu verstehen versucht, sondern gerade auch in ihrem staatsimmanenten und klassentheoretischen Zusammenhang einordnen will.
In seinem neuen Buch widmet er ein Kapitel Giorgio Agambens „Endzeitvisionen“. Ich bin sehr, sehr froh über diesen Einwurf, der ganz ruhig und klar zwei zentralen Thesen von Agamben zu Corona-Zeiten widerspricht. Die erste bezieht sich auf die gegenwärtige Corona-Pandemie. Ich war selbst erstaunt und irritiert, auf welche Weise Agamben diese zu einer Inszenierung macht. Dieses Bild von einer ‚erfundenen Pandemie‘ wird recht oft auch von denen genutzt, die den staatlichen Corona-Maßnahmen und dem mit Corona begründeten Ausnahmezustand widersprechen.
Ich kann den Reflex verstehen, wenn man das Trommelfeuer der gewollten und sehr durchdachten „Furchtappelle“ und „Angst-Narrative“ vor Augen hat, die landauf landab verbreitet werden. Auch wenn diese Überdosis verleitet, sollte man ihr auf keinen Fall erliegen: Es gibt diese Pandemie (in welchem Ausmaß auch immer) und es gibt die Angst, die für ganz andere Vorhaben instrumentalisiert wird.
Um Letzteres entschieden zu kritisieren, muss jedoch nicht die Pandemie zu einer Erfindung erklärt werden. Wenn man dies zum Ausgangspunkt macht, dann ist es unsere Aufgabe, die Maßnahmen, die der Bekämpfung/Eindämmung der Pandemie dienen, zu unterscheiden von jenen, die keinen medizinischen Sinn ergeben. Und natürlich muss man sich dann noch einer weiteren Schwierigkeit und Herausforderung stellen: Man muss (gemeinsam) eine Vorstellung entwickeln, wie man eine Pandemie bekämpft, ohne diese zum Spielball eines autoritären Maßnahmestaates zu machen. Das setzt – und das ist sicherlich angesichts der vulnerablen Linken eine große Aufgabe – eine Vision von einer Gesellschaftlichkeit voraus, die gerade auch in einer Krise nicht Leviathans Staat bekniet und begrüßt, sondern ein wirklich gemeinschaftliches Handeln und Denken stark macht, das nicht der Logik der Einschränkung der Handlungsmacht aller Vereinzelten folgt, sondern der Ausdehnung, der Ermächtigung des Kommunitären.
Der zweite Punkt ist analytisch und in seiner Ausdeutung sehr wichtig, denn er hat tatsächlich fatale Folgen. Wenn es die Pandemie gar nicht gibt, der Staat aber dennoch – nach Agamben – die Wirtschaft in den Ruin treibt, dann hätte der Staat seine wesentliche Aufgabe, die „Wirtschaft“ zu fördern, das Akkumulationsregime zu schützen, völlig aus dem Blick verloren. Bemerkenswerter Weise gibt es diese Argumentationsfigur auch in den Reihen der QuerdenkerInnen: Der Staat ruiniere die ‚Wirtschaft‘, laufe also gegen seine eigene Bestimmung Amok und würde uns Menschen mit in den Untergang reißen. Diese Erklärung hat nicht nur etwas Biblisches. Sie hat auch etwas Verlockendes. Irgendetwas Mysteriöses hat demnach den Staat befallen, also etwas, was nicht in der Logik dieses kapitalistischen Systems passiert, sondern von irgendwo andersher kommt. Diese Argumentationsfigur lädt geradezu ein, irgendwelche geheimen, im Verborgenen agierende Mächte für diesen Irrsinn verantwortlich zu machen.
Warum stellt man dann nicht die folgenden Fragen: Was sollte den Staat in ein Selbstmordkommando verwandeln? Welche Umstände sollten daran schuld sein, dass der Staat den Kopf verliert? Warum sollte er ausgerechnet jetzt, in der Krise, die Interessen der Wirtschaft nicht ganz oben auf seiner Agenda halten? Mit ‚Wirtschaft‘ ist nicht ein Café oder ein Kunst-Kultur-Kleinbetrieb gemeint, sondern die systemrelevanten Teile des Kapitals, die bereits in der Finanzkrise 2008ff mit Milliarden-Hilfen gestützt und gestärkt wurden.
All diese naheliegenden Fragen beantwortet Agamben nicht. In dieser auch von ihm selbst beförderten Unerklärlichkeit liegt in allerletzter Konsequenz etwas Schicksalhaftes, gegen das man eh nichts mehr machen kann. Karl Heinz Roth folgt den düsteren Prophezeiungen leicht ironisch:
„Wenn alles der technokratischen Diktatur der Kontrollen, Verbote, Experten und Ärzte unterworfen sei, bedürfe es der neuen Horizonte der Verheißungen nicht mehr. Nur noch Panik und Schurkerei sowie deren Personifikationen, die Mönche und Schurken, bestimmten das neu heraufziehende Zeitalter.“
Das Bild von einem durchdrehenden Staat, der selbst die Wirtschaft mit in den Abgrund reißt, ist – wie bereits angerissen – auch eine beliebte und weit verbreitete Argumentationsfigur – gerade auf Seiten der Rechten, was bis ins postfaschistische Lager hineinreicht: Dort ist das Bild einer politischen Klasse/Elite vorherrschend, die nur noch um ihrer selbst willen regiert, korrupt ist und aus purem Eigennutz alle mit in den Abgrund reißt.
Karl Heinz Roth teilt dieses Bild nicht: „Auch für die Tatsache, dass die Akteure des politischen Systems zeitweilig ihre eigene materielle Machtbasis, die Gesamtheit des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, weitgehend lahmlegten und eine schwere Wirtschafts- und Schuldenkrise auslösten, verlangt nach anderen Erklärungen statt der von Agamben vertretenen Hypothese einer die Gesellschaftlichkeit zerstörenden absoluten Machtentfaltung ‚schurkischer Souveräne‘.“
Dennoch hat das Bild etwas sehr Verlockendes, und zwar aufgrund seines sehr hohen Verdunklungsanteils. Worin besteht er? Nun, wenn die politische Elite an allem schuld ist und selbst die Wirtschaft ihr zum Opfer fällt, dann hat die Krise nichts mit Kapitalismus zu tun, sondern ausschließlich mit korrupten Politikern (wozu sich die ehemaligen und neuen Gesundheitsminister Spahn und Lauterbach hervorragend eignen). Dann ist die Lösung der Krise eine ganz einfache: Man braucht nur noch ehrliche, ganz saubere Politiker – für die sich gerade rechte und postfaschistische Politiker wie Ariel-Brüder anbieten.
Vielleicht ist Agamben auch den Bildern, der Bildermacht erlegen: Der Lockdown in all seinen verschiedenen Varianten hat überhaupt nicht ‚die Wirtschaft‘ getroffen – im Gegenteil: Die Lockdowns und die aktuellen 1-2-G-Plus-Sanktionen zielen im Wesentlichen auf den Privat-/Freizeitbereich (also das Leben nach der Lohnarbeit), zum Schutz des Produktionsbereiches, der großen Fabriken, der maßgeblichen Glieder in der Wertschöpfungskette:
„Der Volkswagen-Konzern hat das schwierige Geschäftsjahr 2020 mit einem Milliarden-Gewinn abgeschlossen: Rund 8,8 Milliarden Euro bleiben nach Steuern in der Kasse.“ (ndr.de vom 16.3.2021)
„Mit einer Umsatzrendite von 14,6 Prozent dürfte Porsche der am besten verdienende Serien-Fahrzeughersteller der Welt sein. Die Mitarbeiter, die vor einem Jahr in ihrer Kurzarbeitsphase mit der freudigen Nachricht überrascht wurden, dass sie fürs Vorjahr eine Prämie von 10.000 Euro erhalten (was entsprechende Diskussionen in Politik und Gesellschaft entfacht hatte), bekommen nach der überraschenden Aufholjagd im Corona-Jahr wieder einen hohen Bonus. Pro Mitarbeiter würden bis zu 7850 Euro bezahlt, kündigte Porsche-Vorstandschef Oliver Blume in der Präsentation an, ohne ins Detail zu gehen.“ (faz.net vom 19.3.2021)
Und dass der Impfstoff vor allem ein gigantisches profitables Geschäft ist, beweist Biontech:
„Biontech sorgt für ein Achtel des deutschen Wirtschaftswachstums (…) ‚Biontech könnte in diesem Jahr rund 0,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) beitragen‘, sagte der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), Sebastian Dullien (…). Viele Experten trauen Europas größter Volkswirtschaft in diesem Jahr ein Wachstum von etwa 4 Prozent zu, wovon laut Dullien etwa ein Achtel allein auf Biontech entfallen könnten. ‚Ich kann mich an keinen Fall erinnern, in dem ein Unternehmen einen solchen Einfluss auf das deutsche BIP hatte‘, sagte Dullien. Als Makroökonom picke er sich normalerweise keine Unternehmen heraus. ‚Manchmal gibt es jedoch seltene Fälle, in denen einzelne Unternehmen eine gesamtwirtschaftliche Relevanz haben‘, sagte der Wissenschaftler. ‚Biontech ist so ein seltenes Beispiel.‘ (…) Das Geschäft mit dem Vakzin beflügelte das Mainzer Unternehmen: Im zweiten Quartal setzte Biontech dank des Impfstoffgeschäfts 5,31 Milliarden Euro um nach lediglich 41,7 Millionen Euro im gleichen Vorjahreszeitraum. Der Nettogewinn betrug 2,79 Milliarden Euro nach einem Verlust von 88,3 Millionen Euro ein Jahr zuvor.“ (manager-magazin.de vom 10.8.2021)
Und dass die vorherrschende Pandemie-Bekämpfung vor allem die Armen noch ärmer macht und die Reichen noch reicher, ist kein Zufall, kein Missgeschick, sondern ein globales kapitalistisches Prinzip:
„Während der Pandemie konnten die zehn reichsten Milliardäre ihr Vermögen auf insgesamt 1,5 Billionen Dollar verdoppeln. Gleichzeitig leben 163 Millionen Menschen wegen der Pandemie in Armut. Diese Ungleichheit tötet jedes Jahr Millionen Menschen, etwa weil sie keine adäquate medizinische Versorgung bekommen. Für Milliardär*innen gleicht die COVID-19-Pandemie einem Goldrausch. Regierungen haben Milliarden in die Wirtschaft gepumpt, doch ein Großteil ist bei Menschen hängengeblieben, die von steigenden Aktienkursen besonders profitieren. (…) Auch in Deutschland hat die Corona-Pandemie die Ungleichheit verschärft: Das Vermögen der 10 reichsten Personen ist seit Beginn der Pandemie von rund 144 Milliarden auf etwa 256 Milliarden US-Dollar gewachsen. Allein dieser Gewinn entspricht annähernd dem Gesamtvermögen der ärmsten 40 Prozent, also von 33 Millionen Deutschen. Währenddessen erreicht die Armutsquote in Deutschland mit 16,1 Prozent einen Höchststand.“ (oxfam.de vom 17.1.2022)
Dass die deutsche Bundesregierung in diesem Ranking nicht ganz unten steht, sondern ganz oben, bestätigen die Geschäfts- und Bilanzdaten: Der Grundgedanke der deutschen Bundesregierung war und ist, dass die Dax-30-Unternehmen gestärkt aus der Krise hervorgehen. Und daran hat sich die Bundesregierung gehalten. Zum einem gab es dort keine Lockdowns, zum anderen wurden Milliardenhilfen dafür ausgegeben, dass die internationale Rezession nicht auf die führenden deutschen Unternehmen durchschlägt.
Nichts daran war also irrsinnig, sondern folgt einer sehr strikt eingehaltenen Staatslogik, dass der Schutz der Wertschöpfungskette Vorrang gegenüber dem Schutz vor einer Pandemie hat. Der Virologe und TV-Star der ersten Stunde Christian Drosten hat dies sehr klar formuliert:
„Wir haben da im Moment über all die Verhandlungen mit verschiedenen Interessengruppen gegenüber der Politik in Deutschland eine etwas schief verteilte Situation. Wir wissen alle, das Arbeitsleben ist relativ wenig eingeschränkt. Das Freizeitleben ist stark eingeschränkt. Das ist die Gewichtung, die wir in Deutschland gesamtgesellschaftlich so gewählt oder erreicht haben. Natürlich ist das, was jetzt als Bundesnotbremse bezeichnet wird, dann noch mal eine stärkere Verschärfung in den Bereichen gerade außerhalb dieses Wirtschaftslebens, wenn es eben um Ausgangssperren geht. (…). Das sind so Gebiete, in denen eigentlich schon Reduktionen gemacht worden sind und wo man jetzt noch mal die Reduktionen verstärkt. Man hätte das natürlich auch anders wählen können. Man hätte auch in anderen Gebieten des Erwerbslebens, der Wirtschaft stärkere Reduktion machen können. (…) Wenn man solche Maßnahmen gleichmäßig in allen Bereichen verteilt, dann haben sie auch eine stärkere Gesamtwirkung, als wenn man nur an einem Ende ganz stark quetscht und am anderen Ende alles noch so lässt wie vorher.“
Christian Drosten wusste, was das für ein medizinischer Irrsinn ist:
„Na ja, also man kann das (das Wirtschaftsleben, d.V.) mehr in den Blick nehmen. Man kann an diesen Stellen auch Maßnahmen der Kontaktreduktion verhängen. Aber das hätte natürlich Auswirkungen auf bestimmte Wirtschaftszweige. Da geht es um Lieferketten und Produktion und so weiter. Das sind eben Bereiche der Wirtschaft, die man nicht von zu Hause vom Homeoffice machen kann. (…) Alle diese Dinge bedingen sich natürlich. Die kann man so beschreiben. Sollte man aber nicht als Wissenschaftler tun, sondern vielleicht eher aus anderen Kompartimenten der Gesellschaft. Kann man auch kritisieren und anprangern. Und man kann Änderungen fordern. Aber ich glaube, im Moment ist es vor allem wichtig, dass man sich klarmacht, wie es ist.“
Das hat Christian Drosten im April 2021 gesagt. Bei aller Druckserei kann man den Kern seiner Aussage kaum missverstehen. Interessant daran ist allerdings, dass dies weder bei den Lockdown-Befürwortern offen diskutiert wurde noch bei all denen hinreichend angekommen ist, die gegen die Grundrechtseinschränkungen demonstrieren. Man kann es auch deutlicher formulieren: Es gibt ‚etwas‘, was die Pole auf bedenkliche und sicherlich ungewollte Weise nahe aneinander bringt. Was ist das ‚etwas‘?
Die Befürworter der Corona-Maßnahmen (einschließlich Lockdown) wollen unter allen Umständen ausblenden, dass die systemrelevanten Bereiche des Produktionsbereichs (dort gab es keinerlei verbindliche Maßnahmen) absolute Priorität haben. Gelingt das nicht, wäre ein ganz zentrales Narrativ verbrannt: Der Regierung gehe es vor allem um den Schutz der Menschen.
Und auf Seiten von Corona-Maßnahmen-Gegnern hat das gut genährte Bild von den korrupten Politikern, die selbst die Wirtschaft an die Wand fahren, einen hohen Selbstschutzfaktor: Wenn die Maßnahmen in Wirklichkeit vor allem im Sinne der (systemischen) Wirtschaft getroffen wurden und werden, müsste man darüber nachdenken, wer in diesem Land das Sagen hat, worauf es ankommt.
Dann steckt in fast allen Corona-Maßnahmen mehr Kapitalismus, als uns allen lieb ist. Dann reicht es eben auch nicht, die korrupten Politiker zum Teufel zu schicken! Dann muss man auch über einen Kapitalismus nachdenken, den man eigentlich ganz gut findet, wenn nur andere seine zerstörerische Kraft zu spüren bekommen. Dann geht es eben nicht mehr darum, zu dem Kapitalismus zurückzukehren, mit dem man (gut) leben kann, sondern selbst diesen infrage zu stellen.
Titelbild: Viacheslav Lopatin/shutterstock.com
Quellen und Hinweise:
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