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Titel: Think-Tank-Falken als „Experten“ und „Forscher“ – wenn es nur gegen Russland geht, ist dem SPIEGEL jedes Mittel der Desinformation recht
Datum: 27. Januar 2022 um 11:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Jens Berger
Die insbesondere auf die SPD zielende Kampagne für ein hartes diplomatisches, wirtschaftspolitisches und auch militärisches Vorgehen gegen Russland nimmt von Tag zu Tag massivere Züge an. Sämtliche Grundsätze eines ehrenhaften Journalismus wurden schon längst über Bord geworfen. Nun dreht der SPIEGEL einmal mehr an der Eskalationsschraube und lässt einschlägige Falken transatlantischer Think-Tanks zu Wort zu kommen. Besonders perfide: Diese Falken werden dem Leser nicht als solche vorgestellt, sondern unter dem eigentlich neutralen Label „Forscher“ präsentiert. Früher hofierte der SPIEGEL neoliberale Lobbyisten als „Experten“ und „Forscher“. Damals ging es um die Durchsetzung neoliberaler Reformen. Um was geht es dem SPIEGEL heute? Will das Magazin wirklich einen Krieg mit Russland? Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Seit Corona und der Debatte um den Klimawandel wird „der Wissenschaft“ eine herausgehobene Rolle im medialen Diskurs eingeräumt. Die Wissenschaft hat immer recht, sie sagt, wo es lang geht, ist unbestechlich, rational und stets einer Meinung. Das ist natürlich Unsinn. Auch die Professoren Sinn, Raffelhüschen, Rürup und Co. waren pro forma Wissenschaftler. NachDenkSeiten-Leser wissen jedoch, dass die Arbeit dieser Herren besser unter dem Label „Lobbyisten“ laufen sollte. Wer die Kapelle zahlt, der bestimmt, welche Musik gespielt wird. Die freie Wissenschaft – das ist so ein ehernes Ideal, das schon lange nicht mehr mit der Realität in Einklang steht. Und es sind nicht nur die Universitäten samt ihren Instituten, die den wissenschaftlichen Diskurs gerne in eine Richtung lenken, die den Finanziers genehm ist. Vor allem bei den Themen Außen- und Sicherheitspolitik haben sich sogenannte Denkfabriken oder – moderner – „Think-Tanks“ zu mächtigen Meinungsbildnern herausgebildet, die immer wieder von bestimmten Medien zitiert werden.
Think-Tanks sind ein bewährtes Mittel der Meinungsmache, vor allem wenn die Medien es unterlassen, darauf hinzuweisen, dass die akademischen Söldner dieser Einrichtungen keinesfalls einer wissenschaftlichen Neutralität verpflichtet sind und ihre Positionen meist den Positionen ihrer Finanziers entsprechen. Ein Journalismus, der ausgewogen und unabhängig sein will, sollte diese Mietfedern also bestenfalls mit der Kneifzange anfassen und deren Aussagen, wenn man sie denn schon zitieren muss, für den Leser einordnen. Wie weit unser zeitgenössischer „Qualitätsjournalismus“ von diesem Ideal entfernt ist, zeigte gestern einmal mehr der SPIEGEL.
Dort veröffentlichte man laut redaktioneller Einordnung eine Übersicht, wie die Wissenschaft die außen- und sicherheitspolitischen Positionen der Bundesregierung in Bezug auf den „Konflikt mit Russland“ bewertet. Man gibt vor, dazu die Expertise von „Forscherinnen und Forschern aus der EU und den USA“ eingeholt zu haben. Forscherinnen und Forscher? Dann schauen wir doch mal, wen der SPIEGEL alles befragt hat.
Den monochromen Reigen eröffnet niemand anderes als Ben Hodges. Der ist kein Forscher, sondern war bis 2018 ein Drei-Sterne-General der US-Army. Vor seiner Pensionierung hatte Hodges den Posten des Oberkommandierenden der US-Landstreitkräfte für das Gebiet von Europa und der Nachfolgestaaten der Sowjetunion inne – das schließt laut US-Militärdoktrin militärische Operationen gegen Russland auf dem „Schlachtfeld Europa“ mit ein. Bereits 2015 vertrat Hodges die Ansicht, dass Russland in fünf bis sechs Jahren einen Krieg gegen seine westlichen Nachbarn führen würde und forderte eine massive Aufrüstung der NATO-Staaten, um dies zu verhindern. Botschaften, die bei den Falken und der Rüstungsindustrie gut ankamen und dem General eine lukrative „Anschlussverwertung“ bescherten. Seit 2018 ist Hodges hauptberuflich für das CEPA, das Center for European Policy Analysis tätig – einem einschlägigen Think-Tank, der vom who is who der US-Rüstungsindustrie finanziert wird – u.a. Bell, Boeing, Lockhead und Raytheon. Wes’ Brot ich ess’, des’ Lied ich sing’.
Seit seinem Engagement als Meinungssöldner ist Hodges vor allem in Osteuropa, aber auch in Deutschland medial präsent. So gehörte er zu den Gästen von Anne Will und durfte zahlreiche Gastartikel für die FAZ verfassen. Die Botschaft ist immer dieselbe: Vor allem Deutschland müsse mehr für die „Verteidigung“ tun und sich stärker im Sinne der NATO gegen Russland positionieren.
Ist Hodges ein Forscher? Ein Experte für Sicherheitspolitik? Was für eine dumme Frage. Dann könnte man auch Carsten Maschmeyer als Rentenforscher oder Jeff Bezos als neutralen Experten zur Zukunft des stationären Einzelhandels befragen. Wer Hodges ohne weitere Einordnung als Forscher präsentiert, dem geht es nicht um Neutralität, sondern darum, ein Statement zu setzen.
Nach Ben Hodges kommt Kristi Raik im SPIEGEL zu Wort. Raik ist Direktorin am Estonian Policy Institute in Tallinn. Was sich auf den ersten Blick wie ein wissenschaftliches Forschungsinstitut anhört, gehört zu einem Think-Tank namens International Center for Defence and Security, ICDS, einer einschlägigen, von der estnischen Regierung finanzierten Einrichtung, deren erklärtes Ziel die Stärkung der NATO-Positionen in der europäischen Öffentlichkeit ist.
Direktor des ICDS ist Indrek Kannik, ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter des estnischen Auslandsgeheimdienstes, der sogar kurze Zeit estnischer Verteidigungsminister war und eine herausragende Rolle beim Beitritt Estlands zur NATO gespielt hatte. Auch die anderen hohen Posten des ICDS sind mit ehemaligen Militärs und Personen aus dem Umfeld der estnischen Geheimdienste und des Verteidigungsministeriums besetzt. Welche Position wird Frau Raik da wohl vertreten? Die einer neutralen Forscherin? Wohl kaum.
Nach der „Position des Baltikums“ schwenkt der SPIEGEL seinen Fokus auf die Insel. Auch ein britischer „Forscher“ darf seine Position zum Besten geben. Und wen fragt der SPIEGEL? Jonathan Eyal, der ist in der Tat so etwas wie ein Wissenschaftler und hat sogar direkt nach seinem Studium drei Jahre an der angesehenen Universität von Oxford gelehrt. Dann heuerte er jedoch 1990 bei RUSI an. RUSI, das ist die Kurzform vom Royal United Services Institut, dem wohl ältesten militärischen Think-Tank Großbritanniens. Präsident des RUSI ist der Duke of Kent höchstpersönlich – und der ist nicht nur Cousin der Queen, sondern bekleidet bei der Royal Army auch den Rang eines Feldmarschalls. Generaldirektorin des RUSI ist eine gewisse Karin von Hippel, die zuvor Stabschefin des US-Vier-Sterne-Generals John R. Allen war – ein Weggefährte von General Hodges, der unter Präsident Obama zuständig für den Krieg gegen den IS war. Den Reigen komplettiert David Petraeus, ein weiterer ehemaliger US-Vier-Sterne-General, der unter Obama oberster Kommandeur in Afghanistan und später Direktor des US-Auslandsgeheimdienstes CIA war. Petraeus ist Vize-Präsident des RUSI. Besonders pikant ist auch die Personalie des Vice Chairman des RUSI. Diese Position bekleidet Sir John Scarlett, der ehemalige Chef des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, der bei den gefälschten „Beweisen“ für Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen, mit denen der Irakkrieg begründet wurde, eine Schlüsselrolle spielte.
Welche „wissenschaftliche Einrichtung“ kann auf derlei dubioses Personal aus den höchsten Rängen der britischen und amerikanischen Dienste verweisen? Es ist geradezu grotesk, die Position eines RUSI-Mitarbeiters als die eines „Forschers“ zu verkaufen. Wäre der SPIEGEL ein seriöses Medium, hätte er diese Hintergründe zur Einordnung der Aussagen Jonathan Eyals mitgeliefert. So kann der Leser jedoch nicht wissen, warum Eyal es am liebsten sähe, wenn Deutschland sich mit Russland komplett überwirft und militärisch gegen Russland engagieren sollte. Um es klar zu benennen: Das ist Manipulation in Reinform.
Nach Großbritannien geht es nach Polen. Der polnische „Forscher“, den der SPIEGEL zitiert, ist niemand anderes als Janusz Reiter. Reiter ist Karrierediplomat und war nicht nur polnischer Botschafter in Deutschland, sondern auch polnischer Botschafter in den USA. Er ist als diplomatisches Sprachrohr der NATO-Osterweiterung und der polnisch-amerikanischen Partnerschaft gegen Russland bekannt. Welche Positionen wird Reiter wohl jetzt vertreten? Der Überraschungseffekt hält sich erwartungsgemäß in Grenzen. Wer journalistisch seriös arbeitet, sollte halt nicht den Fuchs befragen, wie man den Hühnerstall am besten bauen sollte.
Last but not least muss der Vollständigkeit halber noch erwähnt werden, dass der SPIEGEL ganz am Ende seines Artikels mit der Pariser Sorbonne-Professorin Hélène Miard-Delacroix zumindest eine Stimme zu Wort kommen lässt, die nicht lupenreine transatlantische Meinungssöldnerin ist. Miard-Delacroix gehört zu den Unterstützern Macrons und darf dann auch in einem kurzen Absatz noch einmal die Position des französischen Establishments zu Papier bringen. Ein Ausgleich ist dies freilich nicht.
So schafft es der SPIEGEL doch tatsächlich, mit der Ausnahme von Miard-Delacroix ausschließlich „Forscher“ zu Wort kommen zu lassen, die direkt oder indirekt für transatlantische Think-Tanks tätig sind, im engeren Sinne gar keine „Forscher“ sind und ausschließlich interessengesteuerte Positionen zum Besten geben. Dieser Artikel hat mit Journalismus nichts zu tun. Er erinnert eher an eine bezahlte Werbebeilage in einem kostenlosen Anzeigenblatt. Nur dass es hier nicht darum geht, die Großartigkeit lokaler Unternehmer zu preisen, sondern darum, Deutschland auf Kriegskurs gegen Russland zu trimmen. Wenn es noch einen Beleg braucht, dass der SPIEGEL sich zu einem kriegshetzenden Propagandablatt entwickelt hat, dann kann dieses Stück mühelos als solcher durchgehen.
Titelbild: Rustic/shutterstock.com
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