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Titel: Meinungs- und Versammlungsfreiheit: Wo sind wir nur gelandet?
Datum: 11. Januar 2022 um 13:10 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Innere Sicherheit, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
Verantwortlich: Redaktion
Am 5. Januar 2022 fand in München eine beispiellose Verschärfung der Bekämpfung der Proteste gegen die Maßnahmen in der Coronapolitik und die drohende Impfpflicht statt. Wir waren als Beobachter vor Ort und finden, dass es nötig ist, die Sichtweise auf die Vorgänge zu erweitern. In diesem Artikel soll das Augenmerk darauf gelegt werden, wie weit in München die Möglichkeit der öffentlichkeitswirksamen, freien Meinungskundgabe für tausende von Menschen bereits jetzt eingeschränkt wird. Von Ala und Christian Goldbrunner.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Die Stadt München erlässt seit Ende Dezember 2021 wöchentlich neue Allgemeinverfügungen. Als Nicht-Jurist kann man das so zusammenfassen: Unangemeldetes Spazierengehen mit „Corona-Bezug“ und/oder mit Kerzen ist verboten und kann mit bis zu 3.000 Euro bestraft werden. Darüber hinaus verbietet das Kreisverwaltungsreferat München seit Wochen Demonstrationszüge. Ein weiteres Problem: Die Demonstrationen der sogenannten Maßnahmenbefürworter, angemeldet durch „München solidarisch“, wurden am hoch frequentierten, zentral gelegenen Odeonsplatz erlaubt. Größere Kundgebungen der maßnahmenkritischen Bewegung hingegen, beispielhaft sei hier „München steht auf“ genannt, werden seit Wochen mit starker Teilnehmerbegrenzung auf die Theresienwiese verlegt und wären damit außerhalb der Altstadt ohne breite öffentliche Sichtbarkeit für deren Belange. „Gute Demo, schlechte Demo“, wie Tobias Riegel schrieb. In vielen anderen Städten hingegen werden weiterhin angemeldete, bewegte Versammlungen ermöglicht.
Wie treten die Maßnahmen- und Impfbefürworter auf?
Im Mobilisierungs-Tweet des neu gegründeten Bündnisses „München solidarisch“ liest man in Soldatensprache, dass „Querdenker seit Wochen ungestört durch Münchner Straßen marodieren“, man habe „langsam die Schnauze voll.“ Und unterstellt gepaart mit einem martialischen Logo (Faust mit Spritze):
„Seit Wochen tyrannisiert eine kleine Minderheit von Querdenkenden mit ihren rechtsextremen Verbündeten & ihrem tödlichen Egoismus die Münchner Innenstadt. Dem wollen wir (…) entgegentreten – für einen solidarischen Weg durch die Pandemie!“
Auf Twitter erfährt man, an welches Zielpublikum und Organisationen sich die Initiative richtet. Am 5. Januar finden wir eine mit Flatterband begrenzte Fläche auf dem zentral gelegenen Odeonsplatz vor, die Teilnehmer tragen Masken, Abstände wurden nach unserer Beobachtung nicht durchgängig eingehalten, die Polizei begleitet und schützt die Veranstaltung. Wir sichten Fahnen von Die LINKE, Jusos, Die Falken, SPD, MUT, GEW Bayern, Grüne Jugend. Das linke Spektrum Seite an Seite mit der „Antifa“, die ein Banner beschriftet hat mit „Pandemie, trotzdem da, durchgeimpfte Antifa“ und „Antisemitismus entgegentreten, rechten Terror bekämpfen. Antifa“. Ein Banner ist betitelt mit „Scheiß Querdenken“ und NIKA Bayern hält ein Spruchband hoch mit „Gegen Coronapegida und autoritäre Seuchenverwaltung“.
Die eine Seite der Medaille: Die Impf- und Maßnahmenbefürworter formulieren unterstützenswerte Forderungen wie: „Kulturschaffende bedürfen auch in Pandemiezeiten breiter Wertschätzung und Unterstützung. Auch wachsende soziale Ungerechtigkeit im Zuge der Pandemie muss bekämpft werden!“. Von Regierungsversagen ist die Rede und man „möchte auch Raum für Kritik an der Pandemiebekämpfung öffnen. So kann es nicht sein, dass Infektionsbekämpfung im Zuge von Regierungsversagen in der Vergangenheit immer auf Kosten der Bürger*innen ging, während der Wirtschaft alles untergeordnet blieb!“ Das Bündnis setze Zeichen gegen Hass & Hetze, gegen Antisemitismus und Extremismus. Forderungen wie diese würde wohl die absolute Mehrheit der sogenannten „Spaziergänger“ der Maßnahmenkritik ebenfalls uneingeschränkt unterstützen.
Die Kehrseite der Medaille: In einer der Reden vom 5. Januar am Odeonsplatz wird den Maßnahmenkritikern pauschal Antisemitismus vorgeworfen, weil auf irgendeiner der hunderten von Demonstrationen in Deutschland einzelne Personen Aufnäher mit gelbem Stern und der Aufschrift „ungeimpft“ benutzt hatten. Dieser Vergleich soll hier nicht gerechtfertigt werden. Aber an diesem Beispiel zeigt sich sehr deutlich, dass durch derartige singuläre Ereignisse, die durch lückenhafte Berichterstattung der Leitmedien überrepräsentiert dargestellt werden, alle „Spaziergänger“ in Sippen-Haft genommen werden. Die Agitatoren benutzen alles, um Maßnahmenkritker zu diskreditieren. Es wird äußerst verallgemeinernd eine “pars-pro-toto”-Rhetorik verwendet, um Unterstellungen zu formulieren. Ein winzig kleiner Teil wird als Sinnbild für das große Ganze genommen, die ganze Grundrechte-für-alle-Bewegung verunglimpft und so getan, als würde aus der Bewegung ständig Hass, Hetze und Gewalt hervorgehen. In weiteren Reden wird behauptet, Maßnahmenkritiker seien Coronaleugner, seien mit Rechtsextremen verbündet, antisemitisch und gewaltbereit, Ken Jebsen und Attila Hildmann werden vollkommen unreflektiert in einen Topf geworfen und als „Führerfiguren“ bezeichnet. Von gewaltfreier oder friedlicher Rhetorik kann hier nicht gesprochen werden. Und von einer inhaltlichen Debatte auch nicht, denn als einziger Ausweg aus der Pandemie wird die Impfung für alle gefordert. Eine Handreichung an die Impfpflichtgegner findet nicht statt.
Die „Spaziergänger“ vom Marienplatz hingegen fordern Kompromisse: „Wir wollen reden.“ Dazu müsste man sich allerdings auf Augenhöhe begegnen.
Ulrike Guérot erklärte am 15. Dezember im österreichischen Fernsehen:
„Der Begriff ‚Impfgegner‘ ist schon ein Framing, das problematisch ist. (…) Wir hatten vor einer Woche eine Studie des MIT, des Massachusetts Institute of Technology, die sehr genau die Tweets von den sogenannten ‚Impfgegnern‘ analysiert hat und zu dem Schluss gekommen ist, dass die sogenannten ‚Impfgegner‘ eigentlich die besser informierten Leute sind, die sich ganz genau anschauen: Was macht der Impfstoff? Was kann der Impfstoff? Was kann er nicht? Was sind vielleicht die Schädigungen? Vor diesem Hintergrund zu sagen, dass die Leute, die sagen, ‚wir sind gegen eine Impfpflicht‘, irrational oder wirr sind, (…) das würde ich zurückweisen.“
Wie treten Maßnahmenkritiker und Impfpflicht-Gegner auf?
Die Bewegung „München steht auf“ hat zum wiederholten Male aus eingangs erwähntem Grund die Anmeldung zurückgezogen. Am Marienplatz, in der Fußgängerzone und in der Altstadt finden sich deshalb ab 18 Uhr ca. 3.000 Menschen ein. Schilder, Fahnen oder Kerzen sind nicht zu sehen. Sie sind friedlich, manche bewegen sich, viele stehen „an Geschäften an“. Sie folgen damit dem satirischen Aufruf zum „Schlange stehen“ . 1.000 Polizeibeamte sind im Einsatz und verwandeln das beschauliche Zentrum Münchens in einen bedrohlichen Ort: martialisch bewaffnete Polizisten, an jeder Zufahrtsstraße mehrere Einsatzwagen, ein Hubschrauber kreist mehrere Stunden über der Innenstadt, über Lautsprecher ertönen in ohrenbetäubender Lautstärke im Minutentakt Mitteilungen der Polizei, „Durchsage der Münchner Polizei – Allgemeinverfügung – untersagt – Ansammlung mit Corona-Bezug – Bußgeld von bis zu 3.000 Euro“, eine bedrohliche, einschüchternde Kulisse. Doch die Menschen bleiben – und sie bleiben friedlich. Vereinzelt erschallen Rufe wie „Friede-Freiheit-Selbstbestimmung“, Trillerpfeifen ertönen. Das alles ruft eine beklemmende, angespannte Atmosphäre hervor. Nach etwa einer Stunde verändern sich die Durchsagen der Polizei. Die Menschen werden aufgerufen, den Platz zu verlassen, da sie angeblich an einer „aufgelösten Versammlung“ teilnehmen würden. Und es geschieht das, was eigentlich seit 1986 als „rechtswidrig“ eingestuft ist: die Polizei kesselt wahllos hunderte von Menschen ein, Protestierende, Touristen und Unbeteiligte, die Einkaufen gehen.
Wir fragen uns, warum Menschen trotz dieser massiven Drohungen seitens der Polizei bleiben, ausharren. Später sprechen wir mit einigen Passanten am Marienplatz. Michael F. (Namen von der Redaktion geändert), der im Gesundheitswesen arbeitet, erzählt:
„Ich weiß gar nicht, wohin mit meiner Verzweiflung. Immer mehr Menschen aus dem Gesundheitswesen lehnen sich auf gegen die Impfpflicht. Es geht schon längst nicht mehr um die Maskenpflicht. Ich sehe auch immer mehr Studenten und junge Leute, die um ihre Ausbildung und ihr Leben betrogen werden. All die Versprechungen, die ihnen mit der Impfung gemacht wurden. Ich befürchte, dass diese entsetzlichen Entwicklungen bleiben werden: dass nur Geboosterte am sozialen Leben teilnehmen dürfen, dass Ausgrenzung durch 2G unsere Gesellschaft spaltet, dass die Pharmaindustrie und die Politiker entscheiden, wer ‚gesund‘ ist und wer nicht, wer am Leben teilhaben darf und wer nicht.“
Agnes S. berichtet:
„Ich habe bereits letzte Woche auf dem Marienplatz eine Anzeige erhalten, weil ich meine Meinung kundgetan habe. Und ich bin heute wieder hier, weil ich mir später von meinen Enkeln nicht vorwerfen lassen will, dass ich nichts dagegen unternommen habe.“
Die Befragten wirken klar und bescheiden. Sie wagen sich wieder und wieder auf die Straße, obwohl die Polizei in München immer härter durchgreift. Sie sind gut informiert, haben sich eine eigene Meinung gebildet, stehen dafür ein, sind unbewaffnet und friedfertig. Sie haften mit ihrem Privatvermögen, riskieren ihr Ansehen unter Freunden, Nachbarn, Kollegen und Angehörigen. Einzig und allein, weil sie für ihre Haltung Gehör finden wollen, die ihnen weder die Leitmedien, die Behörden noch die Polizei zugestehen. Von weiteren Passanten, die den Kessel am Marienplatz von außen beobachteten, hören wir: „Die Polizei geht zu weit“, „Das ist ein absurdes Kasperletheater“, „Das macht mir Angst“, „Was kommt als Nächstes?“.
Währenddessen werden aus dem Kessel Einzelpersonen herausgeführt, deren Personalien aufgenommen, Anzeigen erstattet. Und es kommt zum Unausweichlichen, auf das sich die Leitmedien im Sinne von „pars-pro-toto“ stürzen: einem Durchbrechen der Polizeikette. Stellen Sie sich die Anspannung, Verzweiflung und Angst der eingekesselten Menschen vor, sie bleiben trotzdem friedlich. Und dann stachelt ein einzelner Mann seine Umgebung auf, die Polizeikette zu durchbrechen. Ob er ein „Agent Provocateur“ ist, darüber kann man nur mutmaßen. Die Masse der Eingekesselten repräsentiert er jedenfalls nicht. Aber diese Einzelsituation ist das gefundene Fressen für die Presse: Im Nachgang wird dies auf tausende friedliche Demonstranten übertragen, die Zuordnung „die die Straßen mit ihrer Wut fluten“ darf nicht fehlen. Wieder wird ein gewaltfreier Protest mit Begriffen wie „rechtsgerichtet, antisemitisch, gewaltbereit“ geframed.
Parallel zu diesem unwürdigen Spektakel findet eine beispiellose Menschenhatz der Polizei statt: Unter Führung des Einsatzleiters H. Krauß jagen bewaffnete Einheiten der Polizei über Stunden kleine Gruppen von „Spaziergängern“ durch die Innenstadt. Diese flüchten zu Fuß mal hierhin, mal dorthin, und immer noch rufen sie „Friede-Freiheit-Selbstbestimmung“. Es ist ein beschämendes Bild, das die Polizei im Auftrag von Stadt (Oberbürgermeister Reiter) und Staat (Ministerpräsident Söder und Innenminister Herrmann) da abgibt. Wie steht es um die Verhältnismäßigkeit dieses Aufgebotes? Uns lässt es sprachlos zurück.
David gegen Goliath?
Wie groß ist der Widerstand inzwischen? Laut Berliner Zeitung gingen allein am Montag, den 3. Januar 2022, „in Dutzenden Städten, Ost wie West, (…) insgesamt mehr als 100.000 Menschen in zum Teil nicht genehmigten Aufzügen auf die Straße“. „Das bürgerliche Spektrum geht momentan auf die Straße. Brandenburger Staatssekretär des Inneren sagt, die Demonstranten kommen nicht aus extremistischen Kreisen. Polizei Berlin: Nur ein geringer Teil ist aggressiv.“ Aber bei weitem nicht alle Bürger, die sich eine Meinung pro oder contra Maßnahmen und Impfpflicht gebildet haben, gehen auf die Straße. An dieser Stelle steht auch die Frage im Raum, ab wann sich Menschen dazu entscheiden, für ihre Belange in der Pandemie zu demonstrieren? Wie viel muss passieren, bis die persönliche „rote Linie“ überschritten ist? Und wann kippt die Stimmung?
Gregor Gysi erläuterte am 6. Januar 2022 bei Markus Lanz im ZDF (bei Min. 49:30), was ihn wirklich nachdenklich macht:
„30 Prozent unserer Bevölkerung haben jedes Vertrauen zur etablierten Politik von der CDU/CSU bis zur Linken – einschließlich der Linken! – verloren. Die AfD-Wählerinnen und -Wähler zähle ich dazu und die anderen auch.“
30 Prozent sind keine kleine Minderheit. Das ist sogar weit mehr als die kritische Masse nach dem „Gesetz der 3,5 Prozent“. Unterm Strich sind das knapp fünf Prozent mehr Menschen, als die SPD bei der vergangenen Bundestagswahl an Stimmen einfahren konnte. Und wenn Gysi davon spricht, „wir müssen einen Weg finden, Vertrauen wieder herzustellen, es ist zum Teil die falsche Sprache, es ist zum Teil die Angabe falscher Beweggründe, es ist zum Teil eine gewisse Unehrlichkeit“, dann muss in diesem Zusammenhang die Frage gestellt werden: Wie weit will der Staat bei der Ungleichbehandlung von Positionen gegenüber seiner Politik gehen und wie weit ist er bereit, Gewalt gegen sein eigenes Volk einzusetzen?
Mutige Bürger gehen nicht mehr nur gegen oder für eine Impfpflicht auf die Straße, sie müssen inzwischen für ihr verbrieftes Grundrecht auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit kämpfen.
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