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Titel: Über die erstaunliche Karriere von Sanktionen als Instrument der internationalen Politik

Datum: 3. Januar 2022 um 13:05 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
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Manchmal ist es hilfreich, etwas Geläufiges zu hinterfragen. Sanktionen sind zu einem geläufigen Instrument internationaler Politik geworden. Haben Sie schon einmal überlegt, was das eigentlich soll? Wie kommt es dazu, dass ein Land, ein Volk, einem anderen Sanktionen androht und auferlegt? Warum sollten Völker eigentlich nicht grundsätzlich friedlich miteinander verkehren? Warum sollte es nicht die Regel sein, so wie ein deutscher Bundeskanzler am 28. Oktober 1969 festzustellen: Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein. – Gute Nachbarn legen dem Nachbarn keine Sanktionen auf. Warum geschieht das heute trotzdem? Warum ist es heute so geläufig geworden, den Menschen in einem anderen Land schaden zu wollen? Albrecht Müller.

Sanktionen sind eine irrsinnige Erfindung. Normalen Menschen, human veranlagten Menschen, Menschen mit einer ethischen Orientierung kann so etwas eigentlich nicht einfallen.

Warum haben wir uns im Westen entschlossen, Syrien, Russland, Libyen, dem Iran und anderen Ländern und Völkern Sanktionen anzudrohen und auch aufzubrummen? Diese Taten werden damit gerechtfertigt, dass man die Völker in diesen Ländern befreien wolle, befreien von Regierungen, Präsidenten, Parteien, Königen, die dem eigenen Volk Böses antun. Sanktionen werden installiert, um einen sogenannten Regime Change zu erwirken, also um andere Völker von missliebigen Herrschern zu befreien, auch von solchen, die eine Gefahr für andere Völker und Länder darstellen.

Gegen den irakischen Herrscher Saddam Hussein haben wir Sanktionen ergriffen und Krieg geführt, weil er angeblich Massenvernichtungsmittel angehäuft hat. Dass das dann so gar nicht war, ist eine peinliche Begleiterscheinung, aber zugleich typisch für Sanktionen und Interventionen. Sie gründen oft auf Lügen und Täuschungen.

Gegen den syrischen Präsidenten Assad, den Machthaber oder Diktator oder wie man ihn auch immer nennen will, haben wir Sanktionen erlassen, weil er mit seinem Volk übel umgeht, so sagen wir.

Gegen den libyschen Präsidenten Gaddafi hatten vor allem Großbritannien und Frankreich – mit Unterstützung anderer westlicher Nationen – Krieg geführt und ihn letztlich ermorden lassen, weil er in unseren Augen kein Demokrat war.

Gegen die Taliban in Afghanistan und nachwachsende Gruppen haben wir 20 Jahre lang Krieg geführt – Krieg ist die schlimmste Art der Sanktionen – Millionen von Menschen haben darunter gelitten, Hunderttausende sind umgekommen.

Gegen Russland haben wir Sanktionen erlassen, wir haben die nach 1990 zunächst florierenden Wirtschaftsbeziehungen wieder beschränkt, weil uns die Form der Herrschaft in Russland nicht gefällt. Hier gab es allerdings sonderbare Variationen unseres Verhaltens: gegen Jelzin, der sein Volk schlecht regiert hat und die Ressourcen seines Landes verschleudert hat – an reiche Russen, reiche Ausländer und den Westen – haben wir nichts unternommen. Aber gegen Putin dann schon und mit beschleunigter Energie. Seine Vorstellung, sein Land auch mit wirtschaftlicher und technologischer Zusammenarbeit mit dem Westen nach vorn zu bringen, torpedieren wir und wir stehen an der Schwelle neuer, besonders harter Sanktionen. Es ist deutlich erkennbar, dass die führenden Personen des Westens – durchaus mit Unterstützung zum Beispiel der Grünen und anderer Atlantiker in Deutschland – Russland ausbluten lassen wollen. Mit ganz harten Sanktionen einschließlich des Ausschlusses vom internationalen Zahlungsverkehr.

Ein Blick in die FAZ im Dezember 2021 zeigt die Gefechtslage: „Biden warnt Putin vor harten Sanktionen“. Unsere neue Verteidigungsministerin wollte da nicht beiseite stehen: ‚Lambrecht will „persönliche Konsequenzen“ für Putin‘. Und sie bleckt die Zähne:

Bild: Screenshot faz.net

Was hier in Ton und Bild sichtbar wird, zeigt, wie aktuell und wie notwendig es ist, über den Charakter und Sinn von Sanktionen nachzudenken, bevor es zu spät ist.

Dass Sanktionen nicht nur oder am allerwenigsten die führenden Personen, die Präsidenten und herrschenden Gruppen treffen, sondern vor allem das normale Volk, das wir angeblich befreien wollen, ist uns nie in den Sinn gekommen. Hier sind Idioten am Werk.

Sanktionen verschärfen das Leiden des bedauerten Volkes. Aber dieses Leiden interessiert offensichtlich die handelnden Personen in unserem hochgelobten Westen nicht. Daran wird klar, dass wir an die leidenden Menschen gar nicht denken. Die hungernden Menschen Syriens interessieren uns nicht, die Toten in Afghanistan auch nicht und jene Menschen, die in Libyen unter der Zerstörung der staatlichen Regeln und Ordnung leiden, gehen uns am Arsch vorbei.

Verzeihung für diese Ausdrucksweise, aber wenn man über Sanktionen und ihre Folgen nachdenkt, dann verliert man die Rücksicht gegenüber den Tätern. Denn die Täter sind nicht nur Idioten, die westlichen Täter sind Verbrecher. Sie sind verantwortlich für verhungernde Kinder und das Leid ihrer Eltern in den sanktionierten Ländern.

Unser Volk, die maßgeblichen Parteien und politisch Verantwortlichen sind abgestumpft. Sie sind nicht mehr bereit oder nicht mehr fähig, die Frage nach dem Sinn von Sanktionen und nach dem Charakter dieses Instrumentes für die Regelung der Beziehungen unter Völkern zu stellen.

Hier liegt ein geistiger, gesellschaftlicher und staatlicher Verfall vor. Ich erinnere daran, dass der alte Helmut Schmidt im Jahre 2014 im Zusammenhang mit der Krim-Krise die damaligen Sanktionen „dummes Zeug“ nannte. Ich zitiere das Handelsblatt:

‚Heftige Kritik äußerte Schmidt am Umgang des Westens mit der Krim-Krise. Die von der Europäischen Union und den USA beschlossenen Sanktionen gegen Russland bezeichnete er als „dummes Zeug“‘.

Sanktionen dienen dem sogenannten Regime Change.

Wie kommen wir eigentlich, wie kommt der Westen, wie kommen, um es präziser zu formulieren, vor allem die USA dazu, bestimmen zu wollen, wer in einem anderen Land regiert? Zugegeben, es gibt Fälle, bei denen man mit einem gewissen Recht feststellen kann, dass ein Volk in die Hände von Gaunern und Verbrechern gefallen ist. Aber diese Feststellung kann man in Bezug auf einige westliche Länder und insbesondere in Bezug auf die USA auch treffen. Wichtiger ist jedoch die Feststellung, dass in manchen Ländern ein demokratisches Leben, wie es unseren Idealvorstellungen entspricht, kaum zu organisieren und zu halten ist. Es wäre wichtig zu verstehen, dass manche Länder – und das gilt zum Beispiel für China und vermutlich auch für Russland – mit dem Idealmodell von demokratischer Verfassung nicht regiert und nicht zusammengehalten werden können. In solchen Fällen dann die Forderung nach Regime Change aufzustellen und danach zu handeln, ist ausgesprochen willkürlich. Es wird der Kompliziertheit des Problems nicht gerecht. Und vor allem werden die Folgen nicht bedacht.

Sanktionen haben noch eine ganz andere wesentliche Funktion, ohne deren Kenntnis man aktuelle Vorgänge nicht versteht: Sanktionen dienen der Selbstdarstellung und Beweihräucherung.

Im Buch „Glaube wenig. Hinterfrage alles. Denke selbst“ habe ich Methoden der Manipulation beschrieben. Eine Methode nannte ich den „Wippschaukeleffekt“. Das meint: Man charakterisiert das Gegenüber, ein anderes Volk oder dessen Regierung als schlecht, verachtenswert, der Sanktionen würdig – und man hebt sich selbst damit hervor. Das ist ein indirekter Effekt. Er tritt ein, ohne dass man gezwungen wäre, dies explizit zu begründen. Ich will ein Beispiel und einen Beleg dafür zitieren, den ich im erwähnten Buch beschrieben habe: Die US-Demokraten und ihre medialen Helfer haben den ehemaligen US-Präsidenten Trump auch deshalb noch schlimmer dargestellt, als er war, weil vor dem Hintergrund dieses Schreckensbildes ihre Spitzenfiguren von Hillary Clinton bis Joe Biden in freundlichem Licht erschienen.

Genauso funktioniert es im Umgang unter Völkern: Wenn wir Sanktionen gegen Russland erheben, wenn wir Russland aus der G8 hinauswerfen, wenn wir Russland aggressiv nennen und Putin einen Autokraten, dann etikettieren wir uns spiegelbildlich mit den schönen, sauberen Etiketten „Demokratie“, „Menschenrechte“ usw. Das ist ein ausgesprochen primitiver, aber wirksamer Vorgang. Der Wippschaukeleffekt wirkt. Auch deshalb sind Sanktionen so beliebt und werden gedankenlos eingesetzt.

Titelbild: lunopark / Shutterstock


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