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Titel: Das Regime des nackten Überlebens

Datum: 24. Dezember 2021 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Wertedebatte
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Die Besinnung auf Hannah Arendt kann zeigen: Wenn wir uns von der Idee der Vermeidung des Todes um jeden Preis treiben lassen, bleibt vom Leben nicht mehr viel übrig. Alles, was Lebendigkeit ausmacht, ist mit Gefahr fürs Leben verbunden. Wir müssen unsere Endlichkeit und unsere Sterblichkeit zunächst und als erstes akzeptieren. Sodann müssen wir, muss jeder Einzelne sich fragen, wofür es sich zu leben lohnt und wofür sich auch das Risiko, zu sterben, lohnt. Von Jörg Phil Friedrich.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Anfang November veröffentlichte die katholische „Tagespost“ ein Thesenpapier von fünf Medizinern, vier von ihnen anerkannte Hochschullehrer und Institutsdirektoren an Universitätskliniken, das den Titel „Weltweite Gesundheit ist eine Utopie“ trägt. Das Dokument wird mit einem Satz von Hannah Arendt eingeleitet, welcher, wenn man ihn als Kommentar zur Corona-Pandemie und zur Pandemie-Politik liest, die Sorgen der Autoren auf den Punkt bringt:

„Gekommen ist heute die furchtbare Zeit, in der jeden Tag bewiesen wird, dass der Tod seine Schreckensherrschaft genau dann beginnt, wenn das Leben das höchste Gut geworden ist.“

Nun ist Hannah Arendts Satz aber kein Kommentar zu einer Pandemie oder überhaupt zu einer Politik der Gesunderhaltung und Lebensbewahrung. Der Satz stammt aus einer Kolumne von 1942. Es lohnt sich, ihn im Zusammenhang des ganzen Absatzes zu zitieren:

„Es war einmal eine glückliche Zeit, als Menschen frei wählen konnten: Lieber tot als Sklav‘, lieber stehend sterben als auf Knien leben. Und es war einmal eine verruchte Zeit, in der schwachsinnig gewordene Intellektuelle behaupteten, das Leben sei der Güter höchstes. Gekommen ist heute die furchtbare Zeit, in der jeden Tag bewiesen wird, dass der Tod seine Schreckensherrschaft genau dann beginnt, wenn das Leben das höchste Gut geworden ist; daß der, der es vorzieht, auf Knien zu leben, auf Knien stirbt; daß niemand leichter zu morden ist, als ein Sklave.“

Die letzten Worte verweisen auf das, worum es hier historisch konkret geht: um die Shoa, die Deportation und Ermordung der Juden durch die deutschen Nationalsozialisten.

So, wie die Autoren der Thesen zur Utopie einer weltweiten Gesundheit den Satz von Hannah Arendt zitiert haben und ihm eine „beklemmende Aktualität“ bescheinigen, lädt seine Verwendung ganz offensichtlich zu Missdeutungen oder wenigstens zu Missverständnissen ein. Das „heute“ ist bei Arendt eben 1942, das „Furchtbare“ jener Gegenwart ist die Ermordung der Juden, die „Schreckensherrschaft des Todes“ ist das Geschehen in den Gaskammern der deutschen Konzentrationslager. Das alles hat mit dem Thema der Unerreichbarkeit einer globalen Gesundheit nicht das Geringste zu tun.

Es ging Hannah Arendt um die Frage, warum sich die deutschen Juden so weitgehend widerstandslos haben in die Vernichtungslager schicken lassen. Ihre Antwort: Sie wollten nicht kämpfen, weil sie um keinen Preis sterben wollten, sie unterlagen dem Trugschluss, dass sie sich durch Widerstandslosigkeit ihr nacktes Leben würden retten können, und in diesem Irrtum machten sie es den Nazis leicht, sie massenhaft umbringen zu können. Ein „Vorgang, über den Arendt sich noch ungefähr zwanzig Jahre später, als sie vom Eichmann-Prozess berichtete, nicht beruhigen konnte“, wie Peter Trawny in „Denkbarer Holocaust: die politische Ethik Hannah Arendts“ schreibt.

Ein Tabubruch?

Liest man nun aber den zitierten Satz in seinem Kontext, nimmt man die Sätze, die ihm vorweggeschickt sind, mit dazu, dann fällt auf, dass Hannah Arendt mit dem Text insgesamt ein Problem in den Blick nimmt, das schon weit vor der Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten entstanden ist und welches auch nach dem Ende der Naziherrschaft noch fortdauern dürfte.

Um Missverständnissen vorzubeugen, die aufgrund aktueller Diskussionen über Ausgrenzung, Markierung oder Unterdrückung von unliebsamen Minderheiten allzu leicht entstehen könnten: Es geht hier ganz und gar nicht um einen Vergleich oder gar um eine Parallelisierung von Mechanismen der Entsolidarisierung zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten. Im Folgenden geht es um das, was Hannah Arendt zur Grundlage ihres Nachdenkens über das Leben als höchstes Gut macht und was uns daran heute im Kontext der Pandemie noch beschäftigen sollte.

Schauen wir uns die Worte von Hannah Arendt genauer an. Gerade die ersten Sätze des Zitats ordnen das Verhalten, das sie kritisiert, in einen geschichtlichen Zusammenhang ein, der über die Zeit des Nationalsozialismus hinausweist. Sie beginnt mit der Erinnerung an eine „glückliche Zeit“, in der die Menschen „frei wählen konnten“, ob sie tot sein wollten oder als Sklaven leben wollten. Aus heutiger Sicht ein merkwürdiger Begriff von einer freien Entscheidung, sich frei für den Tod als für ein Leben in Sklaverei entscheiden zu können – wobei Sklaverei hier sicherlich als Unterwerfung unter ein Regime ganz allgemein zu verstehen ist.

Sodann spricht sie von „schwachsinnig gewordenen Intellektuellen“ – wen sie meint und in welchen verruchten Zeiten diese historisch datierbar wirkten, ist nebensächlich, wichtig ist, dass es diese Intellektuellen waren, die die Idee in die Welt gesetzt hätten, „das Leben sei der Güter höchstes“. Es ist somit offensichtlich, dass es Arendt hier nicht im engeren Sinne darum geht, zu verstehen, warum sich so viele Juden widerstandslos in den Tod treiben ließen. Es geht um eine grundsätzliche Gefahr für die menschliche Existenz, deren extreme, letzte Konsequenz die Judenvernichtung gewesen ist.

Aber nicht erst in der Judenvernichtung wird die Idee, dass das Leben das höchste Gut sei, zur Gefahr. Wenn wir uns von der Idee der Vermeidung des Todes um jeden Preis treiben lassen, bleibt vom Leben nicht mehr viel übrig. Alles, was Lebendigkeit ausmacht, ist mit Gefahr fürs Leben verbunden. Wir müssen unsere Endlichkeit und unsere Sterblichkeit zunächst und als Erstes akzeptieren. Sodann müssen wir, muss jeder Einzelne sich fragen, wofür es sich zu leben lohnt und wofür sich auch das Risiko, zu sterben, lohnt.

Aber diese Entscheidung sollen wir schon lange nicht mehr treffen, diese Frage sollen wir schon lange nicht mehr auch nur stellen. Das Leben um jeden Preis zu verlängern, das Sterben so weit wie möglich hinauszuzögern, das wird zur Pflicht, zumindest zur moralischen Norm. Die Großmutter wird schon lange nicht mehr gefragt, ob sie es womöglich vorziehen würde, den Enkel noch einmal in die Arme zu schließen, vielleicht sogar ohne Maske und ohne Wissen über seinen aktuellen Immunstatus, festgestellt durch einen PCR-Test: Der fürsorgliche Staat und mit ihm die Mehrheit, die dem Weiterleben alles unterordnet, haben längst für sie entschieden, dass sie sich dieser Gefahr im Zweifel nicht aussetzen dürfe. Und völlig selbstverständlich wird auch die Qualität der Schulbildung und die Lebensqualität von Kindern und Jugendlichen dem Regime der Lebensverlängerung um jeden Preis untergeordnet, ob so ein Weiterleben nun jemand lebenswert findet oder nicht, ist egal.

Sklaven eines Regimes

Wir werden Sklaven eines solchen Regimes, und diese freiwillige Versklavung hat schon lange vor der Pandemie begonnen, als wir zu glauben begonnen haben, dass es darauf ankäme, jeden Tod und jede Trauer über einen Tod, jedes Leiden und jedes Mitleiden durch Regeln und Techniken, durch ein Regime der Todesvermeidung, dem wir alle unsere Lebensweise und damit unser Leben zu unterwerfen haben, hinauszuzögern oder gar zu vermeiden. Inzwischen ist die Unterwerfung unter ein solches Regime nicht mehr ganz so freiwillig, Wir verzichten auf das Lächeln des Anderen in der Öffentlichkeit und wir tragen die Maske überall da, wo Menschen sind, nicht unbedingt, weil wir selbst an die Lebensverlängerung von irgendwem durch diese Maßnahme glauben, sondern weil „es doch nicht so schlimm ist, sich an die Regel zu halten“, weil es nervt, wenn die anderen genervt sind von meinem regelwidrigen Verhalten, weil man in der Masse der Regelkonformen nicht auffallen und nicht stören will.

Und so übernimmt der Tod immer mehr seine unbeschränkte Herrschaft über unser Leben – nicht, weil wir früher sterben, sondern weil wir aus Angst vor dem Sterben schon viel früher aufhören zu leben. Der Tod kann warten, dieser Satz enthält eine bittere Wahrheit: Es kommt ja nicht darauf an, wann er eintritt, sondern wann wir aufhören, einen Grund fürs Weiterleben zu haben, einen Grund, für den es sich auch lohnen würde, das Risiko, zu sterben, einzugehen.

Jetzt wird man sogleich einwenden, dass ja jeder Einzelne dieses Risiko eingehen dürfte, wenn er in der Pandemie damit nicht sogleich andere gefährden würde, die ja vielleicht noch weiterleben wollten. Dem muss man aber entgegenhalten, dass eben niemand gefragt wird, um welchen Preis er weiterleben will. Niemand wird gefragt, ob er nicht vielleicht eine nichtgeimpfte Person lieber im Arm halten und küssen möchte, als darauf zu bestehen, dass sie geimpft oder wenigstens getestet sei, niemand wird gefragt, ob er gern mit allen Familienmitgliedern am Weihnachten zusammen sein möchte, unabhängig von 2G- oder 3G-Status. Das Gesundheitsregime hat schon entschieden, dass es vor allem darauf ankommt, die Gesundheit eines Jeden zu schützen, ob er es will oder nicht.

Vielleicht ist die Pandemie, wenn wir denn nach dem Abflachen der nächsten oder übernächsten Welle noch einmal zur Besinnung kommen, die letzte Chance, darüber zu reden und darüber Einigkeit zu erzielen, ob wir das wirklich alles so wollen, ob es das so wert war. Hoffentlich werden Romane und Theaterstücke darüber geschrieben, über die wir noch einmal nachdenklich werden, und dann werden wir auch über Hannah Arendts Sätze noch einmal nachdenken, bevor in der nächsten oder übernächsten Pandemie das Regime des nackten Überlebens endgültig die Macht übernehmen kann.

Hier das Neue: zabanski/shutterstock.com


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