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Titel: Brüssel und Washington unter Zugzwang
Datum: 21. Dezember 2021 um 15:38 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast
Verantwortlich: Redaktion
Von Ralph Bosshard Mag., Oberstleutnant iG. – Vorbemerkung zum Autor: Er war Berufsoffizier der Schweizer Armee, u.a. Ausbilder an der Generalstabsschule und Chef der Operationsplanung im Führungsstab der Armee. Nach der Ausbildung an der Generalstabs-Akademie der russischen Armee in Moskau diente er als militärischer Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz bei der OSZE, als Senior Planning Officer in der Special Monitoring Mission to Ukraine und als Operationsoffizier in der Hochrangigen Planungsgruppe der OSZE. Zivilberuflich ist Ralph Bosshard Historiker (Magister, Universität Zürich). Wir danken für diese ausgesprochen sachliche und sachverständige Bewertung der Vertragsentwürfe Russlands vom 17.12.2021. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Am vergangenen Freitag veröffentlichte das russische Außenministerium Vertragsentwürfe für gegenseitige Sicherheitsgarantien zwischen Russland und der NATO [1], sowie zwischen Russland und den USA [2]. Die ersten Kommentare seitens westlicher Regierungen und der Presse waren zurückhaltend. Die russischen Vorschläge, die einige der Grundzüge russischen militärischen Denkens wiederspiegeln, bedürfen in der Tat einer eingehenden Prüfung.
Alleine die Tatsache, dass Russland zwei getrennte Vorschläge veröffentlichte, wird eingefleischte Transatlantiker bereits zur Aussage bewegen, Russland versuche, die USA von Fragen europäischer Sicherheit abzukoppeln. Die zunehmenden Spannungen in Ostasien, wo die NATO nicht präsent ist, machen ein solches Vorgehen aber nötig.
Erfreulich ist, dass Russland die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, OSZE, offenbar nach wie vor als die wichtigste Organisation kollektiver Sicherheit betrachtet. Die Tatsache, dass drei der fünf Dokumente, welche der Vertragsentwurfs zwischen der NATO und Russland erwähnt, im Rahmen der OSZE entstanden, spricht dafür, dass Russland an den Errungenschaften der OSZE festhalten will. Schade nur, dass manche westeuropäischen Staaten mit diesem Instrument etwas respektlos umgehen [3].
Die vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vermeidung potenziell gefährlicher Zwischenfälle auf See und in der Luft sind längst schon überfällig. Der jüngste Zwischenfall über dem Schwarzen Meer, bei welchem ein US-Aufklärungsflugzeug einem russischen Passagierflugzeug gefährlich nahe kam, zeigte die Risiken des aktuellen Katz-und-Maus-Spieles über den Meeren mehr als deutlich auf [4]. Natürlich wünschte man sich im Kreml auch ein Ende der westlichen «freedom of navigation»-Operationen, bei welchen Kriegsschiffe in umstrittene Territorialgewässer eindringen. Es ist andererseits aber logisch, dass die westliche Seite klarmachen möchte, dass sie die Territorialgewässer rund um die Krim nach wie vor als ukrainische betrachtet. Dieser Zweck würde allerdings auch erreicht werden, wenn unbewaffnete Schiffe in die umstrittenen Gewässer einfahren würden. Eine wesentliche zusätzliche Gefährdung für ein unbewaffnetes Schiff entsteht nicht, denn Kriegsschiffe sind während einer sogenannten «innocent passage» im Einsatz ihrer Sensoren stark eingeschränkt und damit, wenn nicht blind, so zumindest kurzsichtig [5].
Verzicht auf NATO-Erweiterung
Der, von russischer Seite geforderte Verzicht der Stationierung von Truppen aus den «alten» NATO-Staaten vor 1997 auf dem Territorium «neuer» Mitgliedsländer muss nicht ein Minus an Sicherheit für Letztere bedeuten, wenn der Aufmarsch von Truppen zur Verteidigung dieser Staaten vorbereitet und geübt werden darf, so wie es derzeit in Bezug auf Belarus gehandhabt wird. Im Turnus von mehreren Jahren führen Russland und Belarus zu diesem Zweck gemeinsame Militärübungen durch [6]. Wenn solche Übungen auf beiden Seiten von internationalen Beobachtern verfolgt werden, dann sollte sich auch die Nervosität begrenzen lassen. Das Instrument für derartige Verifikationsmissionen liegt in Form des «Wiener Dokuments» der OSZE grundsätzlich vor.
Das Angebot auf Verzicht auf Stationierung von Kurz- und Mittelstreckenraketen im Artikel 5 des Vertragsentwurfs ist am ehesten als Offerte an die Osteuropäer anzusehen, die ja befürchten müssen, als Erste Schauplatz von Kernwaffeneinsätzen zu werden, sollte der aktuelle neue Kalte Krieg einmal eskalieren. Möglicherweise kommt auch bei ihnen die selbe Befürchtung auf wie im Kalten Krieg in beiden deutschen Staaten. Damals ging die Angst um, die Supermächte könnten sich nach einem verheerenden Kernwaffenkrieg in Deutschland auf einen Waffenstillstand einigen. Zu beachten ist hier, dass Russland der NATO den Verzicht auf Stationierung von Raketen kurzer und mittlerer Reichweite anbietet, nicht jedoch ein Verbot von Entwicklung und Bau. Eine Wiederbelebung des Vertrags über Mittelstreckenraketen INF ist illusorisch, denn die USA möchten sich begreiflicherweise die Option der Entwicklung von Mittelstreckenraketen offenhalten, da China nie durch einen entsprechenden Vertrag daran gehindert wurde. Das ist nachvollziehbar. Unredlich ist es, Russland für das Ende des INF-Vertrags verantwortlich zu machen [7].
Natürlich werden eingefleischte Transatlantiker den geforderten Verzicht auf die Aufnahme der Ukraine und weiterer ehemaliger Republiken der Sowjetunion in die NATO ablehnen, denn nach ihrer Lesart müsse jedes Land die Freiheit der Bündniswahl haben. Da stellt sich die Frage, ob Kuba während des Kalten Kriegs wirklich die Freiheit der Wahl seines Verteidigungsbündnisses sowie der Stationierung von Truppen und Waffen hatte. Die Forderung nach Aufnahme neuer Mitglieder wäre ja noch akzeptabel, wenn die NATO diejenige Defensivallianz wäre, die sie im Kalten Krieg war. Seit dessen Ende führten die NATO als Ganzes und führende NATO-Mitgliedsländer aber völkerrechtswidrige Angriffskriege [8]. Es entspricht der russischen Denkart, bereits im Vorfeld eines möglichen Konflikts die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, damit ein Aggressor einen Angriff unter ungünstigen Voraussetzungen beginnen muss. Schon die Sowjetunion hatte in den Dreißigerjahren unter Leitung von Außenminister Litwinow und Botschafter Maiski genau zu diesem Zweck eine Strategie der Einkreisung des nationalsozialistischen Deutschlands verfolgt [9]. Für Russland, das in seiner Geschichte immer mit Zwei- und Mehrfrontenkriegen rechnen musste, kommt solches Denken nicht überraschend.
Mit seinen Vorschlägen betreffend militärischer Übungen im Artikel 7 verfolgt Russland auch die berechtigten Sicherheitsinteressen seiner Verbündeten in der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (CSTO), gerade auch von Belarus. Ebenso wenig wie die USA kann es sich Russland erlauben, einen Verbündeten, der seine Nachbarn bislang in keiner Weise bedrohte, zu exponieren.
Im Entwurf des Vertrags mit den USA ist bemerkenswert, dass Russland den Verzicht auf die Stationierung von strategischen Waffen – inklusive Kernwaffen – außerhalb seines Territoriums anbietet. Das würde wohl auch ein Ende der Patrouillenflüge von strategischen Bombern bedeuten. Auf der Gegenseite hätte eine Annahme dieses Angebots den Abzug aller verbleibenden US-Kernwaffen aus Europa und damit ein Ende der nuklearen Teilhabe westeuropäischer Staaten zur Folge. Die Kernwaffen Großbritanniens und Frankreichs sollen allerdings unberührt bleiben. Letzteres ist als Entgegenkommen Russlands gegenüber diesen beiden Staaten zu werten und Ersteres scheint umso dringlicher, als bereits über eine nukleare Teilhabe Polens diskutiert wurde, die für Russland und auch für Belarus wohl kaum akzeptabel wäre.
Fazit
Alles in allem hat Russland eine Reihe von Maßnahmen angeboten, die in den verschiedenen Staaten des Westens unterschiedlich aufgenommen werden dürften. Manche werden von Versuchen Russlands sprechen, die NATO zu spalten. Die NATO wurde 1949 zur Abwehr einer damals perzipierten Bedrohung geschaffen und war nach dem Ende des Kalten Kriegs gezwungen, laufend ihre Existenz zu rechtfertigen. Die potenzielle Spaltung der NATO ist eher ein Resultat ihrer Erweiterung nach 1998 und weniger der «russischen Propaganda».
Russland könnte in den nächsten Wochen und Monaten versuchen, mit militärischen Übungen Druck auf einzelne NATO-Staaten aufzusetzen und potenziellen Beitrittskandidaten aufzuzeigen, dass sie auch die NATO militärisch nicht schützen könnte. Es wird aber wohl genügen, wenn der Kreml sich einer Revision der Minsker Abkommen für die Regelung des Konflikts in und um die Ukraine sowie der Weiterentwicklung des Wiener Dokuments für vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen verschließt. Das dürfte vorerst genügen.
Am lautesten wird die Ukraine gegen die russischen Vorschläge protestieren. Fraglich ist, ob es ihr gelingen wird, die gesamte NATO dazu zu bewegen, die russischen Vorschläge abzulehnen. Hier wird sich zeigen, wie weit der Westen bereit ist, Kiew zu folgen. Mit einer Zurückweisung der Vorschläge Russlands würde sich die NATO selbst in ein schlechtes Licht stellen. Brüssel und Washington sind unter Zugzwang.
Nachweise:
[«1] Siehe den Vertragsentwurf auf der Homepage des russischen Außenministeriums in englischer Sprache bei https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790803/?lang=en&clear_cache=Y. Unnötig ist Kritik, dass Russland von den Mitgliedsländern der NATO spricht und nicht von der NATO selbst. Erstere sind Subjekte des Völkerrechts, die NATO als solche hingegen nicht.
[«2] Siehe ebd. unter https://mid.ru/ru/foreign_policy/rso/nato/1790818/?lang=en.
[«3] Es sei daran erinnert, dass die NATO-Staaten im Zusammenhang mit dem Konflikt in/um die Ukraine im Jahr 2014 damit begannen, das sog. «Wiener Dokument für vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen» der OSZE zu missbrauchen, um eine permanente Präsenz von NATO-Offizieren in der Ukraine zu etablieren. In der Folge verhinderte Russland eine Weiterentwicklung des Wiener Dokuments, das in seiner gültigen Form online unter https://www.osce.org/files/f/documents/b/e/86599.pdf verfügbar ist. Der Vertrag über den offenen Himmel wurde seitens der USA im November 2020 gekündigt. Die übrigen NATO-Mitgliedsstaaten folgten diesem Schritt nicht. Vgl. Zeit Online: Open-Skies-Abkommen, Nato-Partner verwehren USA die Unterstützung, 22.05.2020, online unter https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-05/open-skies-abkommen-nato-treffen-usa-rueckzug. Der Wortlaut des Vertrags ist online verfügbar unter https://www.osce.org/files/f/documents/a/7/14129.pdf.
[«4] Ein Passagierflugzeug der russischen Fluggesellschaft Aeroflot, das am 3. Dezember von Tel Aviv nach Moskau flog, musste in der Nähe von Sotschi infolge «unvorsichtiger Handlungen» der Besatzung eines Aufklärungsflugzeugs der US-Luftwaffe notfallmäßig seine Flughöhe ändern; siehe https://twitter.com/attilaXT/status/1467150527368728580.
[«5] Zu den Einschränkungen während einer «innocent passage» siehe Eleanor Freund: Freedom of Navigation in the South China Sea: A Practical Guide, bei: Harvard Kennedy School, Belfer Center for Science and international Affairs, online unter https://www.belfercenter.org/publication/freedom-navigation-south-china-sea-practical-guide. Obwohl die USA die UN-Seerechtskonvention (UNCLOS) nicht ratifizierten, setzen sie diese weltweit durch.
[«6] So geschehen in den «ZAPAD»-Übungen 2017 und 2021. Zur Übung «Zapad-21» siehe die offiziellen Informationen des belarussischen Verteidigungsministeriums unter https://www.mil.by/ru/news/137264/ und des russischen Verteidigungsministeriums unter https://function.mil.ru/news_page/country/more.htm?id=12378427@egNews (beide in russischer Sprache). Vgl. https://cepa.org/russias-zapad-21-lessons-learned/. Gemäß Angaben des belarussischen Verteidigungsministeriums befanden sich im Rahmen von «Zapad-21» russische Truppen der 1. Panzerarmee im Umfang von 2’498 Soldaten in Belarus, mit 72 Kampfpanzern, 40 Schützenpanzern und 51 Artillerie-Geschützen bzw. Geschosswerfern (Mehrfachraketenwerfer, engl. MLRS).
[«7] So, wie das Auswärtige Amt dies tut. Siehe Homepage des AA: «Ende des INF-Vertrags», online unter https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/abruestung-ruestungskontrolle/aus-inf-vertrag/2236922. Vor der US-amerikanischen Kündigung des Vertrags hatte es jahrelang gegenseitige Vorwürfe über dessen angebliche Verletzung gegeben. Vgl. U.S. Department of State`s Annual Report on Adherence to and Compliance with Arms Control, Nonproliferation, and Disarmament, Washington, April 14, 2017, online unter https://www.state.gov/2021-adherence-to-and-compliance-with-arms-control-nonproliferation-and-disarmament-agreements-and-commitments/.
[«8] So ist beispielsweise die Luftkriegskampagne gegen Serbien 1999 nach Auffassung der Schweizer Regierung nicht durch einen notwendigen Beschluss des UN-Sicherheitsrats gedeckt. Vgl. «Neutralitätspraxis der Schweiz – aktuelle Aspekte Bericht der interdepartementalen Arbeitsgruppe» vom 30. August 2000, S. 8f, online unter https://www.eda.admin.ch/. Der Bericht vermeidet den Begriff der «völkerrechtswidrigen Aggression», in der Sache aber gibt es wohl kaum Zweifel daran. Vgl. «Quittung für den Kosovo-Einsatz, Krim-Invasion ist völkerrechtswidrig», bei NTV, 04.03.2014, online unter https://www.n-tv.de/politik/Krim-Invasion-ist-voelkerrechtswidrig-article12390256.html, und Goran Goic: Es gab nur schlechtere Alternativen, bei Deutsche Welle 10.06.2009, online unter https://www.dw.com/de/es-gab-nur-schlechtere-alternativen/a-4315179, Weitere Interventionen unter der Führung von NATO-Staaten gegen den Irak, Afghanistan und Libyen, um nur drei Beispiele zu erwähnen, sind völkerrechtlich zumindest höchst umstritten.
[«9] Zu Litwinow siehe den Eintrag in der Großen Sowjetischen Enzyklopädie, online unter http://bse.sci-lib.com/article070721.html, in russischer Sprache. Maiskis Tagebücher wurden 2016 veröffentlicht. Siehe Iwan Maiski: Die Maiski-Tagebücher, Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler. 1932-1943, hrsg. von Gabriel Gorodetsky, München 2016; Rezensionen online unter https://www.perlentaucher.de/buch/iwan-maiski/die-maiski-tagebuecher.html. Vgl. Marti: Diplomat Iwan Maiski, Im Pelzmantel für die Weltrevolution, bei: Spiegel Politik, 10.09.2016, online unter https://www.spiegel.de/spiegel/diplomat-iwan-maiski-tagebuecher-aus-dem-zweiten-weltkrieg-a-1112000.html.
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