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Titel: Charles Wright Mills: Die Machtelite – ein 65-jähriges Jubiläum
Datum: 14. Dezember 2021 um 8:50 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Innen- und Gesellschaftspolitik, Rezensionen, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
NachDenkSeiten-Leser Demian Frank erinnert mit dem folgenden Text an das große Werk von Charles Wright Mills. Dieser US-amerikanische Soziologe hat mit Recht Wasser in den Wein der Schwärmer von der westlichen Demokratie geschüttet. Unserer neuen Außenministerin wäre die Lektüre dringend zu empfehlen. Wir verbinden die Veröffentlichung des Textes von Frank am Ende noch mit dem Hinweis auf das Buch des französischen Soziologen Jaques Ellul, der sich wie sein Vorgänger Bernays mit den Hintergründen und Methoden der Propaganda beschäftigt hat. Albrecht Müller.
Demian Frank:
Ein Jubiläum
Vor 65 Jahren veröffentlichte der Texaner Charles Wright Mills das Buch The Power Elite. Es war nicht sein erstes und blieb nicht sein letztes Buch, sondern eines, das sich einreiht in ein Schaffenswerk, das in den über zwei Dekaden seines Schreibens entstand. Der Soziologe Mills befasste sich neben grundlegenden Gedanken zum Gegenstand seiner Disziplin – deren Gründerväter ihm nur wenige Generationen vorangingen – insbesondere mit seiner eigenen, der US-amerikanischen, Gesellschaft. The Power Elite (in deutscher Fassung Die Machtelite) ist sicher eines der bedeutendsten Werke des Texaners, das dieser in seinem kurzen Leben verfasste. Mills starb im März 1962 im Alter von 45 Jahren.
Sicher, Mills war nicht der einzige Gesellschaftskritiker seiner Zeit, doch die Klarheit seiner Worte, die soziologische Empathie und Finesse, die großen Machtstrukturen mit den Charakteranalysen der in ihnen agierenden Individuen überzeugend miteinander zu verknüpfen, machten ihn zu einem Vorreiter wissenschaftlich fundierter Gesellschafts- und Herrschaftskritik. In der deskriptiven Tiefe der Betrachtung von Machtstrukturen und der Personen an deren Spitze ist Mills noch heute beispiellos. Grund genug, sein Werk in den letzten Tagen dieses Jahres, die sein 65-jähriges Jubiläum konstatieren, noch einmal in Erinnerung zu rufen. Lassen wir Charles Wright Mills zum 65. Jubiläumsjahr seiner Arbeit die Aufmerksamkeit zuteilwerden, die er verdient.
Der Mythos des Machtgleichgewichts
Mills’ Arbeiten machten ihn in den USA zu einem der scharfsinnigsten Denker und bedeutendsten Kritiker der vorherrschenden Machtstrukturen der amerikanischen Nachkriegsgesellschaft. Einer Gesellschaft, die, vom „economic boom“ sediert und von einer neu entstehenden Unterhaltungsindustrie abgelenkt, scheinbar jegliche politische Streitbarkeit verlor; ja, einer Gesellschaft, deren Individuen sich allmählich das Recht absprechen ließen, lautstark und engagiert eigene politische Positionen zu vertreten. Dem standhaften Vertreten politischer Positionen haftete stets das Unbehagen an, in den Augen der anderen als aufrührerisch und rücksichtslos zu gelten. Selbstredend, dass in diesem gesellschaftlichen Klima die demokratische Debatte ersticken musste. Wie ein wabernder Nebelteppich durchzog eine „conservative mood“ die politische Berichterstattung, die jeglicher fundierter Kritik an den Machtverhältnissen den Wind aus den Segeln nahm. Diese Berichterstattung porträtierte politische Entscheider als vernunftorientierte Personen, die sich den Herausforderungen und Problemen des Politischen nun einmal stellen mussten und bereitwillig hierfür die Verantwortung im Sinne des Gemeinwohls übernähmen. Einen bedeutenden Anteil am Erfolg dieses Konservativismus hatten Mills zufolge die politischen Kommentatoren seiner Zeit – vor allem Journalisten und Intellektuelle – die ein bestimmtes Narrativ zum Axiom ihres Denkens gemacht hatten, manche wissentlich, viele unwissentlich. Ihre Grundannahme, von der sie nicht abrücken konnten oder wollten, besagt, dass die Politik grundsätzlich ein Machtgleichgewicht zwischen den verschiedenen Interessensgruppen der Gesellschaft herstelle, dies sei ihre Funktion und diese erfülle sie. Grundsätzlich herrsche in der Gesellschaft und zwischen den Interessensgruppen ein Machtgleichgewicht und die Öffentlichkeit könne stets Einfluss auf die politischen Entscheider ausüben. Mills zufolge einer der größten Irrglauben, der nicht nur in großen Teilen der Bevölkerung vertreten ist, sondern auch Einzug in die politische Theorie erhielt. Mills kritisiert und verwirft all jene Theoretiker, die die Öffentlichkeit zur stärksten Macht stilisieren – ein längst überholtes Verständnis von der überbewerteten Rolle der Massen. Theoriegebilde, die ein Machtgleichgewicht innerhalb des politischen Systems postulieren, dienen einer moralischen Rechtfertigung des Status Quo, doch beschreiben sicher nicht die Realität. Wer axiomatisch die öffentliche Meinung gar als Quelle politischer Macht setzt, der mag zwar logisch kausal bei der Ausformulierung von Demokratie-Theorien landen, doch mit empirischer Evidenz hat dies nichts zu tun.
Die Grundannahme eines Machtgleichgewichts war also nicht nur im politischen Feuilleton vertreten, sondern auch unter Mills Kollegen weit verbreitet. Das Gros der Sozialwissenschaftler begnügte sich damit, die Querelen der Parteipolitik zu analysieren und zu interpretieren, und sah sich so bestätigt in der Annahme, es herrsche der freie Diskurs und die politischen Strukturen seien grundlegend demokratisch. Laut Mills aber ließen sie sich dabei einfach von den Debattenrunden auf der mittleren Machtebene ablenken, anstatt den Blick auf die grundlegenden Machtstrukturen innerhalb der Gesellschaft und des politischen Systems zu werfen. Und damit auch auf jene zu werfen, die entscheidende Positionen dieses Systems besetzen und ihre Macht dabei zunehmend konsolidieren: die Machtelite.
Sich über das Handeln der am Gemeinwohl orientierten Politik zu empören, war nicht „en vogue“. Mills stach mit seinen Arbeiten in diese Blase der Ignoranz und Naivität wie ein Reisnagel in einen Ballon.
Die Machteliten – Macht ohne Verantwortung
Nur 11 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beschreibt Mills, wie in den USA die Institutionen dreier gesellschaftlicher Teilbereiche zunehmend strukturell miteinander verwachsen: die Politik, die Wirtschaft und das Militär. In immer umfassenderem Maße glichen sich die Interessen dieser Bereiche einander an und es bildete sich eine Machtelite heraus, die die strategischen Schlüsselpositionen dieser Institutionen besetzt und die Entscheidungen von größter politischer Tragweite trifft. Bei dieser Machtelite handelt es sich um eine Gruppe, die eine hohe soziale Kohäsion aufweist und die ihre Interessen gegenseitig nach außen hin vertritt. Für Mills sind die Machteliten damit auch jene, die innerhalb der Gesellschaft das größte Klassenbewusstsein besitzen, nicht die Arbeiter- und schon gar nicht die Mittelschicht. Mills’ Konzeption einer Machtelite ist dabei nicht als Verschwörungstheorie zu verstehen, was allerdings das Mittel der Verschwörung als funktionales Element zur Machterlangung und -sicherung nicht ausschließt, sondern sie beschreibt die Genese der Machtelite als ein historisches Zusammenwachsen zunehmend interdependent werdender Interessensgruppen, die sich institutionsübergreifend organisieren und Macht konzentrieren. Die Machtelite bildet demnach ein soziales Netzwerk, welches, über die Partikularinteressen von konkreten Ämtern und Funktionen derer Mitglieder hinaus, Entscheidungen trifft. Im Kreis der Machtelite schwinden die vermeintlichen Grenzen zwischen staatlichen und privaten Institutionen, zwischen Politik, Militär und Wirtschaft.
Zugleich handelt die Machtelite in einem System organisierter Unverantwortlichkeit. Denn politische und soziale Ereignisse werden als Resultate von Entwicklungen thematisiert, deren Steuerung und Kontrolle kaum möglich sei. Klare Zuschreibungen für die Verantwortung politischer Ereignisse werden vermieden. Die Machtelite hat es somit geschafft, auf der einen Seite enorme Macht auf sich zu vereinigen und zeitgleich die Verantwortung für ihr Handeln von sich zu weisen oder zu ignorieren, und das nicht selten unter Akzeptanz der Massen und politischen Kommentatoren. Um das Wohlwollen der Massen zu sichern oder zumindest zu verhindern, dass diese Störungen in der Herrschaftsausübung hervorrufen – denn zu einer gewissen Unannehmlichkeit kann die öffentliche Meinung dann doch werden – kommt der Meinungsmache über die Massenmedien eine gewisse Bedeutung zu. Das Betreiben von Meinungsmanagement über Massenmedien, zu denen Mills auch das Bildungssystem zählt, ist somit eine logische Konsequenz, möchte man Macht sichern und ausbauen. Denn die Massenmedien sind für die Konstruktion und Interpretation sozialer Wirklichkeit sowie für die eigene Identität großer Teile der Massengesellschaft von enormer Bedeutung. Nicht zuletzt sorgt eine Unterhaltungsindustrie, in der Celebrities zu Ikonen der Massen gemacht werden, für die notwendige Ablenkung.
Kapitel für Kapitel attackiert Mills die Gedankengebäude, die gängigen Volksirrtümern zur politischen Machtverteilung und demokratischen Entscheidungsprozessen eine wohlig warme Behausung bieten: Systeminhärente Mechanismen der Balance, funktionierende Gewaltenteilung, die Macht der Masse und der Mythos der sozialen Mobilität in der US-Gesellschaft.
Wissen und Macht
Ein weiterer, und für Mills ganz entscheidender Volksirrtum ist, dass Macht und Wissen strukturell und personell miteinander korrelieren. Dass die Machteliten über eine besondere Kompetenz und einen besonderen Intellekt verfügen, die ihnen aufgetragenen Aufgaben zu bewältigen, hält Mills für eine Mär, welche den Massen glauben gemacht werden soll. Das Bild des hochgebildeten Staatsmannes mag zu Gründerzeiten der USA noch eine gewisse Berechtigung gehabt haben. In früheren Zeiten, so Mills, waren Machtelite und kulturelle sowie geistige Elite durchaus sich überlappende Personengruppen. Doch mittlerweile sei intellektuelles Mittelmaß die Norm unter denjenigen, die die höchsten Ämter des Landes bekleiden und Entscheidungen erheblichen Ausmaßes treffen. Man könne nicht behaupten, dass die politische Elite sonderlich intellektuell befähigt sei, die von ihr verantworteten Aufgaben zu bewältigen. Und nicht selten werden sie selbst sich dieser Überforderung gewahr, wenn sie sich genötigt sehen, ihre eigenen politischen Entscheidungen zu erklären und sie lediglich redundante Plattitüden absondern oder den Verweis auf „Experten“ bemühen, um einer eigenen logisch kohärenten Darlegung ihrer Entscheidungsfindung zu entgehen. Der Intellektuelle fungiert dem Mächtigen nur noch als Berater und tut dies, da er in professionellen Arbeitsverhältnissen steht, die ihn von der Macht abhängig machen.
Die entscheidende Folge dieser Entwicklung, in der Wissen nicht mehr als Ideal und Eigenwert betrachtet wird, sondern als Instrument für Macht und Wohlstand oder als Ornament in der Diskussion, ist, dass sich Politik von der Vernunft verabschiedet. Die Politik der Unvernunft bezieht sich dann nur noch auf ihren Machtanspruch und besitzt keine Verankerung in der oder in Bezug auf die Gesellschaft.
Reflexion und Kritik
Auch wenn C. Wright Mills’ Arbeiten in den USA die Bekanntheit erlangten, die sie verdienen, ist die Aufmerksamkeit, die sein Werk hierzulande erlangte, recht begrenzt. Sicher, in interessierten Kreisen dürfte The Power Elite auch im deutschsprachigen Raum ein Begriff sein, doch selbst Soziologiestudenten können hierzulande ein Studium vollumfänglich absolvieren, ohne jemals von diesem Grundlagenwerk gelesen oder gehört zu haben. Dass sich Mills in The Power Elite mit den herrschenden Machtstrukturen in der US-Gesellschaft auseinandersetzt, kann dabei kein Argument der Nichtbeachtung sein. Zum einen können Entscheidungen der Machteliten jenseits des Atlantiks bedeutsame Auswirkungen auch diesseits des „großen Teichs“ haben. Zum anderen beschreibt Mills in seinem Werk Prozesse, die sich sicher auch auf Machteliten anderer Nationen übertragen lassen. Nicht zuletzt aber findet die von Mills beschriebene Machtkonzentration und Machtkonsolidierung heutzutage nicht nur auf nationalen Ebenen statt. Durch eine umfassende Globalisierung politischer, wirtschaftlicher und militärischer Strukturen lassen sich Mills’ Analysen vor dem Hintergrund supranational stattfindender Prozesse verstehen. Ein großer blinder Fleck Mills’ Betrachtungen ist die Intention des Machtstrebens seiner untersuchten Machteliten. Mills gibt sich mit der Begründung zufrieden, dass es die ökonomischen Machtinteressen sind und die Statusgewinne, welche den Antrieb für das Handeln der Machteliten darstellen. Natürlich sind dies augenscheinliche und sinnhafte Gründe, doch Mills reflektiert nicht, ob sich innerhalb der Machtelite noch weitere Motivationen herausbilden. Eine tiefergehende Analyse des Phänomens Macht hätte Mills’ Arbeit gut ergänzt, um der theoretischen Basis seiner Untersuchung ein noch stärkeres Fundament zu liefern.
Mills’ Arbeit stellt ein Grundlagenwerk der Machtsoziologie dar und ist auch ein dreiviertel Jahrhundert nach Veröffentlichung weiterhin hoch relevant. Zum 65-jährigen Jubiläum sollten wir dem Texaner und seiner Arbeit die verdiente Aufmerksamkeit widmen.
Hier der Hinweis zum Buch von Charles Wright Mills:
Charles Wright Mills
DIE MACHTELITE
Das Standardwerk der kritischen Elitenforschung
Und hier noch der Hinweis auf das Buch von Ellul:
Jacques Ellul, Jaques Ellul
PROPAGANDA
Wie die öffentliche Meinung entsteht und geformt wird
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