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Titel: Ein interessanter Brief zum Ost-West-Konflikt von Oberstleutnant aD Jochen Scholz
Datum: 30. November 2021 um 12:30 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Europapolitik
Verantwortlich: Redaktion
Jochen Scholz war bis 2000 Berufsoffizier bei der Luftwaffe und im Rahmen seiner Laufbahn viele Jahre in den NATO-Gremien, den multinationalen NATO-Stäben sowie im Bundesministerium der Verteidigung tätig. Später war Scholz in der Friedensbewegung aktiv und meldete sich seitdem auch immer wieder kritisch zu den aktuellen Entwicklungen zu Wort. Nun hat Jochen Scholz einen Brief an einen Landtagsabgeordneten geschrieben, der ungemein viele interessante Fakten zum Aufbau des Ost-West-Konflikts enthält. Wir freuen uns, dass wir dieses Schriftstück für unsere Leser veröffentlichen dürfen.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Der Anlass für meine Mail an einen Landtagsabgeordneten war einerseits sein Leserbrief an die FAZ, aus dem hervorgeht, dass er die Propaganda in der deutschen Mainstreampresse vom aggressiven Russland übernommen hat und offensichtlich völlig ahnungslos ist, warum die Beziehungen zwischen Deutschland und der Russischen Föderation derart desolat sind. Zum anderen um eine Klarstellung, was von der vom NATO-Generalsekretär behaupteten militärischen Bedrohung der Ukraine durch russische Truppen zu halten ist, wie sie jüngst auch von Generalleutnant a. D. Brauß geäußert wurde. Brauß war von 2013 bis Juli 2018 Beigeordneter Generalsekretär der NATO für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung. Heute ist er „Senior Associate Fellow bei der DGAP, arbeitet in den Feldern europäische Sicherheit und Verteidigung, Entwicklung der NATO und Kooperation zwischen NATO und EU. Die ursprüngliche Mail wurde zum besseren Verständnis um einige Hinweise und Erläuterungen ergänzt.
Sehr geehrter Herr…
wenn ich mir Ihren fachlichen und politischen Hintergrund ansehe, bin ich doch etwas erstaunt, mit welcher Vehemenz Sie offensichtlich für die sicherheitspolitische Situation in Osteuropa Russland verantwortlich machen. Das ist mutig. Allerdings sollte man nie vergessen zu fragen, was Aktion und was Reaktion ist und vor allem beides nicht verwechseln.
Dazu darf ich Ihnen einige Hinweise geben.
Alle weiteren Strategiedokumente seit dieser Zeit gehen in die damals eingeschlagene Richtung.
Die NATO-Osterweiterung sieht das Bündnis heute an der russischen Grenze. Dazu der ehemalige US-Botschafter in Moskau Jack Matlock, der an allen Verhandlungen über die Wiedervereinigung in Moskau teilgenommen hat, Zitat:
„Ich bin sicher, wenn Bush wiedergewählt worden wäre und Gorbatschow Präsident der UdSSR geblieben wäre, hätte es während ihrer Amtszeit keine NATO-Erweiterung gegeben. Es gab keine Möglichkeit, Nachfolger zu verpflichten, und als Gorbatschow abgesetzt wurde und die UdSSR auseinanderbrach, wurden ihre Absprachen hinfällig.“
Worum es bei der NATO-Osterweiterung im Kern ging und bis heute geht, erschließt sich aus dem Brief von Willy Wimmmer an den damaligen Bundeskanzler Schröder. Er thematisiert die Inhalte der Konferenz von Bratislava im Jahr 2000, die im Auftrag des State Department vom American Enterprise Institute durchgeführt wurde, dessen Arbeitsgruppe “Project for the New American Century” einige Monate später das Strategiepapier “Rebuilding America’s Defenses” veröffentlichte, an dem ausschließlich Neocons mitgewirkt haben. Zehn Personen aus der Arbeitsgruppe dienten ab 2001 in der Regierung George W. Bush, darunter Cheney, Rumsfeld und Wolfowitz. Die Umsetzung der Absichten von Bratislava erfogte 2002. Die NATO wurde um die drei baltischen Staaten, Rumänien, Bulgarien, Slowenien und die Slowakei erweitert.
Den Brief von Willy Wimmer finden Sie hier auf den Seiten 7 und 8.
15 Jahre nach Bratislava hält George Friedman, damals Chef des privaten Nachrichtendienstes STRATFOR einen Vortrag in einem Chicagoer Think Tank, legt in der anschließenden Pressekonferenz diese Folie auf und erklärt als ständiges Ziel amerikanischer Außenpolitik, ein gedeihliches deutsch-russisches Miteinander zu verhindern.
(Anmerkung: dieser Auschnitt aus der anschließenden Pressekonferenz wurde von den Verfassern zur Verdeutlichung mit den gelben Erklärungen bearbeitet, die Graphik erscheint ab Minute 11:10)
Bereits ein Jahr zuvor hatte Friedman in diesem STRATFOR-Artikel die Graphik unter dem Titel „THE NEW CONTAINMENT“ (Die neue Eindämmung) verwendet und damit die Bezeichnung für die Strategie der Eindämmung der Sowjetunion, die „Truman-Doktrin“ reaktiviert, die 1947 den Beginn des Kalten Krieges markierte.
Man kann sich insofern vorstellen, dass nach der Rede von Präsident Putin 2001 im Deutschen Bundestag sämtliche Alarmglocken jenseits des Atlantiks losgegangen sind.
Friedmans Äußerungen könnte man in Anlehnung an einen anderen Begriff als Continuity of History and Strategy bezeichnen. Sie beklagen die Entwicklung rusischer Hyperschall-Rakten. Nun, wer hat denn 2001 den ABM-Vertrag einseitig gekündigt und gleichzeitig begonnen, das AEGIS Raketenabwehrsystem in Osteuropa und auf Schiffen zu stationieren? Hätte Russland zuschauen sollen, sich dem Erpressungskalkül der USA aussetzen sollen? Ein Kalkül, das die beiden US-Politologen Keir A. Lieber und Daryl G. Press auf Seite 22 der nachstehenden Analyse wie folgt beschreiben, die auch in der führenden amerikanischen außenpolitischen Zeitschrift Foreign Affairs erschien:
“Although both criticisms are cogent, even a limited missile shield could be a powerful complement to the offensive capabilities of U.S. nuclear forces. Russia has approximately 3,500 strategic nuclear warheads today, but if the United States struck before Russian forces were alerted, Russia would be lucky if a half-dozen warheads survived. A functioning missile defense system could conceivably destroy six warheads. Furthermore, the problem of differentiating warheads from decoys becomes less important if only a handful of surviving enemy warheads and decoys are left to intercept. Facing a small number of incoming warheads and decoys, U.S. interceptors could simply target them all.”
Auf den Punkt gebracht: Neutralisierung der russischen Zweitschlagskapazität durch das Raketenabwehrsystem. Als die beiden Autoren im Einsteinforum in Potsdam 2007 ihre Studie von 2006 vorstellten, war kein einziger Journalist unserer überregionalen Zeitungen zugegen.
Ein Sprung in das Jahr 2021, was die russischen Truppen an der Ostgrenze der Ukraine angeht. Kenne Sie dieses Dekret des Nationalen Sicherheitsrates der Ukraine vom März 2021?
Über die Strategie der Räumung und Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol
Gemäß den Bestimmungen von Artikel 4 des Gesetzes der Ukraine “Über den Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine” hat der Nationale Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine nach Prüfung des Entwurfs der Strategie für die De-Okkupation und Reintegration des von Timor besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol beschlossen:
1. Empfehlung des Entwurfs der Strategie zur Dekonzentration und Reintegration des vorübergehend besetzten Gebiets der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol.
2. Aufforderung an den Präsidenten der Ukraine, die Strategie zur Räumung und Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol zu genehmigen.
3. Das Ministerkabinett der Ukraine erarbeitet und genehmigt innerhalb von drei Monaten einen Maßnahmenplan für die Umsetzung der Strategie zur Räumung und Wiedereingliederung der vorübergehend besetzten Gebiete der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol.
Sekretär des ukrainischen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates O. Danilov”
Übersetzt mit DeepL.com/Translator
Darauf soll Russland nicht reagieren dürfen, zumal Sie sicher sein können, dass solche Entscheidungen in der Ukraine nicht ohne Washingtons und Londons Zustimmung oder Duldung getroffen werden?
Ich könnte noch eine Fülle von Dokumenten anführen, die Ihre Behauptungen von Russlands Aggression widerlegen. Einige Empfehlungen habe ich jedoch. Erstens die Lektüre von Horst Telschiks Buch “Russisches Roulette” und die Lektüre von Brzezinskis Buch “The Grand Chessboard”; dann wird klar, warum die Dinge so gekommen sind, wie sie Teltschik beklagt.
Zweitens könnten Sie mal in Jüchen vorbeischauen und sich von Willy Wimmer ein Privatissimum geben lassen. Schließlich: überlesen Sie künftig Kommentare und Artikel von Kohler, Frankenberger, Veser, Busse, Friedrich Schmidt, Ross, Sturm, sofern sie sich mit Russland befassen. Auch in anderen großen Tageszeitungen bekommen Sie ausschließlich transatlantische Einheitssauce vorgesetzt. Die Zeiten, als Karl Feldmeyer noch Leitartikel schreiben konnte, wie den angehängten, sind lange vorbei.
Dass ich diese Zeitung lese, hat andere Gründe, als mich außenpolitisch zu informieren. Nämlich die Breite des Angebots in “Staat und Recht”, Ereignisse und Gestalten”, Die Ordnung der Wirtschaft, “Bildungswelten” um nur einiges zu nennen und hin und wieder Erhellendes im Feuilleton, wie diese beiden Beispiele von Reinhard Merkel und Hans-Christof Kraus, zeigen – der einzige deutsche Wissenschaftler, der die Grundlage jeglicher US-Strategie in Bezug auf den eurasischen Kontinent verstanden hat
Mit freundlichen Grüßen
Jochen Scholz
Aus aktuellem Anlass werfen wir noch einen Blick auf die Situation in der Ukraine. Wenn es schon – bisher jedenfalls – nicht gelang, sie in die NATO aufzunehmen, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der ungelöste Konflikt um Donezk und Luhansk aus der Sicht einiger westlicher Staaten auch ungelöst bleiben soll. Denn dann steht jederzeit ein Mittel bereit, mit dem die Russische Föderation einer aggressiven Politik bezichtigt werden kann. Jüngstes Beispiel ist das nicht zustandegekommene Treffen im sog. Normandie-Format, das für den 11. November ins Auge gefasst worden war, wofür der deutsche und der französische Außenminister in einer gemeinsamen Erklärung Russland verantwortlich machen, ohne dessen Gründe anzuführen.
Wäre die Angelegenheit nicht so ernst, könnte man sie als Posse abtun. Außenminister Lavrow ist vermutlich der Kragen geplatzt. Denn nach vorheriger Ankündigung an seine Partner stellte er den diplomatischen Notenwechsel für die internationale Öffentlichkeit zur Verfügung.
Aus ihm geht klar hervor, dass die deutsche und französische Seite keine Absicht hatten, auf die Ukraine einzuwirken, ihren Verpflichtungen nach dem Minsk II-Abkommen von 2015 (!) endlich nachzukommen, das geltendes Völkerrecht ist. Das betrifft in erster Linie die Punkte 9, 11 und 12.
Insofern hält Russland ein Treffen für nicht zielführend und damit für obsolet. Mit Lawrows Worten: „One gets the impression that this is also an attempt to create conditions for a radical revision of the Package of Measures in order to please Kiev, which has been refusing to comply with it in an official and public manner.“
Schlussbemerkung mit Blick auf die deutsche Generalität, für die der oben zitierte Generalleutnant Brauß pars pro toto steht. Seit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 steht fest, dass die Goldbetressten ihre Verpflichtungen aus dem Soldatengesetz in Washington abgegeben haben und sich jedes Jahr am 20. Juli im Bendlerblock mit salbungsvollen Worten an Stauffenberg versündigen. Die Aussicht, mit einer anständigen Pension in den Einstweiligen Ruhestand versetzt zu werden, ist für diesen Personenkreis unerträglicher, als für den Hitler-Attentäter die Aussicht, erschossen zu werden. Wann werden diese Funktionseliten, wann werden unsere Politiker und Wissenschaftler in den „Denkfabriken“ begreifen, dass deutsches und europäisches Interesse auf friedliche, geordnete Verhältnisse auf unserem eurasischen Kontinent gerichtet sein muss, anstatt sich anglo-amerikanischen Interessen unterzuordnen, die eben dies verhindern wollen?
Titelbild: MIGUEL G. SAAVEDRA/shutterstock.com
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