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Titel: Vorbild Schweiz. „Wir brauchen eine wirklich integrierte Bahn!“

Datum: 18. November 2021 um 8:56 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Interviews, Privatisierung öffentlicher Leistungen, Umweltpolitik, Verkehrspolitik
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Die Katze ist aus dem Sack. Was vor der Bundestagswahl nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde, wird nach dem Urnengang plötzlich offen debattiert: Die Aufspaltung der Deutschen Bahn in die Bereiche Netz und Betrieb. Die Monopolkommission will es so, Grüne und FDP auch, nur die SPD als dritter Part der wohl kommenden Regierungskoalition ziert sich noch – nicht aus Prinzip, sondern aus Rücksichtnahme auf gewerkschaftliche Befindlichkeiten. Die könnte sich nach dem Amtseid schnell erledigt haben, zumal auch die organisierten Lokführer und der „Fahrgastverband Pro Bahn“ mit der DB-Zerschlagung liebäugeln. Hendrik Auhagen vom Bündnis „Bahn für Alle“ hält das für die weitaus schlechtere von zwei Alternativen zum Status quo einer Möchtegern-Börsenbahn, für die Fahrgäste und Schienen nur Profitfaktoren sind. Im Interview mit den NachDenkSeiten zeigt er sich überzeugt: Das beste Rezept gegen Privatisierungen und für eine echte Verkehrswende ist einheitlicher Betrieb. Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Herr Auhagen, dieser Tage hat der noch geschäftsführende Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) vor einer Zerschlagung der Deutschen Bahn (DB) gewarnt. Anlass sind Überlegungen, den Konzern in die Bereiche Netz und Betrieb mit dem Ziel aufzuspalten, den Wettbewerb auf der Schiene zu stärken. Nicht nur hat dies zuletzt die Monopolkommission empfohlen, auch die Koalitionspartner in spe SPD, Grüne und FDP ziehen das Rezept ernsthaft in Betracht. Aber nicht mit Scheuer: Wer so verfahre, „gefährdet das Unternehmen und Interessen unseres Landes“, meint er. Sind Sie eigentlich dankbar für so einen „Bündnispartner“?

Schlechte und vor allem scheinbare Verbündete sind manchmal schädlicher für die Sache als Gegner. Scheuer würde ich eher in der Tradition der integrierten Privatisierung sehen. Zu dieser Politik gehören die weltweiten Auslandsengagements der DB, die erklärtermaßen auf Gewinnerzielung und nicht auf gemeinnützigen Bahnverkehr in Deutschland ausgerichtet sind. Dagegen hat Scheuer in seiner Amtszeit nichts unternommen. Dieser aus der Mehdorn-Zeit stammende Integrationsbegriff hatte das Ziel, die heimische Bahn-Infrastruktur auszuschlachten – zur Schaffung eines Global Players.

Man male sich aus, wie demnächst CDU/CSU im Bundestag auf die „bösen“ Privatisierer von Rot-Grün-Gelb losgehen, um den Staatskonzern vorm Zugriff gieriger Investoren zu bewahren. Oder reicht Ihre Phantasie doch nicht so weit?

Das könnte sein. Aber ich möchte vor der klassischen linken Schablone warnen, dass Konservative automatisch und per se für Privatisierung seien. Es gab und gibt in der CDU neben neoliberalen Tendenzen auch solche für ein gutes Gemeinwesen. Und damit eine verhaltene Kritik am Verlust von Postämtern und kleinen Bahnhöfen gerade in der Fläche. Und umgekehrt passiert es immer wieder, dass kulturell knackige Links-Grüne – wie in Berlin bei der S-Bahn – Privatisierungen dulden, wenn nicht sogar aktiv befördern. Auch der Wechsel von Helmut Kohl zu Gerhard Schröder war nicht der von neoliberal zu Gemeinwesen-Orientiertheit.

Egal ob mit oder ohne die Union. Widerstand gegen die absehbar kommende Bahn-Reform erscheint angesichts der begonnenen Diskussion dringend angezeigt. Oder wie schätzen Sie die Lage ein?

Alle – auch bei „Bahn für Alle“ – sind sich einig, dass sich bei der Bahn etwas tiefgreifend ändern muss. Die Frage ist: In welche Richtung? Und da ist die obsessive Fixierung auf das Patentrezept „Wettbewerb“ bei der FDP ein gefährlicher Faktor. Um so mehr, als auch der als „links“ firmierende Grüne Anton Hofreiter an die heilende Wirkung des Wettbewerbs auf der Schiene glaubt, durchaus in diesem religiösen Sinne einer faktenresistenten Jenseitsorientierung.

Bliebe als letzte Hoffnung die SPD. Die soll ja aus Rücksichtnahme auf gewerkschaftliche Befindlichkeiten, im Speziellen wegen ihrer Nähe zur Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG), vor einem allzu radikalen Schritt zurückschrecken. Was geben Sie darauf?

Ich befürchte da einen falschen Gegensatz des „Entweder alles lassen, wie es ist“ – DB, EVG und SPD – und der Position der Grünen, die aus einem richtigen Antiimpuls das Falsche schließen, also aus den negativen Erfahrungen mit der real existierenden dominierenden DB heraus den Wettbewerb fordern. Anstelle dieses falschen Gegensatzes brauchen wir ein erneuertes Konzept von Gemeinwohl-Unternehmen insbesondere bei der Bahn.

Wie könnte das aussehen?

Ich wohne in Konstanz mit einem deutschen und zugleich Schweizer Bahnhof und habe so die Alternative vor der Nase. Es war und ist auffällig, wie viel motivierter und fähiger die Schweizer Eisenbahngesellschaften – alle gemeinnützig – und auch ihre Beschäftigten sind. Und ich kenne ziemlich gut Griechenland, den öffentlichen Dienst dort und auch die Vorkrisen-Bahn, die ebenso wie die Schweizer Bahn eine integrierte Bahn war. Trotzdem sind das zwei völlig andere Mentalitäten: Im griechischen öffentlichen Dienst findet sich häufig die Mentalität von Machtposition und Pfründen, in der Schweiz ein ausgeprägtes Bewusstsein einer im guten Sinne dienenden Funktion. In den guten Zeiten Griechenlands verrotteten neue Elektroloks jahrelang auf Abstellgleisen und es kam zu nächtlichen Leerfahrten mit Güterzügen – nur der hohen Nachtzuschläge wegen. Also nur auf die formale Struktur zu schauen, ist zu wenig.

Was dann?

Wer im System Schiene das falsche Wettbewerbsprinzip verhindern will, muss auch nach solchen Strukturen schauen, die eine intrinsische Motivation, also eine auf die Sache und nicht auf den Gewinn ausgerichtete, fördern. Das sind neben guter Bezahlung vor allem die Gestaltungsmöglichkeiten, die Rückmeldung auf die Anstrengung und die Identifikation mit den Menschen, für die man arbeitet. Darum finde ich das Konzept von gemeinnützigen Länderbahnen mit sogar einer mitgestaltenden Rolle von Kommunen und Landkreisen interessant. Beispielhaft ist da die Karlsruher Straßenbahn, die mit normalspurigen Triebwagen sehr guten Verkehr auf dem Bahnnetz betreibt.

Ohne Widerstand wird eine Zerschlagung der Bahn nicht abgehen. Für wie kampfeslustig halten Sie die Gewerkschaften? EVG-Vize Martin Burkert nennt die Zerschlagung „eine rote Linie“, die bei Überschreitung „massive Proteste“ provozieren würde. Kann man sich darauf verlassen?

Da fehlen mir schlichtweg die Kenntnisse. Allerdings könnte ich mir vorstellen, dass die EVG in einer Radikalitätskonkurrenz mit der Lokführergewerkschaft GdL steht und sich schon aus dem Grunde genötigt sieht, auch einmal die Muskeln spielen zu lassen.

Was wären die Folgen, sollte die Aufspaltung in Netz und Schienenbetrieb tatsächlich kommen?

Eine Frage ist, inwieweit wir nicht schon jetzt eine Aufspaltung in Netz und Betrieb haben. Ich habe mich immer wieder mit den alltäglichen Skandalen von geplanten Streckensperrungen und dem Schienenersatzverkehr – Ersatzbusse – beschäftigt. Insbesondere in der Fläche werden dadurch Millionen von Menschen ins Auto quasi zurückgeprügelt. Es handelt sich um eine Anti-Verkehrswende, um die sich kaum jemand kümmert.

Um aus der Fülle der Fälle nur ein Beispiel aus meiner Region herauszugreifen: In den letzten zehn Jahren wurde die zweigleisige Strecke Konstanz–Offenburg, die Hauptlinie durch den Schwarzwald, insgesamt mindestens 18 Monate lang immer wieder irgendwo wegen Bauarbeiten von der DB-Netz gesperrt. In den 1970er Jahren dagegen wurde diese Strecke von der wirklich integrierten Bundesbahn in sehr anspruchsvollen Arbeiten elektrifiziert, bei laufendem Betrieb und ohne längere Sperrungen.

Die integrierte Bundesbahn hat die Gesamtwirkungen und Verluste berechnet und nicht wie die DB-Netz isoliert auf möglichst geringe Baukosten geachtet, die natürlich bei laufendem Betrieb höher sind. Bei den Debatten über die Streckensperrungen hat sich auch die DB-Regio hilflos über die Praxis ihrer Schwester-Gesellschaft DB-Netz beschwert. Ist das ein Zeichen für Integration? Es erscheint durchaus möglich, dass eine gemeinnützige, finanziell gut ausgestattete Netzgesellschaft, die unter starker Kontrolle und Abstimmung von Betriebsgesellschaften und Ländern steht, sogar Verbesserung bedeuten könnte. Trotzdem bin ich langfristig für eine wirklich integrierte Bahn. Und zwar auch aus Klimaschutzgründen.

Angenommen, das Netz würde in ein „am Gemeinwohl orientiertes Bundesinfrastrukturunternehmen“ überführt, wie dies etwa dem „Fahrgastverband Pro Bahn“ vorschwebt. Hätte die öffentliche Hand damit nicht ein mächtiges Steuerungsinstrument in der Hand, sowohl den Wettbewerb auf der Schiene einzuhegen als auch die nötige verkehrspolitische Wende besser zu steuern? Schließlich hat die DB das Bahnnetz vor allem wegen ihrer Profitorientierung erst so verkommen lassen.

Ich bin fasziniert vom 200%-Plus-Bahnkonzept, für das gerade von 20 namhaften Verkehrswissenschaftlern geworben wird. Es weist einen Weg auf, bis 2030 die Kapazitäten zu verdreifachen, zu wesentlich niedrigeren Kosten und wesentlich schneller als bei den Plänen von Scheuer und DB-AG – vor allem durch Optimierung des Betriebs auf dem Bestandsnetz. Durch harmonisiertes Tempo – zum Beispiel Tempo 120 – von dicht aufeinanderfolgenden Zügen können die Bahnkapazitäten auf heute überlasteten Strecken stark gesteigert werden. Das würde schnell große Umverlagerungen von der Straße auf die Schiene ermöglichen, allerdings nur, wenn durch gleiches Tempo, gleiche Qualität des Rollmaterials und einen eng getakteten Fahrplan die Streckenkapazitäten optimal ausgenutzt werden.

Das verlangt aber einen hochgradig integrierten Betrieb. Bei Gültigkeit aller Fahrkarten in allen Zügen könnte die echte Reisegeschwindigkeit auch ohne die CO2-Schleudern weiterer Hochgeschwindigkeitsstrecken erhöht werden. Statt mit 300 Sachen zum Umsteigebahnhof zu rasen, um dort 40 Minuten zu warten, fiele die Warterei mit einer ökologisch optimierten Geschwindigkeit und einem dichten Takt weg. Dieser revolutionäre CO2-Einsparschritt ist nur möglich bei einem einheitlichen Betrieb.

Aber die „Klimabahn“ propagieren doch auch die Grünen, und wo, wenn nicht in deren Obhut, wäre das Klima am besten aufgehoben?

In tiefen ökologischen Widerspruch geraten die Grünen in Berlin, wo sie die Zerlegung der S-Bahn in verschiedene Gesellschaften aktiv betreiben und zusätzliche Betriebswerke bauen lassen wollen, um das Wettbewerbsideal zu realisieren.

Wie konkret müsste und könnte der Beitrag einer integrierten Deutschen Bahn zur Klimawende noch aussehen?

Eine echte Klimabahn ist nur eine, die die Gesamtenergie- und damit die CO2-Menge berücksichtigt. Zusätzliche Tunnelbauten sind wie beim Klima aufgenommene Kredite angesichts der ungeheuren Energiemengen, die im Beton, Stahl und dem Bau stecken. Beim geplanten Bau der U-Bahn-Linie 5 in Hamburg würde die CO2-Abzahlung des Kredites 500 Jahre dauern. Ähnlich hoch sind die Amortisationszeiten beim Bau der geplanten ICE-Strecke bei Bielefeld. Viele Grüne blenden diese „graue Energie“ einfach aus, so als ob das Klima zwischen schlechtem und gutem CO2 unterscheiden würde. Also wird über Letzteres nicht geredet. Die gleiche modische Verdrängung bei Bahnprojekten ist leider auch bei vielen Umweltverbänden festzustellen.

Ein falscher Mythos bestimmt aber nicht nur die Grünen, sondern auch ganz linke Initiativen. Da gibt es nämlich die selbstverständliche Annahme, „jede Bahn ist ökologisch“. So sehr ich in vielen Bereichen die Forderung „Züge statt Flüge“ richtig finde – wenn mit ihr der Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes begründet wird, ist sie kontraproduktiv, also bei genauem Hinsehen eine „für mehr CO2“. Der ökologisch optimale Zug hat ein Tempo um die 130 Kmh, besteht aus vielen Doppelstockwagen, benutzt kaum zusätzlich gebaute Strecken und ersetzt viele Autofahrten beziehungsweise den Bau und Besitz von PKWs. Nur wenige Prozent aller Bahn- und Autofahrten finden im Entfernungsbereich über 200 Kilometer statt. Aber in diesen Bereich fließt der Löwenanteil aller Bahninvestitionen.

Kritiker verweisen immer wieder auf die Verheerungen, die die Zerschlagung der Eisenbahn in Großbritannien zur Folge hatte. Muss das notwendig auch bei uns in Deutschland passieren?

In Großbritannien wurde das Netz nicht nur abgetrennt, sondern auch privatisiert. Das hat zu den bekannten Verheerungen geführt.

Aber wären weitere Privatisierungen nicht der logische nächste Schritt nach der Zerschlagung? Auch die der DB selbst oder was davon noch übrig bleibt?

Insbesondere eine Privatisierung der DB-Fernverkehr wäre eine Katastrophe und derjenige, der das betreibt, übernimmt die Schuld für eine Anti-Verkehrswende. Gerade wer aus Klimagründen den notwendigen Umstieg weg vom Auto will, muss das Entscheidende dafür tun und da geht es vor allem um dreierlei. 1. Zuverlässigkeit, die ist zehnmal wichtiger als Höchstgeschwindigkeit! 2. Einfachheit. 3. Ein dichtes Angebot zu vernünftigen Preisen. Und das bedeutet genau das Gegenteil von vielen verschiedenen Gesellschaften mit jeweils eigenen Schnäppchenpreisen und dem Zwang zum Warten auf den Zug der speziellen Gesellschaft und dem Vorbei-Fahren-Lassen der anderen Züge.

Aber: Warum muss die Herstellung einer echten Gemeinnützigkeit des Netzes die Privatisierung der Betriebsgesellschaften bedeuten? Gegen Letzteres sollten sich Umweltverbände, Bahninitiativen, Fridays for Future und alle anderen richten.

Titelbild: Kenneth Ip/shutterstock.com

Zur Person: Der ehemalige Gymnasiallehrer Hendrik Auhagen (Jahrgang 1951) saß in den 1980er-Jahren knapp zwei Jahre lang für die Grünen-Partei im Bundestag und war in den Nuller-Jahren Mitinitiator von „Bahn für Alle“, dem erfolgreichen Bündnis gegen die Privatisierung der Deutschen Bahn (DB). Heute engagiert er sich für eine Verkehrswende und deshalb weiter gegen Bestrebungen zur Privatisierung der DB.


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