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Titel: Auf dem Weg in die Expertokratie?
Datum: 15. November 2021 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Fünfunddreißig Wissenschaftler, Virologinnen und Ärzte, Physiker, Gesundheitsexpertinnen und Soziologen, haben eine Erklärung zur aktuellen Lage in der Pandemie veröffentlicht. Sie machen sich Sorgen und haben Forderungen an die Politik. Sie wollen die Spaltung der Gesellschaft überwinden, so sagen sie, und sie fordern, dass die Politik in ihrem Handeln auf die Wissenschaft hört. Dafür soll, nach dem Willen der 35, ein Expertenrat eingerichtet werden. Einige aus der Gruppe sind aus den Medien gut bekannt, etwa die Virologin Melanie Brinkmann, der Physiker Michael Meyer-Hermann oder der Soziologe Armin Nassehi. Dass diese Personen in der Politik in den letzten Monaten zu wenig Gehör gefunden hätten, klingt überraschend. Bei genauer Lektüre des Textes drängt sich der Eindruck auf, dass die Autoren eine überraschend simple Vorstellung von Politik in der demokratischen Gesellschaft haben. Von Jörg Phil Friedrich.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Am Anfang des Textes der Wissenschaftler steht eine Zahl: 700 Menschen sterben derzeit in einer Woche. Gemeint ist vermutlich, dass diese Menschen im Moment des Sterbens mit dem Corona-Virus infiziert sind, denn natürlich sterben mehr Menschen in Deutschland in einer typischen Novemberwoche. In den Jahren vor der Pandemie waren es täglich um die 2.700 Menschen, die an einem normalen Novembertag sterben. Das bedeutet, um hier einmal auf eine Zahl mit einer Zahl zu antworten: weniger als 4 Prozent der Menschen, die in diesen Tagen in Deutschland sterben, tragen das Corona-Virus in sich. Das sagt nicht, dass COVID-19 in diesen Fällen immer die Todesursache war. Zur Einordnung der Zahl ist aber interessant, dass der Anteil derer, die in Deutschland an einer nicht natürlichen Todesursache wie zum Beispiel einer Verletzung oder Vergiftung sterben, bei etwas mehr als 4% liegt. In knapp 2% der Fälle ist ein Sturz Todesursache, 1% der Menschen begehen Suizid.
All diese Schicksale sind tragisch und bedauerlich, viele wären sicherlich auch vermeidbar gewesen und – das ist in unserem Zusammenhang wichtig – durch staatliche Vorschriften, Maßnahmen und Verbote ließen sich die Zahlen etwa der tödlichen Verletzungen und Unfälle sicher reduzieren.
Da gern bei solchen Einordnungen sogleich darauf hingewiesen wird, dass Unfälle und Vergiftungen nun mal nicht ansteckend seien, soll nur am Rande darauf hingewiesen werden, dass es oft die Unachtsamkeit und Fahrlässigkeit anderer ist, die zu tödlichen Unfällen führen.
Zurück zur Pandemie und zum Schreiben der Wissenschaftler. Für Corona haben wir inzwischen Impfstoffe, mit denen sich die meisten Menschen vor einem schweren Verlauf der Infektion schützen können, und wir kennen eine Reihe von Möglichkeiten, um das tägliche Risiko für jeden zu reduzieren. Virologen wie Christian Drosten lehren uns aber auch, dass wir alle uns in den nächsten Jahren infizieren werden und müssen, damit das Virus insgesamt ungefährlich wird und sich eine Bevölkerungsimmunität einstellt. Stellen wir uns vor, dass sich ein solcher Prozess über etwa 5 Jahre hinzieht, müssten sich täglich knapp 40.000 Menschen infizieren.
Das ist die Situation, in der die 35 Wissenschaftler die Alarmglocken läuten lassen. Sie werfen der Politik vor, nicht zu handeln und nur abzuwarten. Sicherlich kann man der Politik vieles vorwerfen, aber Tatenlosigkeit ist es nicht. Es wurden Maßnahmen umgesetzt, die viele Menschen für angemessen hielten, einige für zu weitgehend, andere für zu zaghaft. Es wurden Stützungsprogramme für die Wirtschaft im Lockdown aufgelegt, manche meinen, es waren die falschen, manche meinen, es war zu viel oder zu wenig. Es wurde die Impfstoffentwicklung gefördert, es wurden Test- und Impfinfrastrukturen aufgebaut. In allem kann man mit gutem Grund der Meinung sein, dass das Falsche, zu viel oder zu wenig getan wurde – aber gehandelt wurde.
Die Wissenschaftler haben ja eigentlich auch einen anderen Vorwurf: nicht, dass die Politik gar nicht gehandelt hätte, empört die, sondern dass sie sich nicht nach den Empfehlungen der Wissenschaft gerichtet habe.
Damit verkennen die Forscher aber das Wesen der Politik und der klugen politischen Entscheidungsfindung. Politisch klug ist nicht, was wissenschaftlich richtig ist (einmal unterstellt, dass es darüber überhaupt einen wissenschaftlichen Konsens oder gar Sicherheit gäbe). Politisch kluges Handeln und Entscheiden zeigt sich darin, dass es machbar ist und in der Praxis zu Regelungen und Maßnahmen führt, die akzeptiert werden und den sozialen Frieden nicht übers erträgliche Maß hinaus strapazieren. Da nun überraschenderweise nicht alle Menschen Wissenschaftler sind und der wissenschaftlichen Rationalität folgen (worüber wir vermutlich froh sein können, aber das ist eine andere Frage – hier ist es einfach erst mal hinzunehmen), muss politisches Handeln die Denkweisen und Meinungen auch von denen akzeptieren und berücksichtigen, die sich nicht oder nicht im vollen Umfang dem Diktat der Wissenschaft beugen wollen.
Das Schreiben der Wissenschaftler zeigt, dass ihnen die Mechanismen gelingender Politik überhaupt nicht vertraut sind. Das ist überraschend, wenn man bedenkt, in welch engem Kontakt viele von ihnen in den letzten Monaten mit der Politik gestanden haben.
Konkret fordern sie nun einen Expertenrat und es ist schon bedenklich, welche Missachtung demokratischer Institutionen nur leicht verschleiert aus den Forderungen spricht. Zwar sei „unbestritten, dass die Entscheidungsgewalt über den grundsätzlichen Kurs in der Pandemiebekämpfung sowie einzelne Maßnahmen viel stärker als bisher beim Parlament liegen muss.“ Aber ebenso unbestritten sei „jedoch auch, dass die Entscheidungen viel stärker als bisher an wissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichtet werden müssen.“ Wie sich die Wissenschaftler das praktisch vorstellen, dass ein demokratisches Parlament seine Entscheidungen ausrichtet, bleibt ihr Geheimnis. Statt das einmal konkret zu erläutern, schlagen sie sogleich einen „Krisenstab“ vor, der die wissenschaftliche Sachgrundlage erarbeitet, kommuniziert und umsetzt – immerhin noch „nach politischer Abstimmung“. Da ist die Katze aus dem Sack. Was sich die 35 Experten wünschen, ist ein Expertengremium mit exekutiver Kompetenz.
Es ist geschickt, der Forderung nach einer Expertokratie mit lockerer Anbindung ans Parlament eine massive Politikkritik vorauszuschicken, die bei vielen Menschen wohl auf Beifall hoffen darf. Zu behaupten, dass die Spaltung der Gesellschaft zu den Dingen gehört, die den Autoren Sorgen macht, ist dann allerdings, gelinde gesagt, unglaubwürdig. Kommt das radikale Bashing der politischen Entscheider nicht sonst gerade von denen, denen vorgeworfen wird, die Gesellschaft spalten zu wollen? Auf welchen Weg begeben sich hier 35 Wissenschaftler, die um der Eindämmung einer Krankheit willen, die keine 4 % der Todesfälle in Deutschland verursacht, die verfassungsmäßigen demokratischen Institutionen umgehen und eine demokratisch nicht legitimierte Exekutive von Wissenschaftlern etablieren wollen? Man kann nur hoffen, dass einige der Unterzeichner dies noch einmal überdenken und ihre Beteiligung an einem solchen Vorhaben zurückziehen.
Titelbild: metamorworks/shutterstock.com
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