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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: 10 Jahre NSU-VS-Komplex. 10 Jahre offizielle Verschwörungsmythen – Teil I
Datum: 13. November 2021 um 11:45 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Innere Sicherheit, Rechte Gefahr, Terrorismus
Verantwortlich: Redaktion
Über elf Jahre wurden die neun Morde an Menschen, die nicht deutsch genug waren, von Behörden, politisch Verantwortlichen und Medien als „Döner-Morde“ ausgewiesen. Mit der Selbstenttarnung des NSU, als Antwort auf die beiden toten NSU-Mitglieder in Eisenach 2011, bettete man die Mordopfer um und versprach „lückenlose Aufklärung“. Es folgte eine weitere Legende: Die Pannentheorie, die man als „komplettes Behördenversagen“ aufhübscht. Von Wolf Wetzel.
Wir haben auf den NachDenkSeiten ausführlich und kontinuierlich berichtet. Die hier vorgestellten Thesen stützen sich unter anderem auf folgende Beiträge:
Der Untergrund des NSU war ein Aquarium der Geheimdienste
Das unwahrscheinliche Ende des NSU. Eisenach 2011.
Operation Konfetti – der 11. Tatort im NSU-VS-Komplex
Warum sterben – rund um den NSU – so viele (potenzielle) Zeugen in Baden-Württemberg?
Der NSU-Jahrhundertprozess und ein Scheinurteil, 2018
Am Ende der NSU-Trio-Version. Der Mord an Walter Lübcke 2019
Am 4. November 2011 wurden in einem ausgebrannten Campingwagen in Eisenach zwei Tote geborgen, die ganz schnell als Mitglieder der neonazistischen Untergrundgruppe NSU „enttarnt“ wurden. Genauso schnell ergaben die Ermittlungen, dass die beiden NSU-Mitglieder „einvernehmlichen Selbstmord“ begangen haben (sollen). Im selben Tempo ermittelten die Behörden, dass der NSU aus drei Mitgliedern bestand, nachdem sich das „dritte“ Mitglied Beate Zschäpe gestellt hatte. Damit war obsolet, was man zehn Jahr lang mit großer Gewissheit und ohne Widerspruch behauptet hat. Die neun Menschen mit türkischen/griechischen Wurzeln, die zwischen den Jahren 2000 und 2006 ermordet wurden, waren keine „Dönermorde“, also Morde innerhalb eines „kriminellen Ausländermilieus“. Sie wurden von Neonazis begangen.
Gleichzeitig versank die jahrelang verkündete Gewissheit, dass es keinen „braunen Untergrund“ gäbe, also Nazis, die klandestin organisiert sind und Terror- und Mordanschläge zu ihrer Strategie machten, in der Versenkung.
Dass die Ermittlungsbehörden einem Geistesblitz gefolgt sind, darf man bezweifeln. Es ist dem Umstand zu verdanken, dass Beate Zschäpe im Zuge ihrer Flucht Videos verschickte hatte, in denen die Morde in einen rassistischen Kontext gestellt wurden. Mit diesem unerwarteten und störenden Erkenntnisgewinn musste man etwas machen. Also bettete man die „Dönermorde“ um und erklärte alles andere mit (persönlichen, ermittlungstechnischen und metaphysischen) Pannen, noch mehr Zufällen und mit Kompetenzgerangel, sobald sich zwei (und mehr) Behörden auf dem Flur oder auf der Straße begegneten. Das soll ganz besonders oft zwischen Polizeibehörden und Geheimdiensten (VS/MAD/CIA) der Fall gewesen sein.
Bis heute bleiben die Polizei, die Geheimdienste und die jeweiligen Landesregierungen bei dieser Version. Man habe vom „NSU“ keinen blassen Schimmer gehabt, man habe von Mordplänen nichts gewusst, man habe sie schon gar nicht verhindern können. Dieses Erkenntnisvakuum passt so gar nicht zu dem Fakt, dass über 40 V-Leute im NSU-Netzwerk platziert waren, auch in unmittelbarer Nähe zum „NSU-Trio“. Zwischen der Tätigkeit als V-Leute und ihrem Kernanliegen, Neonazis zu sein, muss es offensichtlich zu Abstimmungsproblemen gekommen sein. Ganz ohne Spaß kann man festhalten, dass man die als V-Mann geführten Neonazis abschöpfte, ohne das Wissen dazu zu nutzen, das zu vereiteln, was den Einsatz von V-Leuten, von Spitzeln rechtfertigen soll.
Nun liegen ganze zehn Jahre ‚Aufklärung’ hinter uns. Die Zweifel an diesen Ermittlungsergebnissen nahmen leise und tröpfchenweise von Monat zu Monat zu. Hunderte, Tausende von Akten sind verschwunden oder vernichtet worden – vor allem die von V-Leuten, die im Nahbereich des NSU eingesetzt waren. Es wurden Tatorte manipuliert, Beweismittel unterschlagen. Es tauchten Zeugen auf, die belegen, dass Polizei und Geheimdienst sehr früh von der Existenz des NSU erfahren hatten. Zeugen, die darüber berichten, dass mögliche Festnahmen gezielt verhindert worden waren, dass V-Leute den neofaschistischen Untergrund mit angelegt hatten – durch Beschaffung von Sprengstoff, (falschen) Papieren, Wohnungen und Geld. Es tauchte bislang unterschlagenes Beweismaterial auf, das nahelegt, dass andere bzw. weitere Täter an den Terror- und Mordanschlägen beteiligt gewesen sein müssen. Es starben zahlreiche Zeugen, die die offizielle Version in Gefahr bringen konnten.
Obwohl die Evidenz der Beweismittel, die für die offizielle Version sprechen, Jahr um Jahr schwand, klammert man sich bis heute an diese Pannentheorie, die man gelegentlich auch als „komplettes Behördenversagen“ aufhübscht. Das war aber auch das allerhöchste und damit sollte es auch genug sein.
Das ändert nichts an den fünf zentralen Thesen, die sich Generalbundesanwaltschaft und Gericht, Verfassungsschutz und Polizei und die allermeisten Medien einträchtig bis heute teilen:
Das hat der Bundesanwalt Herbert Diemer 2013 so zusammengefasst:
„Wir haben bisher noch keine Hinweise auf lokale Unterstützer, auch noch keine Hinweise auf die Verstrickung staatlicher Behörden gefunden.“
Das „bisher“ hält sich zeitlos bis heute. 2016 habe ich nach den vielen Jahren der Recherche ein erstes Fazit gezogen, das in allen relevanten Punkten der offiziellen Version widerspricht.
Ich habe dabei sehr klar und einschränkend erklärt, dass man dabei vielleicht auf 20 Prozent der Beweismittel, der Akten und Ermittlungsergebnisse zurückgreifen kann. 80 Prozent des NSU-VS-Komplexes liegen im Dunkeln, weil bei allem angeblichen Kompetenzgerangel alle Behörden in diesem zentralen Punkt zusammenarbeiten: Man verweigert den Zugang zu diesem Wissen. Man vernichtet/e Beweismittel. Hunderte von Akten sind nicht mehr verfügbar.
Dennoch lohnt es sich sehr, heute zu überprüfen, ob die Hypothesen aus dem Jahr 2016 dem standhalten, was man heute weiß, ob sie in den 80 Prozent gut aufgehoben sind, die weiterhin eine Blackbox bleiben.
Im Wissen um diese gewaltige Schwierigkeit, von den 20 Prozent auf die fehlenden 80 Prozent zu extrapolieren, habe ich den Wert meiner Schlussfolgerungen wie folgt qualifiziert:
„Es geht nicht einfach darum, Zweifel an den Ermittlungsergebnissen zu äußern. Es geht vielmehr darum, dass keine der zentralen Annahmen Bestand hätten, wenn sich die polizeilichen Ermittlungen an ihre eigenen Arbeitsgrundlagen gehalten hätten. Auch das Eingeständnis, dass es zahlreiche und bedauerliche Ermittlungspannen gegeben habe, trifft nicht den Kern: Die Häufigkeit und Relevanz der Ermittlungspannen belegt die Systematik und nicht irgendwelches menschliches Versagen.
Man kann anhand der Ermittlungspannen belegen, dass sie – aneinander und ineinander gefügt – einen unterschlagenen Tatablauf nachzeichnen (das gilt insbesondere für Kassel 2006|Heilbronn 2007 und Eisenach 2011).“
Führende THS-Mitglieder verschwanden nicht im Untergrund, sondern wurden dazu eingeladen, ermutigt und geradezu aktiviert.
Thomas Starke war nicht nur ein führender Neonazi, sondern auch V-Mann, als er den Kameraden des Thüringer Heimatschutzes/THS den Sprengstoff lieferte, der wenig später, im Januar 1998, in der Garage in Jena gefunden wurde. Obwohl also der Besitz von 1,4 Kilo TNT-Sprengstoff in den Händen einer neonazistischen Organisation bekannt war, wurden weder Haftbefehle erlassen noch ein Verfahren nach § 129a eingeleitet. Man wollte sie nicht festnehmen, man wollte sie vielmehr für den Untergrund aktivieren.
Die Verfolgungsbehörden hatten nie den Kontakt zu den abgetauchten THS-Mitgliedern verloren, sondern hatten mit der ebenfalls 1998 beschlagnahmten „Garagenliste“ die Landkarte des Untergrundes in der Hand – ein Untergrund also, der so verborgen war wie ein am Tatort zurückgelassener Personalausweis. Diese Garagenliste blieb über zehn Jahre unausgewertet, verschwand in der Asservatenkammer. Das war keiner Ermittlungspanne geschuldet, sondern dem pikanten Umstand, dass auf der konspirativen Adressliste nicht nur ca. 50 Neonazis aus der ganzen Bundesrepublik aufgeführt waren, sondern auch vier V-Leute.
Ohne die massiven und taterheblichen Unterstützungsleistungen von V-Männern der Geheimdienste und der Polizei, ohne die unterlassenen Festnahmemöglichkeiten wäre kein Nationalsozialistischer Untergrund entstanden.
Obwohl Behörden von der Bewaffnung, von geplanten Bankrauben, von der Beschaffung falscher Identitäten nach ihrem Untertauchen Kenntnis hatten, wurde ein Verfahren nach §129a (Bildung einer terroristischen Vereinigung) verhindert. Ebenso lehnten es das Bundeskriminalamt (BKA) und die Generalbundesanwaltschaft (GBA) ab, angesichts der vorliegenden Fakten die Ermittlungen zu zentralisieren, also an sich zu ziehen. Die Absicht, das Abtauchen von führenden Neonazis strafrechtlich „flachzuhalten“, lässt sich nicht aufgrund mangelnder Tathinweise erklären, sondern aufgrund anderer Erwägungen.
Es gab verschiedene Möglichkeiten, die abgetauchten Neonazis festzunehmen. Dass dies wiederholt nicht passierte, lag nicht an Pannen, sondern an Anweisungen, die aus den jeweiligen Innenministerien kamen.
Unter Berufung auf das Thüringer Landeskriminalamt berichtete der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR), „dass die drei Hauptverdächtigen 1998 kurz nach ihrem Untertauchen von Zielfahndern aufgespürt worden waren. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei habe die Möglichkeit zum Zugriff gehabt, sei aber im letzten Moment zurückgepfiffen worden.“ (jW vom 19.11.2011)
Die Weigerung, die abgetauchten THS-Mitglieder festzunehmen, ist bis in das Jahr 2002 dokumentiert:
„Vergangene Woche war in einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses bekannt geworden, dass ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte.“ (FR vom 8.12.2011)
Auch das Innenministerium in Brandenburg verhinderte eine Möglichkeit der Festnahme. Im September 1998 bekam der Verfassungsschutz in Brandenburg einen Tipp: Dank dieses Hinweisgebers erfuhr der Geheimdienst, dass Jan Werner, ein Neonazi aus Chemnitz, den Auftrag hatte, Waffen für die abgetauchten (und gesuchten) Neonazis zu besorgen, die man später als Trio bezeichnete:
„Drei Tage nachdem die Brandenburger den vielversprechenden Vermerk geschrieben hatten, kam es zu einer geheimen Konferenz im Potsdamer Innenministerium, an der auch Vertreter der Verfassungsschutzämter aus Thüringen und Sachsen teilnahmen. Zeugnis darüber ist ein Protokoll des Treffens, das die sächsischen Kollegen verfassten. (…) Es belegt: Das Brandenburger Ministerium verhinderte aktiv die Suche nach den drei Untergetauchten.“ (Der NSU-Prozess-Blog, zeit-online vom 10. Mai 2016)
Der Hinweisgeber war kein Geringerer als Carsten Szczepanski, der als V-Mann für das LfV Brandenburg arbeitete und den Deckname ‚Piatto’ trug. Er wurde als hochwertige Quelle eingestuft. Wenn der Einsatz und das Wissen von V-Leuten tatsächlich schwere Straftaten verhindern bzw. aufklären sollen, wäre der nächste Schritt gewesen, diese Quellennachricht für die Polizei zu Fahndungszwecken freizugeben. Genau dies ist nicht passiert: „Ausgerechnet bei der Meldung zu Personen auf der Fahndungsliste machte das Ministerium jedoch einen Rückzieher und erklärte sich „nicht bereit, die Quellenmeldung als solche für die Polizei freizugeben“, wie es im Protokoll heißt. Die Beamten fürchteten, dadurch könnte Sz. als Spitzel auffliegen.“ (s.o.)
Die Fiktion von einem „Terrortrio“
Die Behauptung, der NSU hätte aus drei Mitgliedern bestanden, basiert auf keiner Indizienlage. Der NSU selbst versteht sich als „Netzwerk von Kameraden mit dem Grundsatz: Taten statt Worte“ (Bekennervideo). Würde man tatsächlich nach den Vorgaben des § 129a ermitteln und aufklären, stieße man auf zahlreiche Kameraden, die tatrelevant am Bestehen dieser terroristischen Struktur beteiligt waren. Dutzenden von Neonazis kann heute nachgewiesen werden, dass sie am Aufbau, an der Ausstattung eines neonazistischen Untergrundes beteiligt waren. Das Konstrukt vom Terrortrio deckt sich also nicht im Geringsten mit der Faktenlage. Sie deckt einzig und allein den Umstand, dass man bei Ermittlungen gegen weitere Beteiligte auch auf zahlreiche V-Leute stoßen würde.
Während der elf Jahre NSU herrschte in deutschen Behörden kein „Behördenwirrwarr“ und auch kein „Kommunikationschaos“, sondern der für deutsche Behörden vorgeschriebene und eingehaltene Dienstweg.
Gerade in einem politischen Bereich, wo schwere Straftaten verfolgt werden, ist der Dienstweg sehr klar bestimmt und geregelt. In Konfliktfällen zwischen Polizei- und Geheimdienstinteressen entscheiden weder das Los noch der Zufall, sondern der oberste Dienstherr – und das ist das jeweilige Innenministerium. Wenn man diese Hierarchie vor Augen hat und mit dem vergleicht, wie an den verschiedenen Tatorten agiert wurde, kann man die Einhaltung des Dienstweges recht genau dokumentieren.
So führte die fortgesetzte Weigerung, die abgetauchten THS-Mitglieder festzunehmen, „seinerzeit zu Krisengesprächen zwischen den Staatssekretären der Landesministerien für Justiz und Inneres sowie zwischen dem Thüringer Generalstaatsanwalt und dem LfV-Präsidenten. Große Folgen hatte das jedoch nicht: Im Jahr 2003 wurde das Ermittlungsverfahren gegen das gesuchte Trio eingestellt – und damit auch die Fahndung beendet.“ (FR vom 8.12.2011)
Bis zum Jahr 2000 müssen diese behördlichen Entscheidungen als Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gewertet werden. Mit dem ersten Mord 2000 kommen unterlassene Möglichkeiten, Mitglieder des NSU festzunehmen, der Beihilfe zu Mord gleich.
Es ist belegbar, dass deutsche Behörden (Polizei, Geheimdienst und MAD) mit über 40 V-Leuten am NSU-Netzwerk beteiligt waren. Diese Zahl ist unfassbar groß, vorläufig und unvollständig: Denn sie beinhaltet nur die bis heute namentlich bzw. über Decknamen bekannten Neonazis, die als „Vertrauenspersonen“ geführt wurden. Bis heute ist kein Beweis erbracht, dass diese V-Männer den Kontakt zum NSU verloren hatten, als die Mordserie begann. Wäre es anders, wären die zahlreichen Akten zu V-Leuten im Bundesamt für Verfassungsschutz 2011 nicht beseitigt worden („Operation Konfetti“) – man hätte sie vielmehr als Beweis den Gerichten und Untersuchungsausschüssen übergeben.
Bis heute ist in zwei Fällen sehr genau belegbar, dass eine Aufklärung der Terror- und Mordserie möglich gewesen wäre. Die nicht erfolgte Auswertung vorhandener Spuren verhinderte vorsätzlich eine Ermittlung in Richtung Neonazismus:
Die Nichtauswertung der Videoüberwachungsaufnahmen vom Tatort, die Weigerung, den Zeugenaussagen nachzugehen, der Nichtabgleich der Bombe mit der Tatmitteldatei beim Terroranschlag in Köln 2004.
Die Weigerung aller hessischen Behörden, die Anwesenheit des V-Mann-Führers Andreas Temme beim Mord in Kassel 2006 aufzuklären, die Deckungsarbeit, die fortgesetzt stattfindet, indem bis heute der Sperrvermerk des Innenministeriums für die vom V-Mann-Führer Temme angeleiteten V-Leute aufrechterhalten wird.
Dass die Aufklärung der neun Morde in allen Fällen eine Suche nach neonazistischen Tätern ausschloss, hat neben vielen anderen (politischen, rassistischen) Gründen auch staatsimmanente Gründe: Wären Ermittlungen in Richtung neonazistischer Täterschaft aufgenommen worden, wäre man unwillkürlich auf den Tatanteil staatlicher Behörden (u.a. in Gestalt von V-Leuten) gestoßen.
Das Gewährenlassen des NSU hat der Rechtsanwalt Thomas Bliwier, der die Familie des NSU-Opfers Halit Yozgat vertritt, knapp und richtig als „vom Verfassungsschutz betreute Morde“ (Hart-aber-fair-Sendung vom 5.3.2016) bezeichnet.
An zahlreichen Tatorten wurden Beweise nicht verschlampt, sondern vorsätzlich vernichtet bzw. manipuliert.
Dieser Vorwurf lässt sich am eindringlichsten am Beispiel des Mordanschlages auf zwei Polizisten in Heilbronn 2007 belegen. Es gibt keinen einzigen Beleg dafür, dass die beiden toten NSU-Mitglieder an der Tat direkt beteiligt waren. Ein Berg an Beweisen und Zeugenaussagen weist vielmehr auf Tatbeteiligte, die nicht mit der Anklageschrift übereinstimmen. Das belegen nicht nur die Phantombilder, die mithilfe von Zeugen (u.a. auch vom schwer verletzten Polizisten Arnold) angefertigt worden waren. Ginge es um die Einhaltung von Ermittlungsstandards, wäre evident, dass an dem Mordanschlag mehr als zwei Personen beteiligt waren. Die mittlerweile dokumentierte fortgesetzte Ermittlungssabotage durch die Leitende Staatsanwaltschaft legt eine andere Annahme mehr als nahe: Man will unter allen Umständen Täter schützen, die nicht nur zu weiteren Neonazis führen könnten, sondern auch zu staatlichen Behörden. Dass selbst die Aufklärung eines Mordanschlages auf Polizisten vor dem Schutz von „Staatsgeheimnissen“ (Vize-Chef des Inlandsgeheimdienstes Klaus-Dieter Fritsche) kapitulieren muss, markiert sicherlich den wundesten Punkt im NSU-VS-Komplex.
Die Behauptung, der Geheimdienst/Verfassungsschutz habe sich „verselbstständigt“, schützt die politisch Verantwortlichen.
Diese These hatte zu Beginn des „NSU-Skandals“ überraschend viele Befürworter, mit sehr unterschiedlichen politischen Motiven. Politisch reicht diese Diagnose von der „FAZ“ über „taz“ bis hin zu zahlreichen antifaschistischen Gruppierungen. Anfangs zogen sie noch gemeinsam die Konsequenz daraus, dass man den Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ abschaffen müsse. Nun ist nur noch – kaum vernehmbar – das antirassistische und antifaschistische Spektrum übriggeblieben.
Politisch erfüllte diese Forderung, gerade anfangs, eine gewaltige Entlastungsfunktion: Man hatte viele Dunkelstellen im NSU-VS-Komplex und man wollte dafür jemanden verantwortlich machen. Dafür eignet sich der Geheimdienst hervorragend. Profitieren wollten davon vor allem die politischen Funktionsträger aller Parteien, denn niemand stellte die Frage: Wer führt in einem Land wie der BRD den Geheimdienst, die Geheimdienste? Hat die politische Führung der Geheimdienste also versagt? Oder haben die Geheimdienste im Großen und Ganzen das gemacht, was man ihnen zugestanden hat, was man nicht unterbinden wollte?
Tatsächlich fehlen für die Verselbstständigung der Geheimdienste die Belege. Nimmt man das bislang an die Öffentlichkeit gelangte Material zu Hilfe, so muss man diese Annahme zurückweisen.
Dazu muss man wissen, dass die Dienstwege zwischen dem Geheimdienst und anderen Behörden klar geregelt sind: Auf Länderebene ist das Innenministerium oberster Dienstherr von Polizei und Geheimdienst. Wenn es um „nationale Belange“ geht, hat das Bundeskanzleramt die Dienstaufsicht über Verfassungsschutz/VS und Bundesnachrichtendienst/BND.
Gibt es auf Länderebene einen konstitutionell gewollten Konflikt zwischen Polizei- und Geheimdienstinteressen, entscheidet das Innenministerium, welche Option zum Tragen kommt. Wurde dieser Dienstweg im NSU-Komplex eingehalten? Nach allem, was vorliegt: ja.
Die Belege, dass in Bundesländern, wo die Terror- und Mordserie des NSU verübt wurde, die jeweiligen Innenministerien das letzte Wort hatten, unabhängig davon, ob sie von der CSU oder der SPD geführt wurden, sind zahlreich und fast lückenlos. Der Schlüssel für die fortgesetzte Untätigkeit, der Schlüssel für den Umstand, dass Mitglieder des NSU über zehn Jahre morden konnten, liegt also nicht im Dunklen, sondern in den jeweiligen Innenministerien.
Titelbild: Mehaniq/shutterstock.com
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