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Titel: Flüchtlinge/Belarus: Deutsche Medien wähnen sich im „hybriden Krieg“

Datum: 12. November 2021 um 9:53 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Globalisierung, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik
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Zahlreiche Redakteure und Politiker bezeichnen die unklaren Vorgänge an der polnisch-belarussischen Grenze als eine „hybride“ Kriegserklärung gegen die EU unter der „Regie“ Russlands. Das ist gefährlich, denn angebliche kriegerische Akte können entsprechende Reaktionen „rechtfertigen“. Unter den Tisch fällt in weiten Teilen der Berichterstattung die Ursache für die massenhafte Flucht: westliche Kriege und Sanktionen. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Berichte von der polnisch-belarussischen Grenze sind sehr beunruhigend. Das menschliche Leid und die noch ungeklärten Zustände an der Grenze, über deren Hintergründe eine Meinungsschlacht entbrannt ist, müssen umgehend beendet, die betroffenen Menschen versorgt werden. Doch in zahlreichen großen deutschen Medien wird statt praktischer Lösungssuche vor allem eine Suche nach Sündenböcken praktiziert: Der russische Präsident spannt seine Amtskollegen aus Weißrussland und der Türkei ein, um einen „hybriden Krieg“ gegen „Europa“ zu führen. Dabei benutzen die Verantwortlichen „Migration als Waffe“ und „erpressen“ damit die EU. Darauf (also auf den „Krieg“) muss „entschieden“ reagiert werden.

Das ist der Tenor in zahlreichen Medienkommentaren zur Situation an der Grenze, Teile der Politik äußern sich ähnlich. Diese Sichtweise blendet weiterhin aus, dass die betreffenden Menschen vor allem durch „westliche“ Kriege zur Flucht gedrängt wurden, wie unter anderem Sergej Lawrow oder Oskar Lafontaine gerade noch einmal klargestellt haben. Unter anderem im Fall Syrien sind es illegale „westliche“ Sanktionen, die die Bürger bedrohen und zur Flucht bewegen, wie Albrecht Müller gerade im Artikel “Syrien aushungern! Und andere Gründe für den Anstieg der Flüchtlingszahl” beschrieben hat. Der Schlüssel zur Beendigung der Flüchtlingsbewegungen liegt zu allererst im geopolitischen Westen.

Medien winden sich wegen Doppelstandards westlicher Geopolitik

Da die aktuellen Vorgänge einmal mehr die verheerenden Auswirkungen der westlichen Geopolitik der vergangenen Jahre deutlich machen, winden sich viele Redakteure großer Medien bei dem Thema gehörig, weil die eigenen Doppelstandards offenbart werden, die regelmäßig an andere Länder angelegt werden – je nachdem, ob sie politische Konkurrenten oder „Partner“ sind.

Nicht nur werden die westlichen Kriege als Ursache der Flüchtlingsbewegungen und der aktuellen Situation in weiten Teilen der Berichterstattung ausgeblendet – zusätzlich werden inhaltliche Brüche offenbar: Das Ideal der „offenen Grenzen“ kollidiert mit der Realität des Grenzschutzes, der von zahlreichen Bürgern eingefordert wird – die Bedeutung eines Grenzschutzes sollte (in Abwägung mit dem wichtigen Recht auf Asyl in Notsituationen) keinesfalls gering eingeschätzt werden. Aber der Kontrast zwischen menschenrechtlichen Lippenbekenntnissen des „Wertewestens“ einerseits und den mutmaßlichen aktuellen „Push-Backs“ durch Polen ist nicht ohne Widersprüche aufzulösen. Auch die Beschreibung von „Migration als Waffe“ ist plötzlich keine rechtsradikale Verschwörungstheorie mehr. Und wie sollen Redakteure den Spagat vollbringen, den Flüchtlingen vom Mittelmehr die Freiheit von Einflussnahme zu attestieren und gleichzeitig die Flüchtlinge aus den Flugzeugen als instrumentalisiert und „herangekarrt“ darzustellen? Ein Kommentar bei RT formuliert es so:

„Vor vier Tagen erst landete die deutsche Sea-Eye 4 in Sizilien und brachte dort mehr als 800 Flüchtlinge an Land. Dort ist es eine humanitäre Aktion. An der polnisch-weißrussischen Grenze aber wird begrüßt, wenn Polen die Flüchtlinge fernhält. Lukaschenko spitzt den Widerspruch nur zu.“

Die Hintergründe der Situation an der polnisch-belarussischen Grenze sind wie gesagt noch sehr im Vagen und schwer zu beurteilen. Trifft es mutmaßlich zu, dass sich Russland und Weißrussland taktisch („auf dem Rücken der Flüchtlinge“) verhalten? Dann wäre das zu verurteilen – auch wenn diese Taktik ohne die Kriege des Westens gar nicht möglich wäre.

Unterdessen dankte das Hilfswerk der Vereinten Nationen laut DPA den Behörden in Belarus für den Zugang zu den Migranten. „Wir sind bereit, dabei zu helfen, Lösungen zu finden“, hieß es in der Mitteilung. Der belarussische Grenzschutz wiederum begrüßte demnach, dass sich die Vertreter der Hilfsorganisationen erstmals selbst ein Bild gemacht hätten. Das sei eine wichtige Voraussetzung dafür, auf Grundlage internationaler Erfahrung eine Lösung im Sinne der Menschen zu finden.

Wenn die aktuellen westlichen Vorwürfe an Russland und Weißrussland zutreffen: Wie wäre dieser Akt einzuordnen, welche Reaktion würde er rechtfertigen? Die viel zu schnellen und sehr eindeutigen Antworten in zahlreichen deutschen Medien sind teils beunruhigend.

Redakteure fühlen sich ertappt

Exemplarisch sollen hier einige Medien-Beiträge betrachtet werden. Trotz der zahlreichen Unwägbarkeiten bei der Einordnung der Situation an der polnischen Grenze geht etwa Bettina Klein im Deutschlandfunk bereits hart mit der russischen Regierung ins Gericht:

„Die Reaktion der russischen Führung auf das Drama an der belarussisch-polnischen Grenze folgt dem perfiden Drehbuch von Diktaturen und Unrechtsregimen in der ganzen Welt: Beschuldige die andere Seite genau jener Taten, die du selbst begehst. Tue es ganz öffentlich und völlig ungeniert – je dreister, umso wirksamer.“

Der „belarussische Machthaber“ habe „direkt oder indirekt unterstützt durch die russische Führung bewusst ein Problem an der Grenze zu Polen geschaffen, dessen er nun die Europäische Union bezichtigt“. Das Ganze gipfele „in der Behauptung, es sei angeblich die EU, die hier hybride Angriffe betreibe“. Der Zynismus sei „kaum zu überbieten“. Zutreffend spricht der Deutschlandfunk die Probleme und Widersprüche der Asylpolitik der EU an, doch statt Lösungen aufzuzeigen, beklagt der Sender die Bloßstellung durch den „Gegner“. Skandalisiert wird darum nicht zuerst das Handeln des Westens, das die Menschen in die Flucht treibt: Skandalisiert wird vor allem die „Dreistigkeit“, dass nun konkurrierende Staaten auf die Diskrepanz zwischen formulierten „Werten“ und der kriegerischen Realität der westlichen Politik hinweisen, als fühle man sich ertappt:

„Die Asyl- und Migrationspolitik ist ein nach wie vor ungelöstes Problem in der Europäischen Union. Nichts gefällt ihren Gegnern besser, als die EU vorzuführen und ihr vermeintliches oder tatsächliches Versagen gemessen an ihren eigenen Werten anzuprangern.“

„Eine Attacke auf die EU, auf Deutschland, auf uns“

„Bild Live“ berichtet von der polnischen Grenze und sieht „uns“ unter Attacke:

„Was hier gerade passiert ist eine Attacke auf die EU, auf Deutschland, auf uns. Putin und Belarus-Diktator Lukaschenko schicken tausende Flüchtlinge zu uns. Es ist ein organisiertes, ein geplantes, ein gewolltes Flüchtlingsdrama. Das sind nun also die Bilder, die die Russen genauso sehen wollen, weil sie uns in eine riesige moralische Zwickmühle bringen.”

Auch die „Zeit“ vom Donnerstag geht im Leitartikel fast gar nicht auf den Ursprung der Flüchtlingsbewegungen ein. Stattdessen wird gefordert, in dem „hybriden Krieg“ des „Erpressers Lukaschenko“ gegen „Polen und damit gegen Europa“ „an Polens Seite“ zu stehen. Das ist wohl zunächst in Form von „physischen Barrieren“ gedacht, aber der Vorwurf der kriegerischen Akte beinhaltet oft auch die „Rechtfertigung“ für eine weit aggressivere Antwort.

Als Beispiele für Medien aus der zweiten Reihe fordert der „Reutlinger Generalanzeiger“ massive Sanktionen, „die richtig wehtun“, auch der „Südkurier“ möchte die verschärfte Bestrafung von Russland und Weißrussland:

„Doch anstatt die Sanktionen gegen Minsk und Moskau zu verschärfen und den Helfershelfer am Bosporus mit in die Mangel zu nehmen, kritisieren manche EU-Staaten lieber die Regierung in Warschau, weil sie in ihrer Not zu martialischen Mitteln greift.“

Politiker wollen Reaktionen mit „aller Härte“

Dieser Forderung nach einer verschärften Tonlage sind bereits Teile der deutschen Politik gefolgt. So warf Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) Lukaschenko laut DPA im Bundestag ein skrupelloses Spiel mit Menschenleben vor und drohte erneut mit Sanktionen – nicht nur gegen Belarus, sondern auch gegen beteiligte Transitländer und Fluggesellschaften:

„Niemand sollte sich ungestraft an Lukaschenkos menschenverachtenden Aktivitäten beteiligen dürfen.“

Auch SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz hat Konsequenzen für Lukaschenko angekündigt. Scholz sagte am Donnerstag, man werde mit „aller Härte“ gegen die Lukaschenko-Regierung vorgehen und arbeite intensiv an einer gemeinsamen EU-Antwort. Und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte am Donnerstag bei einem Treffen mit der belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja in Berlin, die Menschen würden in inakzeptabler Weise von der politischen Führung in Minsk instrumentalisiert, um politischen Druck auf die Europäische Union auszuüben. Laut „Süddeutscher Zeitung“ formulierte eine Gruppe „westlicher Sicherheitsratsmitglieder“ bei der UN in einer Erklärung, dass das belarussische Vorgehen „inakzeptabel“ sei.

Wer führt hier einen „hybriden“ Angriff aus?

Die für Deutschland langfristig überlebenswichtige Verständigung mit Russland ist auch als Folge der hier zitierten Äußerungen auf einem neuen Tiefpunkt angelangt. Könnte man auch diese seit Jahren andauernde Torpedierung der Beziehungen zwischen Russland und der EU als einen „hybriden“ Angriff werten?

Titelbild: Volha Kratkouskaya / Shutterstock


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