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Titel: Drostens Notizbuch

Datum: 8. November 2021 um 15:28 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik
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Die tägliche Zahl der gemeldeten Corona-Neuinfektionen beträgt in Deutschland nun wieder einige Zehntausend. Das klingt viel, aber ist es wirklich dramatisch? Wenn man bedenkt, dass Rundfunksender, Fernsehen und Printmedien diese Zahlen Tag für Tag und Stunde für Stunde prominent vermelden, angereichert durch die Bemerkung, dass es sich dabei um Rekordwerte handelt, die schon über denen des Lockdown-Frühjahres liegen, und ergänzt um den drohenden Hinweis, dass der Winter ja erst noch bevorsteht, könnte man meinen, die Zahlen symbolisierten eine kommende, fast nicht aufzuhaltende Katastrophe. Aber für sich genommen sind diese Zahlen gar kein Problem und sie sind zunächst auch kein Hinweis darauf, dass sich die Bevölkerung wieder mal falsch verhalten habe – nicht mal als Symbol für Politikversagen taugen sie. Der Skandal liegt ganz woanders. Von Jörg Phil Friedrich.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Am 3. September stellte der deutschlandweit bekannteste Virologe, der politisch hoch verehrte und medial anerkannteste Corona-Experte Christian Drosten, in seinem NDR-CoronaUpdate-Podcast fest: „Mein Ziel als Virologe Drosten, wie ich jetzt gerne immun werden will, ist: Ich will eine Impfimmunität haben und darauf aufsattelnd will ich dann aber durchaus irgendwann meine erste allgemeine Infektion und die zweite und die dritte haben.“ Die richtige Immunisierung, die langfristig wirkt, geschieht durch eine Kombination aus Impfung und Ansteckung. Durch „immer wiederkehrende Kontakte mit dem Virus [wird] die Bevölkerungsimmunität auch immer belastbarer, weil dann sind es hier wirklich Infektionen. Und da kriege ich dann Schleimhautimmunität, die ortsständig ist“. Das bedeutet: Ohne Impfungen wäre die Situation kurzfristig weit schwieriger, als sie jetzt ist, aber ohne zwei bis drei Infektionen gibt es keine nachhaltige Immunität, weder für den Einzelnen noch für die Bevölkerung.

Man kann Drosten nicht vorwerfen, dass er in seinem Podcast nicht frühzeitig auf gewisse Zusammenhänge und Fakten hingewiesen hat, die später von vielen als plötzliche Überraschungen angesehen wurden. Das galt schon im Frühjahr, als er erläuterte, dass der Schutz der Impfungen nicht unbedingt bedeute, dass man sich nicht infizieren und nicht infektiös sein kann, sondern vor allem, dass man vor schwerem Krankheitsverlauf weitgehend geschützt ist. Ob seine politischen Folgerungen und Forderungen immer plausibel und gesamtgesellschaftlich hilfreich sind, kann hier dahingestellt bleiben.

Im gleichen Podcast vom 3. September sagt Drosten, dass nach einer „groß angelegte[n] Gutenberg-Studie in Mainz“ angenommen werden kann, dass wir in Deutschland „eine Dunkelziffer von 1,8 haben“. Damit ergab sich zu dem Zeitpunkt, so rechnete Drosten in seinem Notizbuch nach, ein kumulative Infizierten-Zahl von „7,2 Millionen von unseren 83 Millionen Deutschen“.

Klappen wir einmal Drostens Notizbuch an der Stelle gedanklich auf und rechnen ein bisschen weiter. Drosten will sich im Laufe der Zeit 2-3 Mal mit dem Virus infizieren. Sagen wir, das passiert ihm und allen anderen der 83 Millionen Deutschen alle 5 Jahre. Wie viele Menschen infizieren sich dann täglich? 83.000.000 / (5 * 365), das macht am Tag im Schnitt 45.479. Zum Vergleich, am letzten Freitag gab das RKI die „Rekordzahl“ der Neuinfektionen mit 37.120 an, multiplizieren wir das mit der Dunkelziffer, liegen wir bei 66.816. Das liegt rund 50% über dem Durchschnittswert, der nötig wäre, damit die ganze Bevölkerung sich in 5 Jahren einmal infiziert. Aber es ist November, im Sommer gab es Tage mit täglichen Neuinfektionen im Bereich von einigen 100 oder wenigen 1.000, insofern dürften in den nächsten Monaten umgekehrt durchschnittliche Zahlen von bis zu 90.000 tatsächliche Infektionen, also gemeldete 50.000, nicht überraschen.

Man kann an den Details dieser überschlägigen Rechnung natürlich Kritik üben, kann die Zahl der erwartbaren Neuinfektionen für die nächsten Monate noch weit höher schätzen, weil die Infektionen im Verlauf der nächsten Jahre insgesamt rückläufig sein wird, man kann aber auch die Zahl niedriger angeben, wenn man annimmt, dass man sich nur alle 10 Jahre infiziert. Die Rechnung macht aber deutlich: Die aktuellen Zahlen sind zunächst mal nicht dramatisch, und vor allem, sie sind – Impfungen hin oder her – erwartbar gewesen.

Und sicherlich wäre es das Falscheste, nun einfach nach Maßnahmen zur Infektionsvermeidung zu rufen, denn – siehe oben – Infektionen sind notwendig, damit die Immunität, auch gegen mögliche weitere Varianten, steigt.

Natürlich hat die Sache einen Haken, denn die Zahlen sind zwar erwartbar gewesen, aber wieder hat die Politik sich und die Gesellschaft nicht rechtzeitig darauf vorbereitet. Die Pflegesituation in den Altenheimen und die Ausstattung der Krankenhäuser mit Personal und Technik wurden nicht verbessert, obwohl klar war, was uns erwarten würde. Statt an diesen Themen zu arbeiten, wurde ein absurder Wahlkampf inszeniert, in dem die Regierungsparteien und ihr Spitzenpersonal vor allem mit sich und ihren Machtspielen befasst waren. Somit treffen die wachsenden Infektionszahlen, die natürlich, wenn auch abgeschwächt, mit wachsenden Hospitalisierungszahlen und Belegungszahlen in Intensivstationen einhergehen, nun wieder auf ein unvorbereitetes und sogar durch die vorhergehenden Monate geschwächtes System.

Vermutlich gibt es in Drostens Notizbuch auch eine überschlägige Rechnung dazu, wie sich bei den ganz normal zu erwartenden Infektionszahlen die Hospitalisierungszahlen entwickeln. Das alles wird nicht überraschend sein und man kann annehmen, dass er den Politikern, so sie zugehört haben, auch aus seinen Berechnungen vorgelesen hat.

Statt aber Altenheime und Krankenhäuser auf diese Situation vorzubereiten, hat die Politik einzig auf ihre Impfkampagne gesetzt, dies aber auch in jeder Hinsicht dilettantisch. Mal wusste niemand, wie viele Menschen wirklich geimpft sind, mal konzipierte man Maßnahmen, die Leute zum Impfen bewegen sollten, die aber eher abgeschreckt haben, weil man sich nicht ernst genommen fühlte.

Nun schießen sich die Politik und die ihr nahestehenden Medien wieder auf die bösen Bürger ein, seien es die Impfskeptiker und -verweigerer, die Masken-Muffel, die Restaurantbesitzer, welche nicht genug auf Regeleinhaltung achten, oder überhaupt alle, die nicht mehr auf Abstand zueinander bleiben wollen. Wieder wird mit Bürgerschelte vom Politikversagen abgelenkt und man hofft, das Panikniveau hoch halten zu können, indem Inzidenzzahlen dramatisiert werden. Die Gräben im Land werden derweil immer tiefer.

Titelbild: Pixels Hunter/shutterstock.com


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