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Titel: Das Ende des Engels der Geschichte
Datum: 23. Oktober 2021 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Kultur und Kulturpolitik
Verantwortlich: Redaktion
Vor einem Monat wurde Italien von einer Art Kunstskandal erschüttert, dessen Empörungswellen auch das deutsche Feuilleton erreichten. Während die Sache in den italienischen Medien offenbar noch nicht ausgestanden ist, hat sich hierzulande die Aufregung wieder gelegt. Genau der richtige Moment, um mit einem gewissen Abstand zu schauen, was eigentlich passiert ist, warum es zu einer solchen Aufregung kam und vor allem – was es über die Möglichkeiten von Kunst in der Gegenwart aussagt. Von Jörg Phil Friedrich.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Das Epizentrum des Bebens ist ein kleiner Ort in Süditalien. Sapri hat gut 6.500 Einwohner, ist aber dennoch in Italien nicht unbekannt. 1857 scheiterte dort ein Aufstand, und dem Aufstand sowie seinem Scheitern hat Luigi Mercantini ein Jahr später ein Gedicht gewidmet: „Die Ährenleserin von Sapri“. An dieses Gedicht wiederum erinnert nun eine Skulptur des Bildhauers Emanuele Stifano – und diese Skulptur ist der Grund für die Aufregung, sowohl in Italien als auch hierzulande.
Es ist bezeichnend, dass die deutschsprachigen Feuilletonistinnen, die sich des Themas annahmen, das Gedicht, das von der Skulptur interpretiert wird, offenbar, wenn überhaupt, dann nur oberflächlich gelesen haben. Dabei gibt es sogar eine deutsche Übersetzung, die man per Online-Recherche in dem Bücherdienst des Recherche-Anbieters relativ leicht aufspüren kann, und wenn man wiederum dem Übersetzungsdienst des gleichen Anbieters traut, ist diese Übersetzung ziemlich originalgetreu.
Ein genauer Blick aufs Werk
Es ist für die Kritik einer Skulptur sicherlich nicht unwichtig, das Werk genau anzusehen, auf das sich der Bildhauer bezog. Das lyrische Ich ist jene Ährensammlerin, die bei ihrer Arbeit am Morgen ein Schiff ankommen sieht, 300 Kämpfer, „jung und stark“, die die Erde küssen, als sie an Land kommen. Die Frau sieht ihnen allen ins Gesicht, sie haben Tränen in den Augen und lächeln. Sie sind gekommen, um ihr Land zu befreien. Angeführt werden sie von einem jungen, schönen Kapitän „mit blauen Augen und goldenem Haar“. Kühn nimmt sie seine Hand und spricht ihn an, wohin er, der „schöne Kapitän“, ginge, und er antwortet, „Schwester, ich gehe, für meine Heimat zu sterben.“ Daraufhin folgt sie dem Zug, beobachtet die Kämpfe und auch das Sterben, bis zum Ende folgt ihr Blick dem „goldenen Haar und den blauen Augen“.
Es ist also keineswegs so, wie Francesca Polistina in der „Süddeutschen Zeitung“ Glauben machen will, dass die Ährensammlerin nur „mit gebührendem Abstand“ dem Trupp folgt. Auch Karen Krüger beschreibt in der FAZ in knappen Worten die Ährensammlerin als eine unbeteiligte zufällige Beobachterin des Geschehens.
Das Gedicht erzählt von einer tragischen Liebe, bei der national-historische Ereignisse sich mit der kurzen Begegnung zweier junger Menschen verknüpfen, die sich nur durch den Lauf der Geschichte überhaupt begegnen und schon innerhalb eines Tages durch eben diesen Lauf wieder auseinandergerissen werden. Es ist keineswegs einfach eine Beschreibung eines Aufstandes, wie ihn womöglich Theodor Fontane gedichtet hätte. Es ist Liebesgedicht und Helden-Epos in einem. Diesem Gedicht und seiner lyrischen Hauptgestalt ist die Statue gewidmet, die nun so heftig kritisiert wird, weil sie nicht so aussieht, wie man sich eine Ährenleserin des 19. Jahrhunderts vorzustellen hat, und weil sie überhaupt keine politische Aussage hat.
Die Kritiken erinnern an den Umgang mit Kunst zu Zeiten des sozialistischen Realismus. Da soll Kunst eine Funktion, eine Botschaft haben, und zwar natürlich die „richtige“, die progressive. Sie soll den richtigen Standpunkt in der aktuellen politischen Debatte haben – und sie soll eben realistisch sein. Realistisch, das heißt dann allerdings, wenn man genau hinsieht, sie soll irgendwie historistisch eine ferne Vergangenheit zeigen, nur nichts mit der Gegenwart zu tun haben. Sie soll an irgendwelche heroischen Vorbilder erinnern, wie wir sie uns in einer Idealisierung vorzustellen haben, unterdrückte, darbende Frauen in diesem Falle, die den Revolutionär begrüßen und seinem Tod eventuell nachweinen. Auf keinen Fall sollte so ein Werk den Eindruck erwecken, die Geschichte, die da erzählt wurde, könnte etwas mit uns zu tun haben.
Schaut man sich das Werk aber mit dem Wissen um den Inhalt des Gedichts an, dann erkennt man in der Statue genau die Spannung zwischen geschichtlicher Aktion und individueller Liebe. Bedenkt man zudem, dass das Gedicht in Italien allgegenwärtig ist und in der Schule gelehrt wird, wird sichtbar, dass der Bildhauer es geschafft hat, eine Interpretation des damaligen Geschehens für die Gegenwart anzubieten. Die stolze junge Frau schreitet vom Ufer aus ins Landesinnere, sie wendet sich zum Ufer um und auch ihre linke Hand ist so geöffnet, als ob sie jemanden fassen und mit sich ziehen will. In welchem Moment der Geschichte erfasst das Werk sein Modell? Es gibt ein Rätsel auf, denn genau besehen lässt sich die Haltung nur so deuten, dass die junge Frau den Kämpfern nicht etwa nachgeht, sondern vorangeht, sie führt, dass sie den schönen Kapitän mit den blauen Augen und dem goldenen Haar nicht „mit gebührendem Abstand folgt“, sondern ihn, der unsichtbar bleibt, eher zieht.
Erinnerung an Benjamins „Engel der Geschichte“
Der deutschsprachige Betrachter wird an Walter Benjamins „Engel der Geschichte“ erinnert:
„Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind aufgespannt. … Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, …. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Der Sturm vom Paradies verfängt sich im Kleid der Ährensammlerin. Und deshalb noch ein Satz zum viel kritisierten Kleid, das vom Wind hauteng an den Leib der Frau gedrückt wird. Es ist vor allem ein Grund zur Bewunderung für die Meisterschaft des Bildhauers. Man bedenke: es handelt sich um eine Skulptur aus undurchsichtiger Bronze. Dennoch hat man das Gefühl, man sähe ein durchscheinendes Material, man sähe durch den leichten Stoff die Formen und Rundungen der Frau. Vermutlich ist dies zusätzlich durch Farbunterschiede gelungen, die den Eindruck von Schatten erzeugen – in jedem Falle meisterhaft.
Konsequenzen einer empörungswilligen Kunstpolitik
Damit zurück von der großen Kunst zur banalen Kunst-Politik. Zu fragen ist ja, was der Umgang der Politik mit solchen Werken für Folgen für die Kunst hat. Es ist nicht das erste Mal, dass eine Skulptur zu Protesten vonseiten angeblicher Feministinnen und Frauenrechtler führt. Erst vor wenigen Monaten hagelte es für eine Skulptur vor dem Freiburger Lorettobad Sexismusvorwürfe. Dort hat der Bildhauer inzwischen angeboten, die Skulptur wieder abzubauen, und so wird es wohl auch kommen.
Für zukünftige Projekte gibt es zwei naheliegende Konsequenzen. Zum einen werden öffentliche Auftraggeber, die den Zorn der Meinungswächter fürchten, bereits im Vorfeld mit potentiellen Künstlern darüber reden, wie das Werk aussehen soll, und wie es auf keinen Fall aussehen sollte. Und Künstler werden sicherlich schon im vorauseilenden Gehorsam darauf achten, dass niemand auf die Idee kommen kann, sie könnten Anstößiges produzieren. Die Mechanismen des öffentlich finanzierten Kunstmarkts dürften da ohne viele Worte wirken – wer Aufträge braucht, kann auf Dauer nicht riskieren, dass die zahlenden Kunden den Skandal fürchten, zumal, wenn diese Kunden Politiker sind, die auf keinen Fall als frauenfeindlich, rassistisch oder sonst irgendwie reaktionär gelten wollen. Was auf der Strecke bleibt, ist die Kunst und ihre Freiheit.
Titelbild: Alessandro Vaiano / Shutterstock
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