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Titel: Systemwettbewerb – die Ampel fällt in den ideologischen Grabenkampf zurück
Datum: 18. Oktober 2021 um 11:58 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Ideologiekritik, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
Verantwortlich: Albrecht Müller
Auf der letzten Seite des am 15. Oktober veröffentlichten Papiers mit dem Namen „Ergebnis der Sondierungen zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP“ kommt ein Wort vor, das viel sagt über den geistigen Zustand und die ideologische Ausrichtung der kommenden Ampel-Koalition. Da ist vom „Systemwettbewerb“ die Rede, vom „Systemwettbewerb mit autoritären Staaten und Diktaturen“. Einen Satz vorher ist die Rede davon, dass die Koalitionäre unser Land „in enger Verbindung mit denjenigen Staaten sehen, die unsere demokratischen Werte teilen“. Eigentlich hätte man denken können, dass die Zeit der Systemkonkurrenz hinter uns liegt und dass wir versuchen, auch mit Völkern und Staaten zu kooperieren, die ein bisschen anders ausgerichtet sind als wir selbst. Albrecht Müller.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Da war noch 1989/1990 und auch noch einige Zeit später die Rede davon, wir wollten „Systeme gemeinsamer Sicherheit“ aufbauen. Jetzt sollen wir in Systemwettbewerb treten mit …? Mit wem? Mit den Chinesen, mit den Russen? Mit wem noch? Mit den Polen und den Ungarn, die unsere Werte offensichtlich nicht teilen? Mit Saudi-Arabien, dessen Repräsentanten und Regierung unsere Werte doch offensichtlich nicht teilt? Mit Israel, dessen jetzige Regierung und dessen aggressive Siedler nur schwer in unserer „Wertegemeinschaft“ untergebracht werden können?
Einigermaßen wache politische Menschen müssten doch eigentlich auch schon mitbekommen haben, dass wichtige Staaten und ihre Regierungen, die von den Ampelkoalitionären vermutlich als „Staaten mit gleichen demokratischen Werten“ betrachtet werden, diese ganz und gar nicht teilen. Teilen die USA, die intern und als Staat im Umgang mit anderen Völkern dem alttestamentarischen „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ anhängen, unsere Werte? Teilen wir die Werte einer Nation, die an vielen Orten der Welt Kriege geführt hat und führt? Teilen wir die Werte von Regierungen, die mit militärischer Gewalt bei anderen Völkern und Nationen einen sogenannten Regime Change durchsetzen wollen und dabei Hunderttausende, ja Millionen von Opfern und Toten hinnehmen? Teilen wir die Werte des britischen Premiers und seiner reaktionären Partei, die mutwillig die Einheit der Europäischen Union aufs Spiel setzen?
Ein solches kritisches Denken, ein solcher differenzierter Blick auf die Welt geht den Repräsentanten der drei Parteien, die jetzt über unsere künftige Regierung und ihr Programm beraten, offenbar ab. Sie retten sich in die Welt des Kalten Krieges, als im Westen alles gut und im Osten alles schlecht war. So einfältig wäre es nicht zu erwarten gewesen. Oder vielleicht doch?
Das beschriebene Denken – die Vorstellung, hier auf unserer Seite sei ein gutes demokratisches System und damit gute Politik, und dort bei anderen Völkern und Staaten sei ein schlechtes, nicht demokratisches System – erleichtert das Leben dieser Koalition. Sie muss sich durch gute und demokratische Politik nicht mehr rechtfertigen. Dass dies so sei, ist durch den Begriff Systemwettbewerb und die damit verbundene Vorstellung von einer guten Wertegemeinschaft schon festgestellt, jedenfalls behauptet.
Hier kann man wieder einmal das Wirken des sogenannten Wippschaukeleffektes als Methode der Manipulation beobachten: Wir kritisieren die Verhältnisse bei anderen Völkern und erhöhen uns parallel dazu. Und dies unabhängig von den wahren Verhältnissen bei uns selbst: So sehen wir beispielsweise nicht mehr, in welchem ziemlich miserablen Zustand und gar nicht demokratischen Zustand unsere Medien sind: hochkonzentriert bei den Printmedien, wesentlich auf Unterhaltung und auf Krimis ausgerichtet selbst bei den öffentlich-rechtlichen Medien. Man muss sich das Programm des Ersten Deutschen Fernsehens von gestern Abend anschauen: 20:00 Uhr Tagesschau, 20:15 Uhr Tatort, 21:45 Uhr bis 23:15 Uhr noch ein Krimi. – Oder man muss sich vergegenwärtigen, dass Bill Gates zu Beginn der Corona-Diskussion in den Tagesthemen über 9 Minuten lang interviewt worden ist und zusätzlich noch mal in voller Länge bei Sandra Maischberger. Das sind nur wenige Anhaltspunkte dafür, dass es um den demokratischen Charakter unserer Hauptmedien schlecht bestellt ist.
Wenn man mit anderen eine Wertegemeinschaft bildet, dann heißt das ja auch, dass man für gute Werte eintritt. Und dann, wenn das gut genug eingetrichtert ist, dann kann man es sich auch leisten, Dinge zu vertreten und zu fordern, die ganz und gar nicht werteorientiert sind. Im Sondierungspapier der Ampel findet sich einiges aus dieser Kategorie:
Zum Beispiel will man die Sicherung der Renten zu einem Teil auf Spekulation auf den Aktienmärkten abstützen und die Deutsche Rentenversicherung dazu veranlassen, dieses Spiel mitzumachen. Dass Spekulation und Spekulationsgewinne gesamtgesellschaftlich betrachtet etwas Gutes sein sollen und damit in eine Wertegemeinschaft gehören sollen, leuchtet vielleicht den Koalitionären ein. Der Mehrheit unseres Volkes sicher nicht.
Zum Beispiel will die neue Koalition Fachkräfte, „qualifizierte ausländische Pflegekräfte“ und andere Fachkräfte, gewinnen – auf Deutsch würde das heißen: abwerben. Soll das werteorientiert sein? Wer ein bisschen davon weiß, wie sich diese Art von Abwerbepraxis der reichen Völker bei den armen Völkern auswirkt – übrigens nicht nur in Asien und Afrika, sondern auch in Europa – weiß auch, dass das mit Werteorientierung nichts zu tun hat. Es ist ein übles Spiel.
Zum Beispiel setzt die neue Koalition erkennbar auf die charakter- und werte-bildende Macht des Militärs, auf die NATO und auf die Zusammenarbeit der europäischen Armeen. Deutsche militärische Auslandseinsätze werden nicht infrage gestellt. Nach dem Afghanistandesaster geht es der neuen Koalition nur darum, dass die Erkenntnisse daraus in die „Gestaltung zukünftiger deutscher Auslandseinsätze einfließen“.
Ja, dann ist auch noch von abrüstungspolitischer Offensive die Rede. Aber dass dies vermutlich nichts wird, weil der „Systemwettbewerb“ ganz anderes Denken und Handeln fördert und erzwingt, kann man anderen Passagen entnehmen. Im Papier der künftigen Koalitionspartner wird die Story erzählt, die liberalen Demokratien Europas seien der „Desinformation, Fake-News-Kampagnen, Propaganda sowie Manipulation aus dem In- und Ausland“ ausgesetzt. Die Ampel will Initiativen wie die „Allianz der Demokratien“ unterstützen. Auch das passt zu der neuen geistigen Aufrüstung, die hinter dem Begriff Systemwettbewerb steckt.
Titelbild: Olgastocker / aphotostory / Shutterstock
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