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Titel: Der Krieg, der niemals endet
Datum: 24. September 2021 um 11:30 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Nach 20 Jahren „War on Terror“ sind die USA aus Afghanistan abgezogen. Die Taliban haben, wie zu erwarten war, die Macht übernommen. Der Krieg „endete“, wie er begann: Mit einem Drohnenschlag, bei dem vermeintlich Terroristen liquidiert wurden, bei dem aber die USA am Ende doch keinen Schimmer hatten, wen sie hier gerade töten. Beim Drohnenangriff am 29. August wurden nicht zwei „hochrangige“ ISIS-Funktionäre getötet, sondern zehn Zivilisten, sieben Kinder darunter. Mit der Verkündung seiner „Über-den-Horizont“-Strategie hat US-Präsident Biden nun klargemacht, dass das Drohnenmorden auch über den Truppenabzug hinaus in alle Ewigkeit weitergehen wird – Afghanistan: der Krieg, der niemals endet. Von Jakob Reimann.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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29. August, Kabul, Afghanistan, 16.50 Uhr Ortszeit. Inmitten der Innenstadt der Viereinhalbmillionen-Metropole feuert die Biden-Regierung mittels Drohne eine Hellfire-Rakete auf ein Wohnviertel nahe des Kabul Airport ab. Ein Sprecher des US Centcom behauptet, „mehrere Selbstmordattentäter“ von ISIS-K – des Afghanistan-Ablegers des sogenannten Islamischen Staats (wobei das K für Khorasan-Provinz steht) – wurden liquidiert. Zwei „hochrangige“ ISIS-Funktionäre seien unter den Getöteten. Der Pentagon-Sprecher behauptet weiter, durch den Drohnenschlag sei „eine unmittelbare Bedrohung des Flughafens durch ISIS-K gestoppt“ worden. Über mehrere Stunden wurde das Fahrzeug mittels Drohne ausgespäht, es ist im Laufe des Tages mehrere Positionen in Kabul angefahren, der Unterschlupf einer ISIS-Zelle darunter, und hat dabei verschiedene Personen ein- und ausgeladen, so die Rekonstruktion des Pentagon. Mehrere Männer wurden dabei beobachtet, wie sie Sprengstoff in den Wagen luden. Als dieser im Hinterhof einer Nachbarschaft parkte, feuerte die Reaper-Drohne ihre tödliche Ladung ab. Unmittelbar nach dem Drohnenschlag habe es „erhebliche und starke Explosionen gegeben, die auf die Zerstörung des Fahrzeugs zurückzuführen sind“ und auf „eine große Menge an explosivem Material im Inneren“ des Wagens hinweisen. Schnell kamen erhebliche Zweifel an der Geschichte auf.
Blutrache
Dieser – vorerst – letzte Drohnenschlag der USA in Afghanistan fällt zeitlich mit dem finalen Abzug der westlichen Truppen aus dem Land zusammen, der nach 20 Jahren „War on Terror“ den Krieg am Hindukusch vermeintlich beenden sollte; auch Präsident Biden rühmte sich schließlich in seiner Rede vor der UN-Generalversammlung am Dienstag:
„Ich stehe heute hier – und zum ersten Mal seit 20 Jahren sind die Vereinigten Staaten nicht im Krieg.“
Der US-Drohnenangriff in Kabul am 29. August war ein Akt der Blutrache – Vergeltung für den verheerenden Anschlag am Kabul Airport drei Tage zuvor, den ISIS-K für sich beanspruchte. Bei jenem abscheulichen Blutbad am Flughafen am 26. August sprengte sich ein Selbstmordattentäter selbst in die Luft – inmitten tausender Menschen, die verzweifelt ins Flughafenareal gelangen wollten, um nach der Machtübernahme der Taliban aus dem Land evakuiert zu werden. Mindestens 169 afghanische Zivilisten wurden hierbei getötet sowie 13 US-Soldaten – die ersten in Afghanistan getöteten US-Militärs seit Februar 2020 und der bezüglich US-Personal opferreichste Anschlag seit über einer Dekade.
Vor-Ort-Untersuchungen ergeben auch hier einen etwas anderen Hergang der Ereignisse: Nach investigativen Recherchen erheben unter anderem der BBC-Journalist Secunder Kermani sowie der australische Fotojournalist Andrew Quilty den schweren Vorwurf, viele der 182 Todesopfer seien nicht durch den Selbstmordattentäter gestorben – ohnehin eine präzedenzlos hohe Opferzahl für einen einzigen Sprengstoffgürtel – sondern durch nach der Detonation in Panik um sich schießende US-Soldaten. Neben diversen Zeugenaussagen stützen klare Indizien diese These, etwa von den beiden Reportern berichtete, steil von oben nach unten verlaufende Einschusskanäle von Gewehrsalven in mehreren Getöteten. Diese deuten klar darauf hin, dass die Schüsse nicht vom Boden aus von ISIS-Kämpfern abgefeuert wurden – was die US-Regierung behauptet – sondern von US-Soldaten auf Brücken und Wachtürmen. Hierzu bedarf es unbedingt einer umfassenden Aufklärung seitens neutraler Stellen.
Der mörderische Anschlag von ISIS-K diente einzig einem Ziel: noch einmal den Trieb zur Rache provozieren, noch ein letztes Massaker Washingtons, das propagandistisch ausgeschlachtet werden kann. Und Biden – der US-Präsident kann nun mal nicht aus seiner Haut – tappte bereitwillig in die Falle der Dschihadisten. „Wir werden Jagd auf euch machen. Und ihr werdet dafür bezahlen“, so Biden martialisch an die Adresse von ISIS-K.
Der letzte Akt, blutgetränkt
Der eingangs geschilderte Drohnenschlag, dieser vorerst letzte Akt Washingtons auf der Kabuler Bühne, steht so bitter und exemplarisch für 20 Jahre Afghanistan, für 20 Jahre US-amerikanisches Verbrechertum: Lügen, Kriegsverbrechen, Leichenberge. In einem exzellenten Stück investigativer Recherche konnte die New York Times akribisch ermitteln, was am 29. August tatsächlich geschah. Jeder zentrale Aspekt des Pentagon-Märchens sollte vollständig in sich zusammenfallen:
Der weiße 1996er Corolla, der über Stunden durch die Kabuler Innenstadt fuhr, vermeintlich, um final am Flughafen ein Attentat auf US-Soldaten zu begehen, gehörte einem Mann namens Zemari Ahmadi. Der 43-Jährige hatte nichts mit ISIS oder irgendeiner anderen bewaffneten Gruppe zu tun, sondern ist seit 2006 als Elektroingenieur für die US-amerikanische Hilfsorganisation Nutrition and Education International (NEI) tätig. Als Ahmadi in Kabul hin und her fuhr, koordinierte er sich nicht etwa mit ISIS-Terrorzellen, sondern fuhr seine Kollegen zu den diversen Hotspots der Stadt und verteilte Essen an hungerleidende Geflüchtete. Das vermeintliche ISIS-Safehouse war das Büro der Hilfsorganisation NEI. Der „Sprengstoff“, der verladen wurde, waren Wasserkanister, die Ahmadi mitnahm, da nach dem Sturz der Regierung die Wasserlieferungen in seinem Viertel wegbrachen.
Auch die Sekundärdetonation, die das Pentagon als Beweis für ihre Sprengstoffgeschichte anführte, kann es unter anderem basierend auf forensischer Analyse des Tatorts nie gegeben haben. Und die „hochrangigen“ getöteten ISIS-Kämpfer? Neben Ahmadi sind neun Mitglieder seiner erweiterten Familie durch die Drohne getötet worden: drei seiner Kinder, sein Bruder, dessen Tochter und zwei Söhne sowie zwei dreijährige Mädchen. Zehn Zivilisten, sieben Kinder darunter, wurden an diesem Abend von der US-Regierung getötet, die jüngste unter ihnen war Hayat – der Name der Zweijährigen ist das arabische Wort für „Leben“.
Die in Pasadena, Kalifornien, ansässige Hilfsorganisation NEI, für die Ahmadi arbeitete, hat sich der Bekämpfung von Unterernährung in Hochrisikogebieten in Afghanistan verschrieben, allen voran von Kindern und Frauen. Ahmadi war als Ingenieur an der Errichtung von elf Anlagen zur Sojaverarbeitung beteiligt, um damit insbesondere den so verheerenden Proteinmangel der Hungerleidenden zu bekämpfen. Die US-Regierung habe „seinen ehrenwerten Namen entehrt“, erklärt NEI-Chef Dr. Steve Kwon gegenüber dem britischen Independent. Kwon beschreibt Ahmadi als „talentierten, engagierten und langjährigen Mitarbeiter“, der „bei seinen Kollegen hoch angesehen und mitfühlend gegenüber den Armen und Bedürftigen“ war. „Sie waren alle unschuldig“, sagte Emal, Zemari Ahmadis Bruder, der den Anschlag überlebte, über seine zehn getöteten Familienmitglieder. „Ihr sagt, er gehörte zu ISIS, doch er hat für die Amerikaner gearbeitet.“ Manchmal, so könnte man meinen, ist der Unterschied nur schwer auszumachen.
„Über den Horizont“
Wer meinte, US-Feindseligkeiten in Afghanistan, Drohnenschläge wie der gegen die Ahmadi-Familie, würden mit dem Abzug der Streitkräfte zum 1. September ein Ende finden, wurde rasch eines Besseren belehrt. Unmittelbar nach dem erfolgten Abzug hielt Präsident Biden eine schwülstig-militaristische Rede, in der er zwar großspurig das „Ende einer Ära großangelegter Militäroperationen“ verkündete: „Meine lieben Amerikaner, der Krieg in Afghanistan ist jetzt zu Ende.“ Doch dann droht Biden, scheinbar ohne den offensichtlichen Widerspruch in seinen Worten erkennen zu wollen, jenen Afghanen, die künftig „Amerika schaden“ wollen:
„Die Vereinigten Staaten werden niemals ruhen. … Wir werden euch bis ans Ende der Welt jagen.“
Die Auflösung des Widerspruchs, Krieg zu führen, ohne Krieg zu führen, nennt Biden „Über-den-Horizont-Fähigkeiten“ („over-the-horizon capabilities“) und meint damit: „Wir können Terroristen und Ziele angreifen, ohne amerikanische boots on the ground.“ Luftschläge in Afghanistan, koordiniert von Militärbasen außerhalb des Landes also – Drohnen.
In Bezug auf die Effektivität dieser „Fähigkeiten“ verweist Biden im nächsten Satz auf den oben exerzierten Drohnenschlag in Kabul, bei dem er sieben Kinder tötete. Darauf können sich die Kinder, Frauen und Männer in Afghanistan in Zukunft also einstellen: zwar keine Okkupation ihres Landes mehr, keine boots on the ground mehr, doch dafür Luftschläge in dicht besiedelten Wohnvierteln, drohnentote Zivilisten. „Menschenrechte“, so versichert der US-Präsident weiter, „stehen im Zentrum unserer Außenpolitik“. Es mag altbacken erscheinen, das Völkerrecht ins Spiel zu bringen, doch werden diese künftigen Luftschläge ohne Frage illegal sein: Schließlich werden die Taliban als De-facto-Herrscher des Landes – anders als die Marionettenregierungen Karzai und Ghani in den 20 Jahren zuvor – den USA gewiss keine offizielle Erlaubnis erteilen, das Land am Hindukusch zu bombardieren.
Dass sich die neuen „Über-den-Horizont-Fähigkeiten“ keineswegs auf Afghanistan beschränken, sondern eher global verstanden werden sollen, machte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin jüngst auf einer Pressekonferenz in Doha klar: „Es gibt keinen Flecken Erde, den wir nicht erreichen und anpacken können, wenn wir das müssen“, umschreibt Austin das Ausmaß der neuen Strategie und damit den Anspruch der USA, überall auf der Welt zu jedem beliebigen Zeitpunkt Luftschläge durchführen zu können, wenn dies im Interesse Washingtons ist.
Das erste Mal
Der erste Drohnenschlag der Menschheitsgeschichte ereignete sich am 7. Oktober 2001 in der südafghanischen Provinz Kandahar. Keine vier Wochen nach den Anschlägen vom 11. September feuerte Bushs CIA mit einer Predator-Drohne auf das Haus des sagenumwobenen Taliban-Gründers Mullah Omar, der während der ersten Herrschaft der Taliban 1996–2001 der De-facto-Präsident des Islamischen Emirats Afghanistan war. Die USA behaupteten zunächst, Omar sei im Drohnenfeuer getötet worden, doch starb er mehr als eine Dekade später eines natürlichen Todes, vermutlich an Tuberkulose. (Kein Talib ist in den folgenden Jahren derart oft „getötet“ worden wie Mullah Omar …)
Die Militärführung war sich damals „zu 98 Prozent sicher“, dass sie gerade Mullah Omar bombardiert habe, meinte ein 2001 verantwortlicher Generalleutnant Jahre später gegenüber The Atlantic. Auch George W. Bush pries auf einer Rede am Military College of South Carolina im Dezember 2001 die „extreme Genauigkeit“ der Predator – damals noch eine unbekannte CIA-Geheimwaffe. Der Drohnenmythos der „chirurgischen Präzision“ war geboren – die unbemannten Fluggeräte töten nur „die Bösen“, entfernen wie ein Skalpell den Tumor millimetergenau. Die Predator-Drohne mit der Nummer 3034, die damals in Kandahar Geschichte schrieb, ist heute im Smithsonian Air and Space Museum in Washington ausgestellt – als militärhistorischer Meilenstein, mit ihr wurde eine neue Ära der modernen Kriegsführung eingeläutet. Wen ihre Hellfire-Rakete damals tatsächlich tötete – schließlich überlebte Mullah Omar, doch wurden mindestens zwei Tote dokumentiert – ist unbekannt; einigen Berichten zufolge möglicherweise Omars zehnjähriger Sohn. Wer weiß das schon? Und – wir befinden uns kurz nach 9/11 in den Wochen und Monaten der Blutrache- und Freiwildmentalität – wen kümmert es schon?
Es ist bezeichnend für 20 Jahre US-Krieg in Afghanistan, dass der erste Kriegsakt und der vermeintlich letzte sich derart ähneln: Die US-Führung hat schlicht keinen Schimmer, wen sie mit ihrem Hightech-Werkzeug in den Tod reißt. Und mit seiner jüngsten Ankündigung beweist Joe Biden einmal mehr seine Unbelehrbarkeit und versichert, dass dieser Irrsinn „über den Horizont“ hinaus bis in alle Ewigkeit weitergehen wird – Afghanistan: der Krieg, der niemals endet.
Titelbild: andrey_l / Shutterstock
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