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Titel: Die offenen Adern Lateinamerikas – Die 50 Jahre eines literarischen Meilensteins historischer Aufklärung

Datum: 20. September 2021 um 13:18 Uhr
Rubrik: einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Kultur und Kulturpolitik, Rezensionen
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Seit April 2021 zelebrieren Verlage, Universitäten und Medien mehrerer Länder das 50. Jahresjubiläum der Erstausgabe eines Buches, das sich über zwei Generationen hinweg nach wie vor eines massiven Leser-Interesses erfreut. Sein Titel: „Die offenen Adern Lateinamerikas“ vom uruguayischen Schriftsteller und Publizisten Eduardo Galeano. Von Frederico Füllgraf.

„Ich habe „Die offenen Adern Lateinamerikas“ geschrieben, um die Ideen anderer und meine eigenen Erfahrungen zu verbreiten, die mit realistischem Maßstab vielleicht ein wenig helfen, die Fragen zu klären, die uns immer verfolgt haben: Ist Lateinamerika eine Weltregion, die zu Demütigung und Armut verdammt ist? Von wem verurteilt? Ist es Gottes Schuld, etwa Schuld der Natur? Ist das Unglück nicht ein Produkt der Geschichte, das von Menschen gemacht wurde und das von Menschen daher rückgängig gemacht werden kann? Dieses Buch wurde mit der Absicht geschrieben, bestimmte Umstände zu enthüllen, die die offizielle Geschichtsschreibung – die von den Siegern erzählte Geschichte – verbirgt oder darüber lügt.“

Dies schrieb der gerade 31-jährige Galeano im Vorwort zur Erstausgabe des mexikanischen Verlags Siglo XXI im April 1971. Mit einem ironischen Nadelstich warnte er auch vor der von ihm gewählten Form: „Mir ist bewusst, dass es für dieses Handbuch der Popularisierung ein Sakrileg sein könnte, Politische Ökonomie im Stil einer Liebesgeschichte oder eines Seeräuber-Romans zu behandeln.“ Diese Irreverenz, sollte man meinen, mag allerdings der Schlüssel zum Verständnis der Faszination sein, die der Text bei Millionen Lesern mehrerer Generationen auslöste.

Eduardo Hughes Galeano – mit dem ich seit Ende der 1970er Jahre bekannt war und das seltene Privileg genoss, häufigen E-Mail-Austausch über vielfache Themen mit ihm zu betreiben – starb im April 2015 im Alter von 74 Jahren als Autor eines kolossalen literarischen Nachlasses. Es sind 45 Bücher, das letzte davon, „Cazador de Histórias“, erschien posthum im Jahr 2016, respektive 2018 in der deutschen Fassung „Geschichtenjäger“ im Peter Hammer Verlag, im gleichen Wuppertaler Verlag also, der mit der deutschen Fassung von „Die offenen Adern Lateinamerikas“ seit Anfang der 1970er Jahre Galeano die editorische Treue hielt.

Lebensstationen eines Utopisten, der den Stimmen des Lebens lauschte

Es war im Oktober 1976, als ich, Student der Publizistik an der FU Berlin, zum ersten Mal mit Eduardo Galeano anlässlich der Frankfurter Buchmesse zusammentraf. Als Dritter im Bunde beteiligte sich ein damaliger argentinischer Freund an unserer nächtlichen Zeche in Galeanos Hotelzimmer, wo er uns mit nahezu dramaturgischer Akribie seine Flucht ins spanische Exil beschrieb, nachdem im März 1976 das argentinische Militär die damalige peronistische Regierung von der Macht geputscht hatte.

Galeanos journalistische Karriere hatte in den frühen 1960er Jahren als Chefredakteur der einflussreichen uruguayischen Wochenzeitschrift Marcha begonnen, zu deren bereits prominenten Mitarbeitern die Schriftsteller Mario Vargas Llosa, Mario Benedetti und Adolfo Gilly, ferner die Musiker und Künstler Alfredo Zitarrosa, Manuel Maldonado und die Brüder Denis und Roberto Fernández Retamar zählten. Zwischen 1964 und 1966 leitete Galeano zwei Jahre lang die unabhängige linke Zeitung Época. Von 1964 bis 1973 gelang ihm innerhalb von neun Jahren die Veröffentlichung von sieben Büchern, darunter das 1968 erschienene und der Vorzugs-Sportart des Autors gewidmete „Su majestad el fútbol“ (frei übersetzt: „Ihre Majestät, der Fußball“). Ein Thema, dass Galeano zum zweiten Mal in seiner 1995 auch auf Deutsch erschienenen und 2012 von der ARD als Hörspiel „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“ bearbeiteten Sammlung von begeisternden, jedoch auch beißenden Fußball-Chroniken „Der Ball ist rund und Tore lauern überall“ (Taschenbuch – Amazon) (Originaltitel „El fútbol a sol y sombra“) wieder aufgriff und sozusagen politökonomisch behandelte. Aus seiner Leidenschaft für auserlesene Fußball-Asse machte der Autor niemals einen Hehl. Maradona erhielt von ihm die Würdigung, „Die Götter gehen niemals in Rente, egal wie menschlich sie sind“.

Doch zurück zur unterhaltsamen und durchzechten Nacht im Frankfurter Hotelzimmer. Mit schwarzem Humor legte Galeano Wert auf seine „Exil-Prüfung“, schließlich war er drei Jahre zuvor nach dem 1973er Militärputsch in Uruguay schon von Montevideo ins argentinische Buenos Aires geflüchtet, wo er drei Jahre lang die legendäre Kultur-Zeitschrift Crisis herausgab, die mehr als vierzig Jahre später von Bewunderern Galeanos und Kollegen in Argentinien als Online-Publikation wieder angeboten wird. In ihrem letzten Erscheinungsjahr hatte die Redaktion mehrfache Attentats- und Morddrohungen erhalten und einige ihrer renommierten Herausgeber und Mitarbeiter wurden entweder von der Militärdiktatur verhaftet, gingen ins Exil oder gelten bis zum heutigen Datum als verschwundene Mordopfer; darunter die Journalisten, Dichter und Romanautoren Francisco „Paco“ Urondo, Rodolfo Walsh, Haroldo Conti, Roberto Santoro, Miguel Ángel Bustos und Raymundo Gleizer. Crisis musste eingestellt werden, ihr Sammel-Archiv ging nach Galeanos Beschreibung als Farce von Joseph Goebbels‘ inszenierten Bücherverbrennungen in großen Mengen vor dem Redaktionsgebäude in Buenos Aires als „kommunistisches Machwerk“ in den Flammen der Putschisten auf.

Im spanischen Exil setzte sich Galeano an sein neues Projekt, oft als sein Meisterwerk definiert, nämlich die zwischen 1982 und 1986 geschriebene Trilogie „Memoria del fuego“, beim Peter Hammer Verlag unter dem Titel „Erinnerung an das Feuer“ erschienen. In Madrid wohnhaft, verbrachte er hin und wieder einige Zeit in Stockholm als Jurymitglied des internationalen Afghanistan-Tribunals über den Krieg der Taliban gegen die Sowjetunion und erinnerte sich ironisch an die Aussage eines hochrangigen afghanischen Mullahs, der in einer der Tribunal-Sitzungen seufzte: „Die Kommunisten haben unsere Töchter entehrt! Ihnen wurde Lesen und Schreiben beigebracht!“.

Nach dem Zusammenbruch der uruguayischen Diktatur kehrte Galeano Anfang 1985 nach Montevideo zurück und gründete noch im selben Jahr zusammen mit dem befreundeten Schriftsteller und Dichter Mario Benedetti, Hugo Alfaro und anderen Journalisten und Schriftstellern die Wochenzeitung Brecha, deren Beirat er bis zu seinem Tod angehörte. Im Jahr 2004 unterstützte Galeano das linke Wahlbündnis Frente Amplio, dessen siegreicher Präsidentschafts-Kandidat Tabaré Vázquez Uruguay zum Wohlfahrtsstaat wiedererweckte; ein Programm, das sein Nachfolger José Pepe Mujica mit viel Mut und asketischer Hingabe vertiefte und ausweitete. Im Jahr 2005 trat Galeano mit linken Intellektuellen wie Tariq Ali und Adolfo Pérez Esquivel dem Beirat des damals im venezolanischen Caracas eingeweihten Fernsehsenders TeleSUR bei und schrieb regelmäßig als Kolumnist für die progressiv ausgerichtete mexikanische Zeitung La Jornada.

Eduardo Galeano war Preisträger mehrerer internationaler Verdienst-Medaillen – darunter des Madrider Zirkels der Schönen Künste (2009) – dreifacher Träger des internationalen kubanischen Literaturpreises Casa de las Américas (1975, 1978 und 2011), des American Book Award (1989), des Preises für Kulturelle Freiheit der US-amerikanischen Lana-Foundation (1999), des schwedischen Stig-Dagerman-Preises (2010), des Alba-Literaturpreises (2013) und Ehrendoktor von mindestens sieben lateinamerikanischen Universitäten.

Das Jubiläum eines linken Buch-Klassikers

Die Veröffentlichung von „Die offenen Adern Lateinamerikas“ fiel in eine Zeit, die von sozialen, politischen und ideologischen Auseinandersetzungen in Lateinamerika, aber auch vom globalen Kalten Krieg geprägt war. Wegen des Buches wurde Galeano rasch zur Zielscheibe von Militärdiktaturen, es wurde von den Putschisten Uruguays, Argentiniens und Chiles verboten und Galeano vorübergehend in Uruguay inhaftiert. Nicht wenige Kulturschaffende und Politikwissenschaftler betrachten „Die offenen Adern Lateinamerikas“ als die „lateinamerikanische Bibel“ der historischen Neuinterpretation des Kontinents.

Nach eigenen Angaben Galeanos nahm die Recherche – mit Archivdurchforstung, Lektüren und Auswertungen – vier Jahre in Anspruch, doch brauchte er nicht mehr als „90 von Kaffee unterstützte Nächte“, um das Buch niederzuschreiben. Seiner Arbeitsmethode gelang es, die herrschende offizielle Geschichtsschreibung, die chiffrierte Sprache von Historikern, Ökonomen oder Soziologen auseinanderzunehmen. Es sind Geschichten, die vor allem den LateinamerikanerInnen vorführen sollen, welche Figuren und Interessen ihr Land Jahrhunderte lang okkupierten, ihre Vorfahren ermordeten, jedoch sie auch zum Nachdenken über empfindliche Fragen anregen sollen, wie „Was haben wir getan, um diese schmerzlichen Schäden zu lindern und zu bekämpfen?“ oder „Was können wir tun, um in der Zukunft besser dazustehen?“. Ergreifend und von Episode zu Episode äußerst anschaulich erzählt, offenbart sich das Buch im Laufe der Lektüre als eine Art Wegweiser der Selbstfindung.

Die Struktur des Textes ist alles andere als langweilig. Sie besteht aus einer langen Einleitung mit dem Titel „Hundertzwanzig Millionen Kinder im Mittelpunkt des Gewitters“ und zwei Leitkapiteln. Das erste trägt den Zwischentitel „Die Armut des Menschen als Ergebnis des Reichtums der Erde“, das zweite die ironische Anspielung „Entwicklung ist eine Reise mit mehr Schiffbrüchigen als Seefahrern“. Im ersten Teil stellt Galeano die wichtigsten Szenarien der kolonialen Ausplünderung Lateinamerikas vor. So zum Beispiel mit „Goldfieber, Silberfieber“, in dem er die an Besessenheit grenzende Anziehungskraft von Christoph Kolumbus und seiner Gold und Silber jagenden Konquistadoren erklärt, die einen erbitterten Kampf zwischen den Ureinwohnern und den „Besuchern“ (genauer: Einbrechern?) entfesselt, bis diese Metalle unersetzlich aufgebraucht waren oder ihr Wert verlorenging.

„König Zucker und andere landwirtschaftliche Monarchen“ handelt wiederum von ausländischen Interventionen in lateinamerikanischen Ländern, womit sich Regierungen und Konzerne über Jahrzehnte, oft Jahrhunderte hinweg die Besitztümer und Ressourcen zahlreicher Regionen aneignen wie den Zucker auf Kuba, den Gummi-Rohstoff in Brasilien, die Bananen in Ecuador und Kolumbien usw. In „Die unterirdischen Quellen der Macht“ behandelt der Text das untrennbare Verhältnis zwischen der Jagd nach den Bodenschätzen und den Gräueltaten, die als Preis ihrer Ausbeutung begangen wurden und noch immer begangen werden. In „Die Entwicklung ist eine Reise mit mehr Schiffbrüchigen als Seefahrern“ behandelt Galeano unter dem Zwischentitel „Geschichte des frühen Todes“ historische Marksteine Lateinamerikas, seine Eroberungen und Niederlagen und Wechselfälle aller Zeiten.

Darauf folgt „Die derzeitige Struktur der Plünderung“, die die Fortsetzung der Ausbeutung als indirektere, allerdings nicht weniger effektive Plünderung beschreibt, die ein von außen nach innen wirkendes System der neokolonialen Unterdrückung darstellt, das sich deutlich an der damals trendsetzenden lateinamerikanischen „Dependenz-Theorie“ orientierte, zu deren renommiertesten Vertretern unter anderem die Soziologen und Nationalökonomen Celso Furtado, André Gunder Frank und Rui Mauro Marini gehörten. Die Buch-Auflagen nach 1978 enthalten die „Ergänzung 1978: Sieben Jahre danach“. Galeano hielt es für erforderlich, klarzustellen, dass sich die Lage auf dem Kontinent seit der Erstveröffentlichung eher verschlechtert als gebessert habe. Ab 1997 enthalten die meisten Ausgaben ein feierliches Vorwort der preisgekrönten chilenischen Romanautorin Isabel Allende.

Kritik und Selbstkritik schmälern keinen Verdienst

Genau jene vermeintliche Orientierung an der „Dependenz-Theorie“ – die in ihrer Interpretation der historischen Wurzeln Lateinamerikas eigentlich nicht falsch lag, jedoch als „übermäßig vereinfachte Sicht der Geschichte“ gewertet wurde – machten nicht wenige Kritiker und Rezensenten dem Buch zum Vorwurf. Die Kritik richtete sich jedoch vor allem gegen das letzte Kapitel über die moderne Ausbeutung des Kontinents, dem unkritische Nähe zu den „Dependenzlern“ und gar der von ihnen angeblich beeinflussten UN-Kommission für die Ökonomische Entwicklung Lateinamerikas (CEPAL) unterstellt wurde.

Mehr als 40 Jahre später erklärte Galeano selbst, dass er sein erfolgreichstes Buch nicht noch einmal lesen würde. „Ich könnte es nicht mehr lesen. Ich würde bewusstlos werden“, witzelte er während einer Pressekonferenz auf der 2. Buch-Biennale von Brasília im April 2014. Auf die Frage von Journalisten, welche die aktuellen offenen Adern Lateinamerikas seien, antwortete der bescheidene Autor mit der Bitte um Verständnis, jedoch mit ungebrochenem Humor:

„Es wäre mir unmöglich, eine solche Frage zu beantworten, zumal ich mich nach so vielen Jahren nicht mehr so sehr mit diesem Buch verbunden fühle wie damals, als ich es geschrieben habe. Die Zeit verging, ich begann, andere Dinge auszuprobieren, um der menschlichen Realität im Allgemeinen und der politischen Ökonomie im Besonderen näherzukommen. Zweifellos lag den „Offenen Adern“ der Versuch zugrunde, ein Buch der Politischen Ökonomie zu sein, doch dafür hatte ich noch nicht die notwendige Ausbildung. Ich bereue es nicht, es geschrieben zu haben, aber das ist inzwischen Vergangenheit. Ich könnte das Buch nicht noch einmal lesen, ich würde ohnmächtig werden. Ich muss der Ehrlichkeit halber zugeben, dass ich es an dieser Stelle als einen schweren Stil empfinde. Für mich ist diese traditionelle linke Prosa sehr langweilig. Mein Körper hielte es nicht aus. Ich müsste in die Notaufnahme eingeliefert werden… – Hallo, haben Sie noch ein freies Bett?’“

So spaßte Galeano mit bewusster Übertreibung und erntete tosendes Gelächter und Applaus.

Die Mario-Vargas-Llosa/Eduardo-Galeano-Fehde

Als Galeano 1960 als Chefredakteur von „Marcha“ seine journalistische Karriere begann, hatte er, wie bereits erwähnt, unter anderem die Autoren Mario Benedetti, Manuel Maldonado, die Brüder Denis und Roberto Fernández sowie Mario Vargas Llosa als Mitarbeiter bestellt.

Vargas Llosa schlug bereits in den 1960er Jahren mit vielgelobten und preisgekrönten Romanen Wellen in der literarischen Weltszene, die ihm Ruhm und „Unsterblichkeit“ einbrachten. Der in Spanien lebende Peruaner gilt zweifellos als einer der bedeutendsten lateinamerikanischen Romanciers und Essayisten, ist Träger des angesehenen spanischen Cervantes-Preises (1994) und des Literatur-Nobelpreises (2010). Doch schon bald trennten sich des Peruaners und des Uruguayers kollegialen Wege mit harten ideologischen Zerwürfnissen, die mit Vargas Llosas harscher und deplatzierter Kritik an der kubanischen Revolution begann, sich mit seinen Angriffen auf den verstorbenen venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez fortsetzte und schließlich in seiner schamlosen, verkommenen und systemdestabilisierenden Umarmung des Neoliberalismus gipfelte, die ich vor vier Jahren mit dem Titel „Der Nobel-Preisträger als neoliberaler Propagandist“ vorstellte.

Der Zufall wollte es, dass ich einem dieser ersten Zerwürfnisse als Zeuge beiwohnen durfte, als nach der Frankfurter Buchmesse 1976 die dort anwesenden lateinamerikanischen Schriftsteller sich in der Westberliner Carmerstraße ein literarisches-politisches Stelldichein gaben.

Es hatte sich über Frankfurt hinaus der damals beginnende „Boom der lateinamerikanischen Literatur“ herumgesprochen und die Berliner Kulturszene war sozusagen ganz Ohr und offene Augen. Nach Galeanos „Die offenen Adern Lateinamerikas“ waren nun die ersten Werke des Peruaners Mario Vargas Llosa, des Kolumbianers Gabriel García Márquez, des Argentiniers Julio Cortázar und der Mexikaner Carlos Fuentes und Octavio Paz vorgestellt und schlugen Wellen der Begeisterung in deutschen Feuilletons. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob es sich um eine Veranstaltung der damals in der Carmerstraße gerade eingeweihten Autorenbuchhandlung (Anteilseigner: Günter Grass) oder des Literarischen Colloquiums Berlin handelte. Jedenfalls platzten im Saal zwei ideologische Zeitzünderbomben.

Zum einen mit einer widerwärtigen Attacke des zweifellos renommierten mexikanischen Romanautors und Dichters Octavio Paz gegen Werk und Person des nicaraguanischen Priesters Ernesto Cardenal. Zum anderen mit einer Provokation Vargas Lllosas, die nicht nur die anwesenden Gäste verwunderte, sondern den auf der Tribüne zuhörenden Eduardo Galeano zutiefst empörte. Der nämlich, doch nicht nur er, sondern auch Cardenal und García Márquez, von den Gräueltaten, Ermordungen und vermissten Opfern der lateinamerikanischen Diktaturen berichtet hatte. Worauf Vargas Lllosa mit dem vor sich hin gegähnten Satz reagierte, „Was jucken mich die politisch motivierten Gräueltaten, wenn mich auf der Suche nach dem Sinn der Existenz die Gräuel schlafloser Nächte quälen!“. Ein paar Sekunden lang, womöglich die längsten in einem literarischen Café, herrschte eisiges Schweigen, bis Galeano kopfschüttelnd und empört für einige Minuten den Raum verließ; ihm hinterher eine satte Anzahl angewiderter Zuschauer.

Einen ihrer letzten Schlagabtausche trugen beide Autoren über die Person von Hugo Chávez aus. „Das Schlimmste des Caudillismo“, „das schlimmste Erbe des spanischen Imperiums in Amerika“, „der große Destabilisierer der Demokratie in Lateinamerika“. Mit diesen Bezeichnungen war Vargas Llosa öfter über Chávez hergefallen, von dem er ferner behauptete, dass er ohne die vom Ölexport eingenommenen Dollar ein „Nichts“ gewesen wäre. Worauf Galeano mit charakteristischer Ironie antwortete: „Genau, Hugo Chávez ist ein Dämon! … Er hat zwei Millionen Venezolaner alphabetisiert, die weder lesen noch schreiben konnten, obwohl sie in einem Land lebten, das über den wichtigsten Naturreichtum der Welt verfügt“. Als Zusatz-Ironie könnte man fragen, ob Vargas Llosa etwa auf Galeano neidisch war, dessen „Die offenen Adern Lateinamerikas“ der humorvolle Präsident Hugo Chávez demonstrativ US-Präsident Barack Obama während eines gesamtamerikanischen Gipfels im Jahr 2009 als autographiertes Geschenk überreichte, dessen Momentaufnahme zum weltweiten Trendsetter wurde.

Für Vargas Llosa war Galeano kein Literat, sondern ein „bloßer Essayist“. „Die offenen Adern Lateinamerikas“ kritisierte der Peruaner mit dem Urteil, das Buch sei „die Beschreibungsweise eines marxistischen Dogmatismus, der die Realität Lateinamerikas karikiert und zutiefst verzerrt“. Diesen Tritt vor Galeanos Schienbein machte der Nobelpreisträger am Todestag Galeanos publik. Den er dennoch für seine „hohe Bildungskultur“ mit den Worten würdigte, „Wir müssen Galeano auch ein literarisches Talent, eine intellektuelle Qualität und auch diese Bereitschaft zur Teilnahme am bürgerlichen Leben, am politischen Leben unserer Zeit anerkennen. Etwas, das leider immer seltener wird“. Die verspätete Anerkennung kam jedoch nur zustande, weil die Deutsche Welle den Nobelpreisträger vor allem um eine Stellungnahme zum Tod eines anderen Literatur-Nobelpreisträgers gebeten hatte. Nämlich zu Günter Grass, der am 13. April 2015, dem gleichen Todestag wie Eduardo Galeano, starb.

„Wenn die Worte nicht die Würde des Schweigens besitzen, ist es besser, zu verstummen und abzuwarten“, sagte einst Eduardo Galeano.


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