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Titel: Wir brauchen zur Rettung des Restes an Demokratie eine Art Wikileak zur Aufklärung über innere Vorgänge in D.

Datum: 30. November 2010 um 17:20 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Lobbyismus und politische Korruption, Medien und Medienanalyse
Verantwortlich:

Es ist interessant zu beobachten, wie sich ein wesentlicher Teil der deutschen Medien über die Veröffentlichung der diplomatischen Dokumente durch Wikileaks aufregen. Zum Beispiel in der Welt oder im ARD-Brennpunkt. Dazu hat ein NachDenkSeiten-Nutzer einen kritischen Brief an Ulrich Deppendorf geschrieben. Siehe Anlage. Auch wenn Indiskretionen nicht schön sind, ist zu beachten, dass die demokratische Willensbildung und Entscheidungsfindung weit gehend auf den Hund gekommen ist. Wer über viel Geld und publizistische macht verfügt, bestimmt darüber, was politisch geschieht. Die Medien werden ihrer Kontrollfunktion nicht gerecht, sie sind weit gehend in das Herrschaftssystem integriert, trotz gutem willen mancher Journalisten. Wir bräuchten deshalb eine Art WikiLeak für die Willensbildung im Inneren unseres Landes. Albrecht Müller.

Zunächst noch einige wenige Anmerkungen zum aktuellen Vorgang, der Veröffentlichung der Papiere der amerikanischen Diplomatie:

  • Die Kritiker der Veröffentlichung regen sich zum Beispiel darüber auf, dass die Veröffentlichung von Meinungsäußerungen arabischer Scheichs gefährlich werden könnte. Wieso soll es gefährlich sein, wenn wir wissen, dass auch arabische Führer die Amerikaner dazu ermuntern, Krieg gegen den Iran zu führen? Damit könnten wir lernen, dass die US-Regierung ermuntert sein könnte, nicht alle Mittel der Diplomatie einzusetzen, um auf friedliche Weise den Konflikt zu entschärfen. – Hätte es WikiLeak schon bei den Verhandlungen in Rambouillet um das Kosovo im Jahre 1999 gegeben, dann wären höchstwahrscheinlich Dokumente sichtbar geworden, aus denen hervorging, dass der Westen nicht ernsthaft an einer friedlichen Lösung des dortigen Konflikts interessiert war. Außerdem wäre bei Existenz einer ähnlichen Einrichtung wie WikiLeak vermutlich sowohl Großbritannien als auch den USA der Eintritt in den Irak Krieg erschwert worden.
  • Auch die Aufregung über die peinlichen Urteile amerikanischer Diplomaten über andere Regierungen ist nicht angebracht. Zum einen erfahren wir, wie die Qualität unserer eigenen Regierungen eingeschätzt wird. Zum anders erfahren wir, wie und in welcher Tonlage die amerikanische Diplomatie mit so genannten Partnern umgeht. Vielleicht löst das da und dort Nachdenken über die Eigenständigkeit unserer Völker außerhalb der Grenzen des „Weltpolizisten“ aus. Sinnvoll wäre es schon.
  • Es ist ausgesprochen wichtig und gut zu wissen, dass auch die amerikanischen Diplomaten der Meinung sind, dass die deutsche Bundeskanzlerin auch die internationale Währungspolitik im wesentlichen unter Rücksichtnahme auf den Eindruck bei den deutschen Wählerinnen und Wählern betreibt.

Warum reagieren Medien so empfindlich und kritisch auf die Veröffentlichung von Wikileaks?

Mit der Veröffentlichung wird sichtbar, dass die Mehrheit der Medien nicht mehr richtig recherchiert. Denn hier werden Informationen über Regierungen, Informationen über die Tätigkeit von Diplomaten und Geheimdienste offen gelegt, die offen zu legen eigentlich die Aufgabe der Medien wäre. Den Medien wird der Spiegel vorgehalten. Da die meisten Medienschaffenden Kritik nicht ertragen können, reagieren sie gereizt auf einen solchen Vorgang. Dann wird so jemand wie der Boss von Wikileaks schnell mal zum Anarchisten stilisiert, wie von Welt online am 29. November.

Manche Medien reagieren vermutlich auch deshalb so aggressiv, weil sie befürchten müssen, dass sehr bald auch ihre Verflechtung mit der Politik, mit den Geheimdiensten und mit großen Interessen sichtbar gemacht wird.
So kann man nur hoffen, dass bald einmal bekannt wird, welche Journalisten als Einflussagenten zum Beispiel der NATO oder des Berliner Verteidigungsministeriums agieren.
So kann man nur hoffen, dass bald und umfassend bekannt wird, welche Medien und Journalisten in Public Relations Aktionen und Kampagnen involviert und dafür engagiert sind.
Es wäre für uns alle ausgesprochen hilfreich, wenn wir wüssten, welche Medien und Journalisten direkt mit der Finanzwirtschaft verbunden sind.

Wir bräuchten eine Art Wikileak für unsere innere Hygiene. Vor allem für den Kampf gegen die politische Korruption und zur Neutralisierung des Versagens der Medien wäre eine solche Einrichtung Gold wert.

Dazu ein paar Beispiele:

  1. Wir wissen zwar, dass sich Politiker und Medien bei vielen Privatisierungen von öffentlichen Einrichtungen, von Stadtwerken und Wasserwerken und Bundesdruckereien für die Privatisierung eingesetzt haben. Wir wissen aber nicht, ob und wie dabei Geld geflossen ist und wie die Einflüsse auf die Privatisierungsentscheidungen im einzelnen gelaufen sind. Für die Rettung des Restes an demokratischer Substanz in unseren Gemeinden, Ländern und im Bund wäre es aber wichtig, Details zu kennen. Es wäre angesichts der Schwere der Verletzung demokratischer Regeln nicht verwerflich, wenn einer wikileak ähnlichen Einrichtungen Deutschland Dokumente zum Beleg der Einflussnahme und der politischen Korruption zugingen.
  2. Wir wissen zwar, das zum Beispiel die Professoren Raffelhüschen, Sinn, Rürup und Miegel für den Finanzdienstleister MLP Vorträge gehalten haben. Wenn wir wüssten, wie hoch die Honorare waren, dann könnten wir besser abschätzen, ob die Honorare die Vorträge entgelten oder ob damit die Lobbyarbeit dieser so genannten Wissenschaftler bezahlt wird.
  3. Das gleiche gilt für die Honorare des ehemaligen Arbeitsministers und Paten der Riester-Rente, Walter Riester. Nach den Regeln des Deutschen Bundestags mussten Nebenverdienste aus Vortragsarbeit angegeben werden. Das geschah aber in Stufen. Wenn eine Sparkasse oder eine Versicherungsagentur den ehemaligen Arbeitsminister mit mehr als 7000 € bezahlt hat, dann steht in der Aufstellung des deutschen Bundestages lapidar 7000 €. Wenn über eine Einrichtung wie WikiLeaks bekannt würde, das sehr viel höhere Honorare geflossen sind, dann könnten wir besser abschätzen, wie sehr bei diesen Honoraren das Element des Judaslohns eine Rolle spielt, ob also der ehemalige Arbeitsminister auch dafür entlohnt wird, dass er das Vertrauen in die gesetzliche Rente ruiniert und damit die Pforten für die Privatvorsorge weit geöffnet hat.
  4. Eine Einrichtung wie WikiLeaks könnte helfen, Licht in den Einflussbereich von Goldman Sachs zu bekommen. Wir würden gerne mehr wissen, über die Rolle dieses Unternehmens bei den Spekulationen gegen verschiedene Länder Europas. Wir würden gerne mehr über die Beratung unsere Bundeskanzlerin durch die Vertreter von Goldman Sachs wissen. Wir würden gerne Genaueres darüber wissen, warum die Bundeskanzlerin den Berater von Goldman Sachs, Otmar Issing, zum Vorsitzenden der Kommission gemacht hat, die für Deutschland neue Regeln für die internationalen Finanzmärkte ausarbeiten soll.
  5. Wir würden gerne mehr wissen über die Motive zur weiteren Privatisierung der deutschen Bahn, für den Börsengang. Vielleicht gibt es Papiere oder Berichte über den Einfluss der Investmentbank Morgan Stanley auf die Union und die Bundeskanzlerin. Derartiges offen zu legen wäre nicht verwerflich. Die Einflussnahme ist verwerflich und bedarf des informationellen Gegengewichts.
  6. Wir würden gerne mehr darüber wissen, welche Gelder und warum und woher in Steueroasen fließen. Wenn die Veröffentlichung geheimer Papiere dabei helfen würde, wäre dies per se nicht verwerflich.
  7. Eine Art WikiLeaks würde helfen können, den Einfluss von Bertelsmann und Springer auf die deutsche Politik im allgemeinen und die deutsche Bundeskanzlerin im besonderen offen zu legen. – WikiLeaks könnte auch helfen, den sich ausbreitenden Einfluss und die Arbeitsmethoden des australischen Medienkonzerns Murdoc offen zu legen. Welt online sieht immerhin den WikiLeaks-Gründer Julian Assange als Gegenspieler von Landsmann Rupert Murdoch. Das ist schon beachtlich. Es käme jetzt noch darauf an, die Machenschaften dieses Medienkonzerns offen zu legen.
  8. Eine Art WikiLeaks könnte nachträglich noch helfen, sichtbar zu machen, wie die Kampagnen gegen Andrea Ypsilanti und ihren Versuch der Regierungsbildung in Hessen und für die schwarz-grüne Regierung in Hamburg gelaufen sind. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind auch hierfür Papiere ausgetauscht und Einschätzungen gegeben worden.
  9. Eine Art WikiLeaks könnte die Arbeit der Public Relations-Agenturen in Deutschland durchleuchten und sichtbar machen.
  10. Der Vorgang der Übernahme der DDR durch die Bundesrepublik Deutschland ist auch noch nicht andeutungsweise in allen wichtigen Facetten aufgeklärt – von der mutwilligen Zerstörung von Betrieben bis zur Übernahme der ostdeutschen Banken durch die westdeutschen Banken – es liegt vieles im Dunkel.

Wenn die NachDenkSeiten die finanzielle und organisatorische Kraft hätten, um das spezielle WikiLeaks für Deutschland zu betreuen und zu betreiben, wäre das eine sehr nützliche Erweiterung. So sind wir alle auf die Initiative Anderer angewiesen. Vielleicht packen ein paar junge Deutsche das Projekt an oder helfen bei der Ausweitung des bisherigen WikiLeaks auf die deutsche Innen- und Gesellschaftspolitik.

Anlage:

ARD-Brennpunkt: Gefährliche Enthüllungen – Die Wikileak-Dossiers.
Moderation: Ulrich Deppendorf
Quelle: ARD-Aktuell

Brief von Gunnar Glitscher an die ARD:

Sehr geehrter Herr Deppendorf, sehr geehrte Damen und Herren,

natürlich muss man mit den Aktivitäten von WikiLeaks nicht einverstanden sein. Das bedeutet aber nicht, dass man als Journalist eine ARD-‘Brennpunkt’-Sendung zur Meinungsmanipulation einsetzen darf.

Genau dies ist heute jedoch geschehen.

Statt den Zuschauer umfassend zu informieren, wurde über weite Strecken beschwichtigt und Meinungsmache betrieben, um dann am Ende in den Raum zu stellen, WikiLeaks ginge es vorrangig um die Erhöhung des Spendenaufkommens.

Um es deutlich zu sagen: Ich zahle die Rundfunkgebühren nicht dafür, um mir von Ihnen, Herr Deppendorf, einreden zu lassen, WikiLeaks sei kriminelle Organisation aus Vergewaltigern und Spendenbetrügern, die versucht, die Welt ins Chaos zu stürzen. 

Mit keinem Wort wurde auf die von der US-Außenministerin Außenministerin angeordnete Ausspähung von UNO-Repräsentanten eingegangen. Mit keinem Wort wurde beim Einspielen des Haubschrauber-Videos erwähnt, dass bei diesem Einsatz zahlreiche irakische Zivilisten ermordet wurden. Und von – Zitat – ‘Liebeserklärungen’ kann auch bei humorvoller Betrachtung der katastrophal schlechten Vertrauenslage zwischen Regierungen ja wohl keine Rede sein. 

Statt der verlogenen Schadensbegrenzung-Rhetorik des amerikanischen Botschafters in Berlin, Herrn Murphy breiten Raum zu gewähren, hätte in der knappen Sendezeit z. B. auf die Problematik eingegangen werden müssen, die sich aus der Tatsache ergibt, dass das angeblich so hervorragende Verhältnis der Regierungen Deutschlands und der Vereinigten Staaten von Amerika bereits VOR den WikiLeaks-Veröffentlichungen keineswegs von gegenseitigem Respekt und Vertrauen getragen war.

Dies nun nicht nur zu ahnen, sondern zu wissen, ist das Verdienst von WikiLeaks. Als mündiger Bürger bin ich WikiLeaks für die geschaffene Klarheit dankbar.

Herr Deppendorf, als Journalist ist es nicht Ihre Aufgabe, Hofberichterstattung für Regierungen zu betreiben, indem Sie unangenehme Fakten unterdrücken oder durch Beschönigung verkleistern. 

Ihre Aufgabe ist es, die Öffentlichkeit ungefiltert zu informieren. Heute Abend haben Sie das Gegenteil getan. 

Sie versuchten, die Öffentlichkeit – also auch mich – zu manipulieren und gegen WikiLeaks aufzubringen. Warum? Sie werden verstehen, dass ich darüber gleichermaßenbesorgt wie verärgert bin.

Dass man auch anders über die durch die WikiLeaks-Veröffentlichungen entstandene Situation berichten kann, bewies – ebenfalls heute Abend – die Sondersendung nach der 19-Uhr-Ausgabe des ZDF-‘Heute-Journals’. Dort wurde explizit erwähnt, dass Frau Clinton in Stasi-Manier Bespitzelungen hochrangiger Diplomaten durchführen ließ. 

Mein Rat: Bemühen Sie sich um ein politisches Amt, dort braucht man Leute, die wissen, wie man die Faktenlage ‘frisiert’.

Ihre Reputation als Journalist ist heute Abend im ARD-‘Brennpunkt’ buchstäblich ‘verbrannt’, es könnte aber immerhin der Beginn einer Karriere als ‘transatlantischer Spin-Doctor’ gewesen sein. Denn einige werden die von Ihnen moderierte Sendung mit Wohlgefallen verfolgt haben und sich zu gegebener Zeit bedanken. Guten Erfolg!

Mit freundlichen Grüßen,

Gunnar Glitscher
       
P.S. Ich erlaube mir, eine Kopie dieses Schreibens der Redaktion der ‘Nachdenkseiten’ (www.nachdenkseiten.de) zukommen zu lassen. Auch andere Fernsehzuschauer werden verärgert bemerkt haben, was Sie mit Ihrer Sendung beabsichtigten.


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