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Titel: Das Schaufenster einer Kulturnation

Datum: 27. August 2021 um 9:26 Uhr
Rubrik: Innen- und Gesellschaftspolitik, Wertedebatte
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Ein schönes Wort: Schaufenster. Als Metapher eine ganze Gesellschaft widerzuspiegeln, ist es wohl eine Nummer zu groß, gut. Allein den Begriff „Berlin – Schaufenster einer Nation“ einmal herzunehmen, um sich via Rundgänge durch die Metropole und der Lektüre von Medien der Hauptstadt dieses „Fenster“ anzuschauen, um sich ein Bild zu machen, regt dennoch zum Nachdenken an. Berlin in diesen Wochen und Monaten gesellschaftlich negativ überbordender Energieflüsse anzusehen, hat für den Beobachter viel zum Nachdenken zutage gebracht. Über Berlin, das Land, die Menschen. Von Frank Blenz.

Vielfach ist in dieser Stadt zu sehen, dass einer der gerade angesagten E-Roller wie ein achtlos vergessenes Spielzeug kreuz und quer auf dem Fußweg liegt. Hier ist es ein Gefährt an der Ausfallstraße Richtung Tempelhofer Feld. Hastig kurven Radfahrer schnell an dem Gefährt und ohne das eigene Tempo zu reduzieren an Fußgängern vorbei. Berlin ist schnell, Berlin ist achtlos. An der nahen Ampel hupt ein PKW-Fahrer seinen Vordermann heftig an, obschon der gern abbiegen würde, allein, er kann nicht, ist die Seitenstraße nun verkehrsberuhigt mit grünen Chill-Out-Sitz-Flächen für Anwohner und Touristen versehen und gesperrt. Nebenan warten in all dem Lärm nicht wenige Menschen in einer Reihe geduldig darauf, eine der berühmten Currywürste einer mit grandioser „App“ beworbenen Marke zu ergattern. Dabei halten alle ihren Blick ständig auf ihr Smartphone, die Daumen wischen die Wichtigkeiten auf dem Display hin und her. Sie weilen in einer digitalen Welt.

Ein armer Mann nahe dem Savignyplatz in Charlottenburg fragt einen wohlhabend aussehenden Mann vor dem Feinschmeckerladen Butter Lindner, ob er ihm ein kleines Erdbeertörtchen mitbringen könnte. Er fragt herzlich und ehrlich. Tatsächlich erfüllt der Gebetene ihm den Wunsch. Ein menschelnder Moment. Auf der Kantstraße reihen sich entlang der zwei, drei Kilometer Ladenstraßenlänge in bester City-West-Lage neuerdings mehr und mehr Modelle von Nobel-Automarken zum Ansehen. Da ein Ferrari, dort ein Lamborghini, da ein Aston Martin, dort ein Bugatti. Es muss schon ganz schön aufwärts gehen in Berlin – für einige. Die zeigen das 2021 ungeniert offen. In den Jahren zuvor, 2018, 2019, taten sie das noch nicht, da galt noch etwas mehr Stil und Diskretion in Sachen Reichtum. Immer noch in der Kantstraße. Vor dem Eingangsbereich des Theaters des Westens hat man schon bessere Tage erlebt. Glänzende Premieren, frohe Menschen. Gerade werden die Treppenaufgänge hingegen als eine Art Schutzzone von einem Dutzend Obdachlosen genutzt. Sie haben Decken dabei, Lebensmittel. Sie haben ihre Lager auf der Treppe aufgebaut. Sie schauen traurig aus. Es regnet, ein Mann guckt gen Himmel, lächelt, wenigstens wird er Dank des Theatervordaches nicht nass.

Der angesagte Park neuerer Prägung ist der am Gleisdreieck nahe dem Potsdamer Platz. Der verliert gerade seinen ursprünglichen Charme. Eigentumsneubauten en masse umzingeln ihn, neue Pflanzungen – Fehlanzeige, Menschen vermüllen ihn. Der Kommerz ist angekommen, freie Flächen lediglich für die Fitness weichen gebührenpflichtigen Flächen für die Fitness. Am Morgen nach einer Menschenfreizeitnacht sieht der Park wie eine Halde aus. Scherben, Essensreste, Verpackungen, Zigarettenkippen. Wenigstens haben in der frühen Morgenstunde viele kleine Hasen ihre Ruhe vor ihren intelligentesten Mitbewohnern der Erdkugel.

Und dann schlägt ein Parkbesucher in einer Pause die Zeitung auf: Die mögliche neue Regierende Bürgermeisterin von Berlin hat nach Doktortitelentzug schon wieder einen Plagiatsversuch am Hals. Die Zahl der schweren Unfälle mit E-Rollern nimmt zu. Die Mieter der Kulturbrauerei machen sich große Sorgen um Mietverträge und Zukunft, ein neuer Eigentümer ist am Start. Berlins Krankenhauspersonal streikt und ist ebenfalls ernüchtert ob einst versprochener Wertschätzung und zahlreicher Balkonbeifallsbekundungen in schweren Stunden. Es drohen Schließungen von Krankenhäusern und Entlassungen. Aus dem Auswärtigen Amt hat dortiger Minister wenig Erhellendes zu berichten. Dass er auch Minister in einer neuen Regierung sein wolle, schon.

Derweil wird die in Berlin regierende Koalition von der Koalition als Autohasser beschimpft. Das Trio regiere Autofahrer feindlich, bestrafend, diskriminierend fernab von einem Bemühen, besser alle Verkehrsteilnehmer einzubeziehen. Tatsächlich sieht die Kantstraße wie ein Versuchslabor von diversen Verkehrsflüssen aus, bei dem vor allem der Radfahrer bevorzugt wird. Eine sehr konservative Tageszeitung Berlins veröffentlicht eine Studie zum Thema „Mietendeckel“ in der Hauptstadt. Der Deckel habe nichts gebracht außer, dass das Wohnungsangebot wegen der Deckelung (die einkassiert wurde) halbiert worden sei. Es fällt einem beim Lesen ein, dass das Wohnen eines der wichtigsten Lebensthemen in der Stadt ist. Wohnen als Menschenrecht. Bezahlbar. Fair. Viel hat das was mit Eigentum und den Eigentümern zu tun, fällt einem ein. Eigentum verpflichtet. Eigentlich. Fair wäre es, wenn beide Seiten ihren Vorteil haben, Mieter und Vermieter. Allein, in Berlin verhält es sich anders. Da weiß der Senat nicht mal in Gänze, wem denn die vielen Häuser und Wohnungen bei zunehmender Eigentumsquote gehören. Trotz Grundbuchamt, trotz Datenschutzgrundverordnung, trotz digitaler Ausweise, trotz gläserner Bürgerschaft. Warum weiß man so wenig bis nichts von den reichen Berlinern und den reichen Gästen, die die Stadt als Monopolyspiel missbrauchen?

In einer Wochenzeitung wird Bilanz über das Wirken der Kanzlerin gezogen. Und aufgeatmet, dass wir alle Merkel bald geschafft haben, frei nach deren Spruch „Wir schaffen das“. Sofort verbindet sich Merkel und Berlin, das Schaufenster. Sie ist Chefdekorateurin Und hat es grandios vergeigt.

Neben dem Park an einer großen Kreuzung schaut der aktuelle Finanzminister, der Kanzlerkandidat Olaf Scholz mit weißem Hemd und bester Rasur auf die Passanten. Das Wort Respekt ist auf dem Riesenposter des Bundestagswahlkampfes 2021 zu lesen.

„Ich hab´ noch einen Koffer in Berlin“, sang einst Filmdiva Marlene Dietrich. Sentimental, hingebungsvoll, verliebt. Berlin liebt man. Trotz allem. Heute ist darüber ein eher resignierendes Seufzen zu vernehmen, äußert sich bei einer Begegnung ein alter, einst stolzer, rotzfrecher Berliner „janz juut“ über seine Heimatmetropole, die Stadt, die doch mal so knorke und derb und berechenbar … war. Inzwischen nippt dieser Mann aus dem Kiez nicht mehr seine Molle am Tresen in der Eckkneipe, gleich wo er wohnt, er hebt seine Flasche zum Prosit auf einer kaputten Bank im Park, dessen Wege und Wiesen ebenso wenig gepflegt sind. Der alte Mann seufzt: Das mit dem „Das Gute-alten-Zeit-Berlin verschwindet“, hat schon lange Fahrt aufgenommen.

Dieses Berlin war berechenbar, fassbar gerecht oder wenigstens erträglich ungerecht, schön und hässlich. Die Wende zum jetzigen Unzustand kam möglicherweise schon mit der Wiedervereinigung, als aus zwei politischen Systemen eines, das der Sieger wurde, als dann aus einer „sozialen“ Marktwirtschaft neoliberaler Turbokapitalismus wurde, von Gentrifizierung wie von einem nicht von Menschen gemachten Naturgesetz geredet und danach gehandelt wurde und wird. Verdrängung, Rendite, Optimierung, Eigentum, Müll, Verwahrlosung, Anmaßung. Willkür, Gewalt, Aussichtslosigkeit, Selbstgefälligkeit, Eitelkeit bis zum Exzess. Der alte Mann hält inne, er trinkt die Neige aus, packt die leere Flasche zum anderen Leergut in einen großen Jutebeutel und wankt dem Leergutautomaten im nächsten Supermarkt entgegen. Wenigstens ist die Ausbeute diesmal besser für Nachschub des Trost spendenden Bieres. „Was weiß ick, wo das alles noch enden soll“, murmelt er im Weggehen.

So einem oder anderen Männern und auch Frauen in aussichtsloser Lage begegnet Passant und Mitbürger mehr und mehr in der Hauptstadt der Kulturnation Deutschland. In der Straße nahe dem CDU-Hauptquartier campieren seit einiger Zeit mehrere Menschen unter einem mächtigen Vorgebäude eines Bürokomplexes direkt vor einem Werbebanner mit dem Wortfetzen „Demokratie lernen“. Sie „wohnen“ dort. Sie haben gerade Zeit und spielen Karten. Am Bahnhof Zoo stehen viele Menschen an einer Sozialstation an, Essen fassen. Im Park entdeckt Passant bei längerem Blick im Gebüsch kleine Zeltwelten. Auf der Straße unter den Linden sitzen Bettler, in der Friedrichstraße, am Ku´damm, neben der Kantstraße auf der Meile Wilmersdorfer – zwischen Kaffee schlürfenden Shoppingmenschen. Ganz Berlin wird von gestrandeten und aussortierten Menschen bevölkert. Es scheint, als halten diese Bürger die Stellung, wohl ahnend, vielleicht einst wie in Orbans Ungarn aus der Heimatstadt Berlin in separate Lager vor den Toren des Wohlstandes gekarrt und dauerhaft abgeschoben zu werden. Die soziale Entwicklung in Berlin ist schlimm, 2019 sah man solche gestrandeten Menschen hier schon nicht wenige, es ist eine Schande dieses Verhalten einer Wohlstandsgesellschaft mit rot-rot-grünen Senat und einer christlich-demokratisch geführten Bundesregierung gegenüber diesen Bürgern am Rand, 2021 hat sich ihre Anzahl vervielfacht.

Die Stadt liebt man oder sie hasst man oder beides. Aus vielen Gründen. Gründe sind bei längeren Spaziergängen viele zu sehen, so lautet ein erstes Fazit. Das Ernüchternde an dem ganzen Liebe-Hass-Dilemma ist, dass man die Stadt ja gar nicht hassen müsste, eine Kritik an ihr so klein und gering sein könnte, würden nur ein paar Stellschrauben anders gedreht. Die meiste Pein hat etwas mit Macht, mit Eigentum, mit Bildung und Kultur zu tun, mit der Achtsamkeit und dem Respekt füreinander, würde alles liebevoll und kraftvoll eingesetzt, wäre die Pein klein. Deutschland ist wohl Kulturnation, also auch Berlin als Hauptstadt Kulturstadt. Doch viel zu viel stimmt nicht, denn es ist so wie bei „Des Kaisers neue Kleider“, beim Kaiser eben, der nichts anhat, obschon es behauptet wird. Die Beobachtungen der Rundgänge geraten so wie das Sehen des Kindes von keiner Kleidung am Kaiser: Dreck statt Sauberkeit, Verwahrlosung statt Obacht, kaputte statt frohe Menschen, reiche Obszönität statt genügsamem, ästhetischem Wohlstand, lauter Untergang statt leise versöhnliche Töne. Tempo statt Gelassenheit, Druck, Druck, Druck.

Berlin als schönes Schaufenster eines Landes, als Schein, das gibt es allein man geht durch eine Stadt in schönerem Zustand. Äußerlich gibt es diesen Wohlstand in besseren Gegenden, an schönen Häusern. Sucht man den schönen Schein weiter, findet man Belege zunehmend hinter verschlossenen Türen und Toren und Quartieren von bessergestellten Berlinern, welche, die zunehmend abgeschottet, separiert, reserviert, exklusiv, extraordinär wichtig gehalten werden. Vor denen, die nicht exklusiv und bessergestellt sind.

Die meisten Berliner sind keine extraordinären Bürger. Einfache sind es, denen die Stadt aber gehören sollte. Diese Stadt ist jedoch einkassiert. Von wenigen. Zu sehen ist das an allen Ecken und Enden der Stadt, ja selbst dort, wo es dreckig ist. Denn dort, wo kein Kehrauto entlangfährt, wird das Geld gespart, welches anderswo den gentrifiziert geprägten, den politisch gehegten und gewollten immensen Wohlstand prägt. Vor dem Roten Rathaus sind die Pflaster blank, wenige Meter weiter am Alex unter den Gleiszugängen der U- und S-Bahn ist es kein Vergnügen, zu gehen. Luxuswohnanlagen sehen chic aus, öffentliche Parks und Spielplätze wirken zunehmend verwahrlost. Früher sagte Bürgermeister Wowereit, dass Berlin arm, aber sexy ist, jetzt müsste Müller sagen, dass Berlin reich und seelisch verwahrlost ist. In Kiezen wird nicht berlinert, gewählt deutsch und zunehmend englisch reden hingegen, hört man überall.

Der Rundgang wird fortgesetzt. Der Gedanke kommt in den Sinn: In Berlin fehlen Wohnungen, kein Platz sei da, wird behauptet. Doch vor und um das Neue Stadtschloss (wo einst der Palast der Republik stand) gibt es gleich dazu eine mehr als doppelt so große Fläche wie das Schlossgelände selbst, baumlos und Pflasterstein versiegelt als hitzespendende Freifläche. Ja, Wohnungen könnten hier einige Platz finden, gleich gegenüber dem Auswärtigen Amt und gleich gegenüber dem Stadtschloss ging es ja auch mit dem Luxuswohnbau. Und auch die Flächen um die neue, viel zu lang sanierte Nationalgalerie fallen üppig aus. Und die Flächen im Regierungssperrgebiet. Und weitere. Der politische Wille, der Wille von Eigentümern, von Investoren, von den Exklusiven allein – der fehlt.

Der Spaziergang neigt sich dem Ende. Berlin Mall. Nicht nur „die“, sondern noch mehr „Ihre“ (Kunden-)Gesundheit hat bei einem Laden die höchste Priorität. So steht es am Eingang einer Boutique in der als elegant und mondän konzipierten Berlin Mall an der Leipziger Straße. Die Mall, der Einkaufstempel, ist mit Hilfe vieler osteuropäischer Menschen erbaut worden. Arbeiter, die viele Monate lang auf ihren zudem zu niedrigen Lohn warten und letztlich teils gar verzichten mussten. Gesund war das nicht.

Der finale Gang durch den großen Park am Brandenburger Tor lässt einen in Gedanken weiterschweifen: Der Spaziergänger schreibt für sich so eine Art Brief an meine Berliner: Und darin die Ansage: Die Stadt verlassen, die Stadt Wenigen überlassen – das ist keine Lösung. Nein. Berliner! Reißt euch zusammen, haut auf den Tisch, habt die große Schnauze, wehrt euch, übernehmt die Stadt wieder. Macht sauber, kehrt den Dreck weg, lasst euch nicht gehen! Es stimmt: „Es herrscht Klassenkrieg, richtig, aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir gewinnen“, sagte der amerikanische Superreiche und Unternehmer Warren Buffett. Aber die Welt dreht sich weiter und die Karten können immer wieder neu gemischt werden. Berlin ist das Schaufenster der Nation. Es ist Zeit, die Auslagen auszutauschen.

Nachtrag. Bewusst ist kein Wort zu Pandemie, zu Maßnahmen, zu aktuellen Verhaltensregeln, zu Zuständen drumherum in diesen Monaten zu lesen. Denn sie sind ohnehin wie im ganzen Land zu erleben. Sie verstärkten nur noch die beschriebenen Eindrücke, die indes gültig auch ohne Pandemie sind. Schlimmer, sie werden durch die Pandemie noch verstärkt. Auch ohne Pandemie ist die Lage ernüchternd.

Angesprochene Medien u.a. Tagesspiegel, TAZ, Freitag, Berliner Zeitung.

Titelbild: Frank Blenz


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