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Titel: Abschreckung statt Integration – Symbol geplanten Versagens aus dem Hause Seehofer. 100.000 Zugewanderte aus Afghanistan in Deutschland mit prekärer Bleibeperspektive.

Datum: 23. August 2021 um 9:00 Uhr
Rubrik: Innen- und Gesellschaftspolitik, Strategien der Meinungsmache
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Dies ist ein Beitrag aus der Praxis eines Integrationsberaters. Er stammt von Reiner Siebert aus Duisburg. Danke vielmals für diesen mit Fakten belegten, erhellenden Text. Albrecht Müller.

Wenn es der Bundesregierung ernst wäre mit ihrem Bedauern über die von ihr verschuldete Ausweglosigkeit der Ortskräfte und ihrer Familien im taliban-dominierten Afghanistan, dann könnte sie das im Umgang mit Afghanen zeigen, die schon seit Jahren in Deutschland sind.

Doch das geschmacklose Fabulieren über Abschiebungen nach Afghanistan vor dem Zusammenbruch des vom Westen durch Militär, Dollars und Kumpaneien mit Verbrechern aller Art mühsam zusammengehaltenen Kartenhauses staatlicher Ordnung in Afghanistan bekamen wir – nachdem das Staatsversagen nicht mehr zu leugnen war – in Form eines Appells, 2015 dürfe sich „nicht wiederholen“, als „Wahlkampf“ serviert.

Dass humanitäre Hilfe und die vielzitierten Werte auf der Liste der Kriterien nicht oben stehen, macht schon ein Blick auf die seit Jahren in Deutschland lebenden Afghanen deutlich, die hautnah erleben, dass Sicherheit vor den Taliban und jahrelange Perspektivlosigkeit in Deutschland leider nah beieinander liegen. Nicht deren Integration, sondern Abschreckung weiterer Zuwanderung scheint das Leitmotiv der Zuwanderungspolitik spätestens seit 2016.

Die Zahl in Deutschland lebender Afghanen, mehr als ein Drittel davon Frauen, lag seit den neunziger Jahren, also auch während des ersten Taliban-Regimes, deutlich unter 100.000. Daran änderte auch die NATO-Intervention nach dem 11. September 2001 nichts. Erst ab 2015, als angetrieben durch die Kriege in Syrien und im Irak für mehr und mehr Geflüchtete im Nahen und Mittleren Osten auch die Nachbarländer nicht mehr sicher waren, stieg auch die afghanische Zuwanderung nach Deutschland an. Viele von ihnen kamen – gemeinsam mit persischen Flüchtlingen – aus dem Iran, wohin sie vor dem Bürgerkrieg einst geflohen waren. Eine Rückkehrperspektive nach Afghanistan hatten auch 15 Jahre NATO-Besatzung kaum jemandem verschafft. Schon eine genaue Betrachtung der Fluchtgründe, -ursachen und Hintergründe der afghanischen Fluchtbewegung ab 2015 hätte der Bundesregierung jede Überraschung über den Dominoeffekt vom August 2021 ersparen können, doch konzentrierte man sich jahrelang darauf, die Erfolge des Militäreinsatzes schönzureden, die Glaubwürdigkeit der Asylbegehren anzuzweifeln und den in Deutschland angekommenen Afghanen mit Verweis auf vermeintlich sichere Rückzugsorte in Afghanistan eine Bleibeperspektive zu verwehren.

Seit 2016 leben konstant gut eine Viertelmillion Afghanen in Deutschland. Seit mehr als 20 Jahren stabil niedrig ist allerdings die Zahl derer aus Afghanistan mit dauerhafter Bleibeperspektive, sie liegt konstant bei gerade einmal 5-6 Prozent. Ende 2020 sind das gut 16.000 Personen, die aufenthaltsrechtlich und beruflich als integriert gelten können, während gut 150.000 Menschen nur eine Aufenthaltserlaubnis auf Zeit haben. Doch selbst diese besitzen zum Jahresbeginn 2021 mehr als 100.000 Personen nicht, denn ihre Bleibeperspektive ist prekär: Sie haben eine Duldung, befinden sich in jahrelangen Asylverfahren, in monatelangen Antragsverfahren oder sind gänzlich ohne Status, mit gravierenden Auswirkungen auf die Integrationsmöglichkeiten und -förderungen.

Die Praxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Zulassung zu Integrationskursen an eine „gute Bleibeperspektive“ zu binden, hat Zigtausende (freilich nicht nur aus Afghanistan) teils jahrelang von Sprach- und Integrationsförderungen ausgeschlossen, mit entsprechenden Folgen für die berufliche Integrationsfähigkeit. Die Abhängigkeit von Sozialleistungen wird seit der letzten Verschärfung des Aufenthaltsrechts 2019 wieder verstärkt durch Arbeitsverbote staatlich herbeigeführt, wenn Geduldete ihre Identität nicht nachweisen können, weil keine ‚legalisierte‘ Geburtsurkunde verfügbar ist und damit kein Pass ausgestellt werden kann. Dabei gelten Geflüchtete aus Afghanistan als besonders bestrebt, eine Integration durch Arbeit zu schaffen, was allerdings zumeist nur im Niedriglohnsektor unter prekären Arbeits- und Lebensbedingungen gelingt.

Die restriktiven Änderungen und Anwendungen des Asyl- und Aufenthaltsrechts als ‚Abschreckungsmechanismus‘ haben dazu geführt, dass zahlreiche Afghanen dieser Tage in zweifacher Hinsicht Ängste ausstehen müssen: Einerseits die Sorge um Angehörige in Afghanistan und andererseits die Unsicherheit ihrer Bleibeperspektive in Deutschland.

Besonders prekär sind die Auswirkungen dabei in chronisch überschuldeten Kommunen wie Duisburg spürbar: Sie sind einerseits (wegen vergleichsweise niedriger Mietpreise) für Zugewanderte (ohne Wohnsitzauflage) attraktiv, was wiederum die Konkurrenz im Niedriglohnbereich und Wohnungsmarkt verstärkt; andererseits sind Städte wie Duisburg von der Umsetzung des Asyl- und Aufenthaltsrechts durch die kommunalen Ausländerbehörden erheblich überlastet, weil das Personal der Stadtverwaltung bei Weitem nicht ausreicht, die komplexen asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren zu bearbeiten. Mehr als 1.200 Duisburger:innen ohne deutschen Pass, ziemlich genau ein Prozent der ausländischen Bevölkerung, stammen aus Afghanistan, aber nur gut zwei Dutzend von ihnen haben eine dauerhafte Bleibeperspektive. 800 von ihnen müssen alle ein bis drei Jahre bei der Ausländerbehörde vorsprechen, 400 mehrmals pro Jahr (wie knapp 35.000 mit prekärem Aufenthaltsstatus aus allen Herkunftsländern).
Die Wartezeit auf einen Termin in der Duisburger Ausländerbehörde beträgt im August 2021 bis zu 6 Monate.

Wenn schon keine politische Verantwortung für das eklatante Versagen hinsichtlich der Rettung der Ortskräfte übernommen wird, sollte für Afghanen in Deutschland nun schnell und pauschal eine dauerhafte Bleibeperspektive geschaffen werden. Zurückkehren werden sie für lange Zeit nicht können, es sei denn, die Bundesregierung paktiert mit den Taliban, damit sie Abschiebungen ermöglichen. Das müssten unsere Grundwerte zwar verbieten, aber der Zweck könnte die Mittel wieder einmal heiligen, damit sich „2015 nicht wiederholt“. Was mit Libyen und dem Iran möglich ist, sollte dann auch bald mit Assads Syrien und dem afghanischen Emirat gelingen. Vielleicht könnten die Partner in Saudi-Arabien eine Vermittlerrolle einnehmen?


©Reiner Siebert, 20.08.2021
Reiner Siebert, Integrationsberater, Autor führt im Auftrag des ver.di-eigenen BiG-Bildungsinstituts das Integrationsbüro im DGB-Haus Duisburg. Als Lehrbeauftragter der Bildungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen erstellt und diskutiert er gemeinsam mit Studierenden Fallstudien zum Integrationsverlauf von Geflüchteten.


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