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Titel: Griechenland nach den Kommunalwahlen (I)
Datum: 22. November 2010 um 14:28 Uhr
Rubrik: Europäische Union, Griechenland, Länderberichte, Wahlen
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Die Kommunalwahlen vom 7. und 14. November sind ein geeigneter Anlass, um die Entwicklung der ökonomischen Krise, die Krisensymptome des politischen Systems und die Reaktionen der griechischen Gesellschaft etwas genauer einzuschätzen. Und das nicht nur, weil Ministerpräsident Giorgos Papandreou diese Wahlen zum potentiellen „Vertrauensbeweis“ für seine Politik der Krisenbewältigung ausgerufen hat. Nur einen Tag nach dem zweiten Wahlgang wurden die neuesten Zahlen veröffentlicht, die Eurostat für das griechische Haushaltsdefizit des Jahres 2009 ermittelt hat. Das belief sich auf 15,4 des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und nicht auf 13,6 Prozent wie bisher angenommen. Ebenfalls am 15. November traf in Athen die Delegation der „Troika“ (EU-Kommission, EZB und IWF) ein, die mit der griechischen Regierung unter anderem zu diskutieren hat, wie sich die um 1,8 Prozent nach oben korrigierte Staatschuld auf Haushaltsplanung und Verschuldung für 2010 und die darauffolgenden Jahre auswirkt. Von Niels Kadritzke
Zunächst seien die wichtigsten Ergebnisse der Kommunalwahlen dargestellt.
Für die Regierungspartei lässt sich das Ergebnis in einem Satz zusammenfassen: Mit den Stimmen von etwa 21 Prozent der Wahlberechtigten wurde sie zwar „stärkste Partei“, unterlag aber klar dem Block der Nicht- und Protestwähler.
Ein „Vertrauensbeweis“ für das Stabilitätsprogramm der Regierung, den Papandreou schon nach dem ersten Wahlgang erkennen wollte, sieht anders aus. Auch die Erfolge in den Stichwahlen – etwa in Attika, Athen und Thessaloniki – bedeuten keinesfalls ein Votum für das Regierungsprogramm, wie es Papandreou von den Wählern vor den Wahlen gefordert hatte. Denn weder in Athen noch in Thessaloniki hätte die Pasok das Bürgermeisteramt gewonnen, wenn sie einen Parteikandidaten aufgestellt hätten.
In Athen gewann der parteilose, hoch geachtete Giorgos Kaminis, der sich als langjähriger Ombudsman („Anwalt der Bürger“ genannt) im Kampf gegen die Korruption ausgezeichnet hatte. Zudem wurde Kaminis von der Öko-Partei und der kleinen „Demokratischen Linken“ unterstützt. Das gilt auch für den Sieger von Thessaloniki: Yannis Boutaris, einen grün engagierten Unternehmer, der sich wie Kaminis als scharfer Kritiker der korrumpierten Parteien- und Klientelstaats hervorgetan hat. Boutaris wurde im Übrigen von der Pasok nur halbherzig unterstützt. Als der orthodoxe Bischof von Thessaloniki erklärte, solange er Kirchenoberhaupt sei, werde Boutaris niemals als Bürgermeister amtieren, verteidigte die Pasok „ihren“ Kandidaten mit keinem Wort gegen den ultra-chauvinistischen „despotis“ (wie der Bischofstitel auf griechisch heißt).
Die Regierungspartei kann sich zwar zugute halten, diese beiden wahrhaft „unabhängigen“ Kandidaten unterstützt zu haben, aber deren Sieg beweist keineswegs das Vertrauen in die Regierung Papandreou, sondern viel eher das Misstrauen gegen die alte Parteienherrschaft von Pasok und ND. Das zeigt sich auch darin, dass die Pasok ausgerechnet in ihrer Hochburg Piräus ihren Parteikandidaten nicht durchbringen konnte. Hier siegte die ND, weil der nach dem 1. Wahlgang noch führende Pasok-Kandidat in der Stichwahl keine zusätzlichen Wähler mobilisieren konnte.
Warum Papandreou die November-Wahlen überhaupt zum plebiszitären Vertrauensvotum für die Krisenpolitik seiner Regierung stilisiert hat, ist vielen Beobachtern in Athen ein Rätsel geblieben. Da die Stimmung im Lande auch der Regierung bekannt war, hätte man eher erwartet, dass sie die Bedeutung der kommunalen Abstimmungen herunterspielt. Stattdessen drohte Papandreou Anfang November für den Fall eines unangenehmen Wahlresultats ganz offen mit Parlamentswahlen.
Diese Drohung wurde von vielen Wählern als „Erpressung“ empfunden und dürfte die Wahlabstinenz eher verstärkt haben. Tatsächlich hatte Papandreous „Ultimatum“ kurz vor den Wahlen nur einen Adressaten: die Pasok-Stammwähler, von denen nach parteiinternen Umfragen weniger als die Hälfte zu den Urnen gehen wollten. Aus der Parteiführung war sogar die Interpretation zu hören, Papandreou habe speziell die Pasok-Gefolgschaft in Attika mobilisieren wollen. Dort zeigten die Umfragen noch Ende Oktober den unabhängigen Kandidat Yiannis Dimaras in Führung. Dieser ehemalige Pasok-Abgeordnete hatte im Mai 2010 im Parlament gegen das Sparprogramm seiner Regierung gestimmt hatte und war daraufhin aus der Partei ausgeschlossen worden. Hier drohte die Gefahr, dass der Pasok-Kandidat Yiannis Sgouros nicht einmal die Stichwahl erreichen würde.
Nachdem Sgouros im ersten Wahlgang den Dissidenten Dimaras aus dem Rennen werfen konnte, streute Papandreous Umgebung die Einschätzung, nur die Drohung mit Neuwahlen habe die Pasok-Basis mobilisiert und der Partei eine große Blamage erspart. Diese kaum beweisbare Behauptung beinhaltet ein bemerkenswertes Eingeständnis: Offenbar war die Abneigung der Pasok-Anhänger gegen Neuwahlen der beste Ansatzpunkt, um sie bei den – politisch weitgehend unverbindlichen – Kommunalwahlen an die Urnen zu bringen. Mit anderen Worten: Die Regierung hat die Angst des eigenen Lagers vor einem echten Vertrauenstest in einen Vertrauensbeweis umgemünzt. Diese akrobatische Argumentation steht exemplarisch für die Paradoxien des griechischen politischen Systems im Zeitalter der Krise.
Der Zustand dieses politischen Systems lässt sich so zusammenfassen:
Diese Abhängigkeit von den „Finanzmärkten“ wird der griechischen Gesellschaft und ihrer politischen Klasse in beklemmender Regelmäßigkeit vorgeführt. Das letzte Mal ironischerweise bei dem erwähnten Versuch Papandreous, seinen Anhang mit der Drohung von Neuwahlen zu mobilisieren: Als der Regierungschef am Abend des 7. November diese Drohung mit der Begründung zurücknahm, er habe bereits im ersten Wahlgang das nötige „Vertrauensvotum“ gespürt, wusste alle Welt, dass der Grund ein ganz anderer war: Die Aussicht auf Neuwahlen ließ den Spread für griechische Staatspapiere (das heißt: die Zinsdifferenz zu deutschen Bundesanleihen) bis knapp unter die 10-Prozent-Marke steigen, die er im Mai 2010 überschritten hatte. Mit seiner Absage an Neuwahlen reagierte Papandreou also nicht auf das Vertrauen des griechischen Wählers, sondern auf das Misstrauen der „Finanzmärkte“, für die griechische Neuwahlen ein Alptraum sind.
Fünf Tage später veröffentlichte die Wirtschaftsagentur Bloomberg das Ergebnis einer Umfrage unter über 1030 Finanzakteuren und –experten. Demnach hielten Anfang November 71 Prozent der Befragten einen griechischen Staatsbankrott für wahrscheinlich, vier Prozent mehr als einen Monat zuvor. Selbstverständlich kannten „die Finanzmärkte“ zu diesem Zeitpunkt schon längst die Zahlen, die am 15. November, einen Tag nach dem zweiten Wahlsonntag in Griechenland, von Eurostat in Luxemburg offiziell gemacht wurden: Das Defizit im griechischen Haushaltsjahr 2009 belief sich nicht auf 13,6 Prozent, wie bisher angenommen, sondern auf 15,4 Prozent. Was das für die Sparpolitik der Regierung Papandreou und ihre Verhandlungen mit der Troika bedeutet, wird im nächsten Beitrag zu untersuchen sein.
Niels Kadritzke, Jahrgang 1943, ist Redakteur der deutschen Ausgabe von „Le monde diplomatique“. Der studierte Politikwissenschaftler und Soziologe war zuvor u.a. Ressortleiter Ausland der 1996 eingestellten „Wochenpost“, freier Journalist, Dozent an der FU Berlin, Lektor bei Rotbuch und Übersetzer.
Sein Interesse gilt vor allem dem Nahen Osten und Südosteuropa; seine Kenntnisse über diese Regionen bringt er in die Arbeit für ROG ein.
Quelle zur Autorenangabe: Reporter ohne Grenzen
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=7429