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Titel: Wenn es nicht notwendig ist, Maßnahmen zu verhängen, dann ist es notwendig, sämtliche Maßnahmen aufzuheben

Datum: 13. Juli 2021 um 10:14 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Innen- und Gesellschaftspolitik
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Der Sommer der Lockerungen scheint sich dem Ende zu nähern. Mit Verweis auf andere europäische Staaten und die Delta-Variante geben die Medien bereits wieder ihr Bestes, den Alarmpegel höher zu hängen. Auch wenn es in der Politik erste Ansätze einer zielführenderen Debatte gibt, bleibt eine entscheidende Frage meist ausgespart: Welche Legitimation hat der Staat eigentlich, wegen einer Infektionskrankheit derart massiv in unser Leben einzugreifen? Die Begründungen des letzten Jahres sind durch die Impfkampagne nun weggefallen. Die vierte Welle – und sie wird kommen – wird zwar höhere Infektionszahlen mit sich bringen und die üblichen Karten einmal mehr dunkelrot einfärben – ein Blick auf unsere Nachbarländer zeigt jedoch, dass dies nicht mit überfüllten Krankenhäusern oder Tausenden Toten einhergehen wird. Daher muss die Frage der Verhältnismäßigkeit bestehender und drohender neuer Maßnahmen neu gestellt werden. Und das lieber heute als morgen. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Großbritannien ist das neue Schweden. Die britische Regierung lässt die Corona-Maßnahmen bereits seit vielen Wochen herunterfahren und hält felsenfest an ihrem Plan fest, nahezu alle Maßnahmen am 19. Juli auslaufen zu lassen. Deutsche Medien halten das „angesichts der Infektionszahlen“ für „unverantwortlich“. Premier Johnson spricht von einem „Freedom Day“, einem Tag der Freiheit. Zumindest was die Rahmenbedingungen angeht, ist Großbritannien Deutschland mehrere Wochen voraus und eignet sich daher durchaus für einen Blick in die Zukunft.

Schaut man sich nur die Infektionszahlen an, muss man in der Tat feststellen, dass Großbritannien sich mitten in der „vierten Welle“ befindet. Die täglichen Neuinfektionen liegen mit über 30.000 pro Tag über den Werten aus dem letzten Herbst und die um Newcastle gelegene Region North East musste am Wochenende mit einer Inzidenz von über 800 einen der höchsten Werte der gesamten Pandemie vermelden. Gemäß der „Inzidenzlogik“, die in allen europäischen Staaten seit über einem Jahr die Corona-Politik lenkte, müsste man nun wohl über einen harten Lockdown nachdenken. Doch das wäre nicht zielführend, da die in Großbritannien weit fortgeschrittene Impfkampagne dafür gesorgt hat, dass sich kaum mehr Angehörige der sogenannten Risikogruppen infizieren. Die Neuinfektionen verteilen sich zu einem Großteil auf junge gesunde Menschen, die durch die Lockerungen ihre soziale Mobilität wiedergewonnen haben.

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Nun ist es aber für die Bewertung etwas vollkommen anderes, ob sich ein 20-Jähriger im Pub oder ein schwerkranker 90-Jähriger im Altenheim infiziert. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Covid-19 ist eine Erkrankung, deren Gefahrenpotential extrem abhängig von Risikofaktoren wie Alter und Vorerkrankungen ist. Die sogenannte zweite Welle hat in Großbritannien wie in Deutschland nur deshalb so viele schwere und auch tödliche Verläufe mit sich gebracht, weil sich unglaublich viele Hochbetagte und schwer Vorerkrankte mit dem Virus infizierten. Diese Personengruppe hat jedoch nun ihr Impfangebot erhalten und zumindest in Großbritannien wurde dieses Angebot von den Angehörigen der Risikogruppen auch angenommen – mehr als 90 Prozent der über 70-jährigen Briten sind heute geimpft. Ihr Infektionsrisiko ist dadurch massiv gesenkt und wenn sie sich doch infizieren, verläuft die Erkrankung in den allermeisten Fällen milde. Nur wenige Geimpfte müssen ins Krankenhaus oder versterben gar an der Krankheit. Und daher muss Großbritannien derzeit auch trotz vierter Welle und Rekord-Inzidenzen nur etwas mehr als zwanzig Todesfälle pro Tag vermelden und die Situation in den Krankenhäusern ist vollkommen entspannt.

Neuinfektionen
Quelle: FT-Chart-Tool

Sterbefälle
Quelle: FT-Chart-Tool

Und was für Großbritannien gilt, gilt genauso für andere europäische Staaten, in denen die Infektionszahlen in den letzten Wochen massiv gestiegen sind. Nun kann man von Boris Johnson halten, was man will; aber wenn er auf Basis dieser Zahlen keinen Grund mehr sieht, massive Einschränkungen zu verhängen, und sein Land zur Normalität zurückführen will, ist dies in der Sache durchaus begründet.

Die Begründungen sind weggefallen

Einschneidende Maßnahmen, die stets auch Kollateralschäden mit sich bringen, müssen gut begründet und stets verhältnismäßig sein. Als Begründung für die Maßnahmen wurde seitens der Politik stets vor allem der Schutz „vulnerabler Personen“ genannt. Nun ließe sich vortrefflich darüber streiten, was es mit dem Schutz vorerkrankter hochbetagter Menschen zu tun haben soll, wenn Jugendliche sich nicht mehr im Park treffen, junge Erwachsene nicht mehr auf Live-Konzerten abfeiern dürfen und Kitas sowie Schulen geschlossen werden. Aber an dieser Stelle soll es nicht um die Fehler der Vergangenheit, sondern um die Zukunft gehen. Spätestens mit dem Tag, an dem jede „vulnerable Person“ ihr Impfangebot bekommen hat, ist die beliebteste aller Begründungen de facto weggefallen. Wer sich gegen die möglichen Folgen einer Infektion schützen will, kann dies heute tun. Und wer sich – was vollkommen in Ordnung ist – anders entscheidet, der geht dieses individuelle Risiko als verantwortungsbewusster Bürger wissentlich ein.

Es ist jedem selbst überlassen, welche Risiken er eingeht, solange er niemanden damit schädigt. Der eine liest in seiner Freizeit Bücher, der andere erklimmt Felswände oder fährt Motorrad. Man mag als Impfbefürworter ja gerne Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, für unvernünftig halten. Aber es gibt nun mal auch ein Recht auf Unvernunft. Auch Übergewichtige, Raucher oder Freunde riskanter Sportarten und Hobbys haben ein höheres individuelles Risiko für bestimmte Krankheiten. Der Staat kann hier informieren und Rahmenbedingungen setzen. Es ist aber nicht die Aufgabe des Staates, hier maßregelnd einzugreifen und schon gar nicht dann, wenn durch diesen Eingriff Unbeteiligte maßgeblich geschädigt werden – und genau das ist bei den Maßnahmen zweifelsohne ja der Fall.

Als zweite Begründung für die Maßnahmen wurde gerne auch der Schutz des Gesundheitssystems vor einer Überlastung genannt. Auch hier müsste man eigentlich weiter ausholen und die Frage stellen, warum die Politik durch ihren Privatisierungs- und Einsparungswahnsinn erst eine Situation schafft, die auch ganz ohne Corona zu Überlastungen führt. Doch auch hier soll es nicht um die Fehler im System und den prekären Normalzustand, sondern konkret um die Bewertung einer Notwendigkeit von Corona-Maßnahmen gehen. In einer Situation, in der geimpfte Ältere und nichtgeimpfte Jüngere meist nur leicht erkranken, ist das Szenario einer coronabedingten Überlastung des Gesundheitssystems kein Thema. Stand gestern sind in Deutschland gerade einmal 433 Intensivbetten mit Patienten belegt, die positiv auf das Sars-CoV-2-Virus getestet sind. Die Zahlen aus Großbritannien und anderen Ländern mit höherer Impfquote in den Risikogruppen zeigen, dass sich daran auch durch hohe Neuinfektionszahlen nichts maßgeblich ändert. Damit fällt auch diese Begründung weg.

Eine Frage der Verhältnismäßigkeit

Bleibt die eher theoretische Begründung aus der „No-Covid“-Gedankenwelt, man könne das Virus durch eine Art harten Dauerlockdown ausmerzen. Diese Idee erhielt aufgrund der zeitweise niedrigen Inzidenzen in Europa und immer noch niedrigen Inzidenzen in Deutschland ja bedauerlicherweise wieder Rückenwind. Doch auch hier zeigt ein Blick in unsere Nachbarländer, dass dies nicht möglich ist; zumindest dann nicht, wenn man die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen nicht komplett ignoriert. Und da jede Maßnahme auch Schäden an anderer Stelle verursacht, muss man hier die Frage der Verhältnismäßigkeit in den Mittelpunkt stellen. Warum sollte man massive Kollateralschäden in Kauf nehmen, nur um ein Virus, das uns ohnehin sehr lange, wahrscheinlich sogar für immer, erhalten bleibt, das aber dank der Immunisierung der Risikogruppen keine sonderlich ernsthafte Gefahr mehr darstellt, zeitweise zurückzudrängen? Niemand käme bei den Influenza-, den Rhino- oder den „normalen“ Corona-Viren auf die Idee, sie durch Maßnahmen, die an anderer Stelle Schäden verursachen, zurückzudrängen.

Und wir sprechen hier nicht über Befindlichkeiten. Es geht auf der einen Seite um die Beschneidung von Grundrechten. Und auf der anderen Seite geht es um soziale, ökonomische, pädagogische, psychologische und auch gesundheitliche Schäden. Dies wird immer gerne bei den virologischen Planspielen vergessen. Grundrechte dürfen nicht willkürlich eingeschränkt werden und wer massive Schäden auf anderen Feldern in Kauf nimmt, sollte klar erklären, welchen Schaden an anderer Stelle er damit abzuwenden gedenkt. Auch hierbei soll es jetzt nicht um die Fehler der Vergangenheit gehen. Darüber muss man zwar diskutieren, aber man könnte sich dabei leicht verheddern. Blicken wir also auf die Gegenwart. Wenn die Gefahren durch das Virus überschaubar sind, gibt es weder einen Grund, die Grundrechte einzuschränken, noch einen Grund, Maßnahmen zu verhängen, die ihrerseits an anderer Stelle einen unverhältnismäßigen Schaden verursachen.

Der Staatstheoretiker Montesquieu fasste die Grenzen staatlicher Gesetzgebung einmal mit dem schönen Satz zusammen. „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen“. Frei nach Montesquieu muss man heute sagen: „Wenn es nicht notwendig ist, Maßnahmen zu verhängen, dann ist es notwendig, sämtliche Maßnahmen aufzuheben“. Mit dem Wegfall der Begründungen, und damit der Verhältnismäßigkeit, wäre ein Festhalten am Ausnahmezustand pure Willkür. Es wird Zeit, dass die Politik dies endlich begreift.

Titelbild: Vladimir Ermolin/shutterstock.com


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