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Titel: Arbeits-Armut, Renten-Armut: Bisheriger Höchststand in Deutschland
Datum: 12. Juli 2021 um 9:17 Uhr
Rubrik: Agenda 2010, Aktuelles, Audio-Podcast, Ökonomie, Privatisierung, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Redaktion
Eine Bilanz der Ära Merkel: Die Verschärfung des Arbeits-Unrechts nach der Agenda 2010, die Schützenhilfe für US-Investoren, die ungleiche Behandlung der Ostdeutschen und die Spaltung Deutschlands. Dies ist Teil eins von zwei. Von Werner Rügemer.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Die Agenda 2010 des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder wurde ab 2005 unter der CDU-Kanzlerin Angela Merkel verschärft fortgeführt: Unregulierter Ausverkauf an Kapitalorganisatoren wie Blackstone, BlackRock & Co, noch mehr menschenrechtswidrige Arbeits- und Rentenarmut, zudem europaweit. Zu dieser Politik gehören systemisch mehr Hetze gegen inszenierte äußere Feinde und noch mehr Aufrüstung. Eine neue demokratische Opposition ist nötig, in Deutschland und in der ganzen EU. Wir konzentrieren uns hier auf das größte Tabu, also den Bereich, zu dem es in Beziehung zu Merkel und zur EU so gut wie keine systemische öffentliche Kritik gibt: Die Arbeitsverhältnisse – auch weil sie der wesentliche Grund der politischen Rechtsentwicklung sind.
Verschärfte Fortführung der Agenda 2010
Die 1998 gebildete Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder/SPD und Vizekanzler Josef Fischer/Grüne hatte mit ihrer Agenda 2010 zwei wesentliche Programme:
* Die „Entflechtung der Deutschland AG“, also der erleichterte Aufkauf deutscher Unternehmen durch ausländische – vorrangig US-amerikanische – Finanzakteure, die Verbilligung und Entrechtung der abhängigen Arbeit, also die vier Hartz-Gesetze mit befristeter, Teilzeit- und Leiharbeit sowie der Disziplinierung der Arbeitslosen.
Diese beiden Elemente der Agenda 2010 bildeten eine logische Einheit: Kapitalisten stärken, abhängig Beschäftigte schwächen.
Dabei bleibt bis heute unterbelichtet, dass die damalige Opposition im Bundestag aus CDU, CSU und FDP der Agenda 2010 freudig zustimmte, einerseits. Und dass andererseits ab 2005 unter der Dauerkanzlerin Angela Merkel/CDU die Agenda 2010 nicht nur fortgeführt, sondern menschenrechtswidrig weiter verschärft und durch die Corona-Politik noch beschleunigt wurde.[1]
Merkel: Deutschland = größter Niedriglohnsektor in Europa: „Wir haben den größten Niedriglohnsektor in der EU geschaffen“, so rühmte sich Schröder nach seiner Amtszeit. Aber unter Merkel wurde der deutsche Niedriglohnsektor noch viel größer, durch neue Formen prekärer Arbeitsverhältnisse und auch durch Millionen befristeter, halblegaler und auch illegaler Migranten und Migrantinnen.
Die Regierungs“kunst“ mit der Politikdarstellerin und christlich lackierten Betschwester Merkel („Uns geht es allen gut“) bestand auch darin, diese Verschärfung und Ausweitung fast unsichtbar bleiben zu lassen. Schröder rühmte sich des größten Niedriglohnsektors, Merkel machte ihn noch größer, still und leise, effektiv.
Die „Heuschrecken“ legten unter Merkel erst richtig los
Unter Kanzler Helmut Kohl/CDU und Finanzminister Theodor Waigel/CSU war das Unternehmens-, Boden- und Immobilienvermögen der Ex-DDR an westliche Investoren verscherbelt worden. Mit der Agenda 2010 wurde der Ausverkauf auf das Territorium der alten BRD erweitert.
Zunächst: Heftige Kritik an den „Heuschrecken“-Investoren. So förderten Schröder/Fischer den Einstieg der neuen, deregulierten Kapitalakteure aus den USA. Zuerst waren das die Private-Equity-Investoren wie Blackstone (Schwarzer Stein, noch nicht BlackRock, der Schwarze Fels), KKR, Carlyle, Texas Pacific Group, Permira, Fortress, Cerberus, Apax und etwa 50 andere aus New York und Houston, oft über ihre Filialen in der City of London.
Diese aggressiven Investoren kauften reihenweise öffentliche Wohnungsgesellschaften des Bundes, der Bundesländer, der Kommunen, auch Werkswohnungen, auch staatliche Unternehmen wie Duales System (Grüner Punkt) und die Bundesdruckerei, kauften vor allem hunderte der besten, nicht an der Börse gelisteten Unternehmen wie Nixdorf, Telenorma, Beru (Zündkerzen), Dynamit Nobel, Demag (Kräne), Gerresheimer Glas, Celanese (Chemie), ATU (Autowerkstätten), MTU (Triebwerke), Grohe (Bad-Armaturen).
Hunderte dieser Firmen wurden „restrukturiert“: Löhne wurden eingefroren, Beschäftigte wurden entlassen, Betriebsräte rausgemobbt, Abteilungen wurden verkauft oder geschlossen, Immobilien wurden verkauft und teuer zurückgeleast. Den Firmen wurden Schulden aufgebürdet, aus denen sich die Investoren Gewinne auszahlen ließen.[2]
Antisemitismus-Vorwurf: Die Kritik verstummt. An diesem brutalen Vorgehen übten in den ersten Jahren auch führende Unternehmer-Postillen wie Handelsblatt, Wirtschaftswoche, FAZ und ZEIT viel Kritik. Doch dann hörte die Kritik schlagartig auf: Als der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering die Investoren aus den USA als „Heuschrecken“ anprangerte, die über das Land herfallen, es leerfressen und dann weiterziehen – da schwenkten dieselben Medien um, angefeuert vom FDP-Vorsitzenden Westerwelle, und prangerten die Kritiker als „Antisemiten“ an: Investoren würden als Tiere dargestellt werden, wie bei den Nazis. Müntefering und seine SPD verstummten. Seitdem und bis heute konnten und können Blackstone & Co in aller massenmedialen Beschweigung ihr Werk verrichten: Die Kritik war verstummt – und unter Merkel ab 2005 griffen die „Heuschrecken“ erst richtig zu.
„How Merkel and Blackstone changend german capitalism“: Merkel ging gleich zu Beginn gezielt auf die „Heuschrecken“ zu. Nur ein Beispiel: 2006 holten Merkel und ihr SPD-Finanzminister Peer Steinbrück den größten Private-Equity-Investor, Blackstone, als neuen Großaktionär in die Deutsche Telekom AG. Blackstone-Chef Stephen Schwarzman gehörte zu denen, die sich durch die „Heuschrecken“-Kritik zutiefst beleidigt fühlten. Er sollte beruhigt werden, wurde anderen Investoren vorgezogen. Er sollte mit seinen aggressiven Methoden das privatisierte ehemalige Staatsunternehmen weltmarktfähig machen.
Blackstone kaufte zur Schonung der SPD und der in der Telekom stark vertretenen Gewerkschaft verdi gegen die sonst üblichen Praktiken nur 4,5 Prozent der Aktien. Aber die Merkel-Regierung als Vertreter des Hauptaktionärs Staat unterstützte Blackstone unter der Hand. Blackstone hatte zudem die Aktien mithilfe von Krediten der Deutschen Bank gekauft – die Bundesregierung übernahm aus der Telekom-Kasse jährlich die Zinszahlung von 138 Millionen. Bundestag und Öffentlichkeit erfuhren nichts. Gegen den hilflosen Protest von verdi zog Blackstone die Entlassung des bisherigen Vorstands durch, 50.000 Beschäftigte wurden mit Lohnsenkung und Arbeitszeiterhöhung um vier Stunden pro Woche in die neue Tochterfirma T-Service ausgegliedert – Protest und Streik von verdi hatten gegen die Blackstone-Merkel-Steinbrück-Verschwörung keine Chance.
Ähnlich ging die Regierung in den anderen privatisierten Unternehmen vor, in denen der Staat noch wichtige Aktien hält, wie Deutsche Post DHL: Ausdrücklich überlässt die Regierung den weiteren Aktionären wie BlackRock & Co die Regie. Die Investoren hatten bei der Telekom freie Bahn, mit Abwesenheit der Politik und der Leitmedien. Die Financial Times, die als Einzige die Hintergründe schilderte, bilanzierte nach zwei Jahren:
„Private Equity: Wie Merkel und Blackstone den deutschen Kapitalismus veränderten.“
Merkel sprach öffentlich nicht darüber, auch nicht in der Folgezeit. Umso mehr konnten die „Heuschrecken“ zugreifen. Bis 2020 wurden in Deutschland etwa 10.000 lukrative Mittelstands-Unternehmen aufgekauft, „restrukturiert“, verwertet. Hunderttausende Arbeitsplätze wurden abgebaut, teilweise ersetzt durch prekäre Arbeitsverhältnisse. Das betraf zuletzt etwa den bekannten Küchengerätehersteller WMF und die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK).
Private-Equity-Investoren kaufen Reha-Kliniken, Altenheime, Labore. Ein besonders beliebtes Feld war und ist der Gesundheits- und Pflegebereich. Die Privatisierung großer Krankenhäuser und die Bildung privater Ketten wie Helios wurde unter Merkel beschleunigt. Seit 2019 folgten die Bundesregierung und besonders die NRW-Regierung mit Parteifreund Armin Laschet brav dem Plan der Bertelsmann-Stiftung zur Schließung weiterer Krankenhäuser.
Kaum bekannt ist das entfesselte Treiben der „Heuschrecken“ unter den Merkel-Regierungen im Gesundheits- und Pflegebereich unterhalb der großen Krankenhäuser:[3]
Prekäre Arbeitsverhältnisse, Arbeitsstress, Unterversorgung der Patienten, Beratung durch McKinsey und Union-Busting-Kanzleien: Das gehört in diesem Milieu zum Standard.[6]
Alle von Merkel geführten Regierungen mit ihren Gesundheitsministerinnen und -ministern Ulla Schmidt (SPD), Philipp Rösler und Daniel Bahr (beide FDP), Hermann Gröhe und Jens Spahn (beide CDU) sowie mit ihren Arbeitsministerinnen und -ministern Franz Müntefering und Olaf Scholz (beide SPD), Franz-Josef Jung und Ursula von der Leyen (beide CDU) und wieder von der SPD Andrea Nahles und Hubertus Heil – sie alle vollzogen das mit. Und alle diese angeblichen Freunde der Gesundheit und gerechter Arbeitsverhältnisse schweigen dazu bis heute, gedeckt von Merkel.
Nach der Finanzkrise die ganz Großen: BlackRock&Co
Die „Heuschrecken“ litten in der Finanzkrise ab 2007 an ihren hohen Schulden, ebenso die meisten deutschen Unternehmen: Das war der Einstieg für die erste Liga der neuen, unregulierten Investoren: BlackRock, Vanguard, State Street, Capital, Norges&Co.
Sie kauften sich nach den „Heuschrecken“ auch in die großen Aktiengesellschaften ein, sind jeweils zu mehreren in allen 30 DAX-Konzernen und in einigen hundert weiteren Großunternehmen präsent. Sie arrangieren aktuell z.B. die Zerschlagung von ThyssenKrupp und die Fusion von Bayer und Monsanto mit dem Abbau vieler tausend Arbeitsplätze. Diese Kapitalorganisatoren sind beispielsweise auch gleichzeitig Aktionäre in den fünf größten Wohnungskonzernen in Deutschland: Vonovia, Deutsche Wohnen, LEG, TAG und Grand City Properties.
BlackRock-Vertreter trafen außerhalb der Öffentlichkeit die Finanzminister Schäuble und Scholz, den Außenminister Gabriel, zwischendurch auch deren Staatssekretäre, begleitet vom obersten BlackRock-Lobbyisten in Deutschland, Friedrich Merz. Nach dem Mittelstand wurde auch die Top-Liga der Unternehmen in Deutschland umgekrempelt – die Komplizin Merkel schweigt wieder.
„Arbeitnehmer sind zu fremdbestimmter Arbeit verpflichtet“
Zugunsten dieser neuen Eigentümer verschärften und erweiterten die Merkel-Regierungen die vier Hartz-Gesetze gleichzeitig. Um ihre Haltung zu verdeutlichen, beschloss die Merkel-geführte Mehrheit 2017 im Bundestag die rechtliche Neufassung des Arbeitsvertrags:
„Durch den Arbeitsvertrag wird der Arbeitnehmer im Dienste eines anderen zur Leistung weisungsgebundener, fremdbestimmter Arbeit in persönlicher Abhängigkeit verpflichtet. Das Weisungsrecht kann Inhalt, Durchführung, Zeit und Ort der Tätigkeit betreffen.“
So steht es nun im Bürgerlichen Gesetzbuch BGB § 611a Arbeitsvertrag. Fremdbestimmt, persönliche Abhängigkeit: Das ist die klassenmäßig bestimmte, untergeordnete Stellung des abhängig Beschäftigten, also der großen Mehrheit der Bevölkerung. Darüber nuschelt sich die Kanzlerin mit Floskeln wie „Uns allen geht es gut“ hinweg. Und so sehen auch die Gesetze und Praktiken aus, die für die Arbeitsverhältnisse im Merkel-Land gelten.
„Menschenrechte sind linke Ideologie“
Das gilt etwa für das aktuelle Lieferketten-Gesetz: Nach Vorgaben der UNO sollen Unternehmen für Menschenrechtsverstöße entlang ihrer gesamten Produktions- und Dienstleistungskette haften. Das betrifft vor allem die allerschlimmsten Verstöße wie Kinder-, Sklaven- und Zwangsarbeit, vorenthaltene Löhne, tödliche Arbeitsunfälle, verhinderte Mindestlöhne und Kollektivverhandlungen und auch den Entzug von Land, Wäldern und Gewässern.
Aber das sei „linke Ideologie“, so Wolfgang Steiger, Generalsekretär des CDU-Wirtschaftsrats im Unternehmer-Blättchen FAZ. Ergebnis:
Der Begriff „Lieferketten“-Gesetz ist somit weitgehend eine Täuschung, blendet die Lieferketten in der EU sowieso aus und gibt globalem Arbeits-Unrecht ein verrechtlichtes Gesicht.
Die Fachminister Heil (Arbeit) und Müller (Entwicklung) in einer Merkel-Regierung haben, wenn es drauf ankommt, nichts zu sagen: Entscheidend ist der CDU-Wirtschaftsrat mit Vizepräsident Friedrich Merz.
Gespaltenes Deutschland
Die Merkel-Regierungen trugen dazu bei, dass abhängig Beschäftigte in der angeschlossenen, aufgekauften Ex-DDR bis heute einen niedrigeren Status beibehalten. Und ebenso wurden auch in der alten Bundesrepublik die rechtlichen, sozialen und finanziellen Klassenunterschiede vertieft.[7]
Ostdeutschland: Verfassungsbruch und Niedriglöhnerei
Laut Einigungsvertrag von 1990 muss die Bundesrepublik ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch beschließen. Ein solches gab es in der DDR (wie in einigen anderen westlichen Staaten), während in der BRD die Arbeitsrechte auf drei Dutzend verschiedene Gesetze verstreut sind (Betriebsräte, Mitbestimmung, Kündigung, Arbeitszeit, Hartz I – IV, Mindestlohn, Behinderung…) und damit den Beschäftigten die Kenntnis ihrer Rechte erschwert wird.
Aber auch 31 Jahre nach der Vereinigung gibt es das Arbeitsgesetzbuch immer noch nicht, genauso wie die im Grundgesetz geforderte Volksabstimmung über eine neue Verfassung. Viele vor allem junge Beschäftigte mussten auswandern, und diejenigen, die blieben, werden schlechter bezahlt, haben eine noch geringere betriebliche und gewerkschaftliche Vertretung: Keine Gleichheit vor dem Gesetz. Ostdeutschland wurde unter Merkel, die aus der DDR kam, weiter als innerdeutsche modernisierte Kolonie gestaltet. So liegt der durchschnittliche Stundenlohn in Ostdeutschland um 6 Euro niedriger als in Westdeutschland, so der „Einheits“bericht 2021 der Bundesregierung.
Das ist aber keine ostdeutsche Besonderheit. Auch in Westdeutschland wurde unter Merkel die Mehrheit der Beschäftigten rechtlich und finanziell herabgestuft. Wir skizzieren der Kürze halber eine Auswahl von Gesetzen, vor allem aus den letzten Jahren.
Gesundheitsbereich: Abbau von Arbeitsplätzen mit Unterbezahlung
Die Corona-Politik hat die katastrophale, gesundheitsfeindliche Situation im Gesundheits- und Pflegebereich offenbart: In der Ära Merkel wurden die Privatisierungen nicht nur bei Autobahnen und beim bisher öffentlichen, auch kommunalen Verkehr (Personen-Beförderungs-Gesetz 2011, aufgrund von EU-Verordnungen) vorangetrieben, sondern, wie bereits geschildert, auch bei Krankenhäusern, Pflegeheimen, Reha-Kliniken, Laboren und sonstigen medizinischen Dienstleistungen. Gesundheitsminister Jens Spahn war hier besonders eifrig.
Damit wurden Löhne vielfach abgesenkt, durch Auslagerung von möglichst vielen medizinischen Diensten an private Subunternehmer, so für innerhäusige Transporte, Essensbereitung, Reinigung, Dokumentation, Wäsche, Technik, Ver- und Entsorgung. Besonders „vorbildlich“ ist hier das regierungsnahe Großklinikum Charité. Dies wurde unterstützt durch zunehmende Anwerbung von Migrantinnen und Migranten. Gleichzeitig wurden Personalstellen abgebaut. Durch Arbeitsstress werden gerade im Gesundheitsbereich die Beschäftigten – und auch die Patienten (jährlich hunderttausende Infektionen durch Hygienemängel) gesundheitlich gefährdet.
Keine Gleichbehandlung für Leiharbeit
Die EU-Richtlinie 104 aus dem Jahr 2008 fordert die gleiche Bezahlung von Leiharbeiterinnen und -arbeitern und der Stammbelegschaft (Equal Pay). Die Merkel-Mehrheit bastelte aber im Arbeitnehmer-Überlassungs-Gesetz (AÜG) ein Schlupfloch: Durch Tarifvertrag kann vom Equal Pay abgewichen werden. Unternehmer und vor allem „christliche“ Gewerkschaften nutzen das freudig aus, unkommentiert von der unbarmherzigen Christin Merkel. Und weil die Leiharbeiterinnen und -arbeiter nicht im Unternehmen, sondern bei der Leiharbeitsfirma angestellt sind, sind sie auch nicht wahlberechtigt und wählbar für einen Betriebsrat.
Mindestlohn: Zu spät, zu niedrig, oft nicht bezahlt
Unter dem Druck der Unternehmer-Lobby verzögerten die Merkel-Regierungen den gesetzlichen Mindestlohn so lange wie möglich. Er gilt seit 2015, so spät wie in keinem der wichtigeren EU-Staaten. Er wird zwar von Linken und Gewerkschaften, die ihn lange gefordert hatten, als Erfolg gewürdigt. Aber er trägt trotzdem zur Verarmung bei,
Eine Milliarde Überstunden jährlich: Nicht bezahlt
2019 urteilte der Europäische Gerichtshof zugunsten der Klage einer spanischen Gewerkschaft: Alle Arbeitsstunden müssen rechtsgültig erfasst werden. Die Bundesregierung mit Wirtschaftsminister Altmaier/CDU und Arbeitsminister Heil/SPD wollen die Ausführung in Deutschland verhindern. So lässt die Regierung auch unkommentiert und ohne gesetzliche Regelung zu, dass sogar eine Milliarde Überstunden pro Jahr nicht bezahlt werden. Mit Digitalisierung (Internet, smartphone) und home office steigern die Unternehmensführungen die ständige Erreichbarkeit auch außerhalb der regulären Arbeitszeit. Und beschleunigt durch die Corona-Politik nimmt die Zahl der zusätzlichen, nicht erfassten und nicht bezahlten Überstunden noch zu.
Hartz IV/Arbeitslosengeld II: Härtere Sanktionen, staatlicher Missbrauch
Die Merkel-Regierungen verschärften die Praktiken von Hartz IV zulasten der Arbeitslosen und zugunsten der Unternehmer.
Diese Disziplinierung hat ein enormes Ausmaß erreicht: Gerade im Pandemiejahr waren eine Million einhundertachtundneunzigtausend und einhundertneunundsechzig Arbeitslose (1.198.169) von solchen Sanktionen betroffen. Dass die Jobcenter zudem vielfach rechtswidrig handeln, wird aus dieser Zahl deutlich: 2020 klagten 544.270 Arbeitslose gegen Jobcenter-Bescheide, bei 190.000 gaben die Sozialgerichte den Klägern recht.
Tarifeinheits-Gesetz mit sinkender Tarifbindung
Wegen zunehmender Streiks kleinerer und kampffreudiger Gewerkschaften wie der Gewerkschaft der Lokomotivführer GdL und der Pilotenvereinigung Cockpit beschloss die Regierungsmehrheit 2015 das Tarifeinheits-Gesetz: In einem Unternehmen wie der Deutschen Bahn soll nur noch der Tarifvertrag gelten, der von der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern abgeschlossen wurde. Insgesamt trug die Bundesregierung dazu bei, dass die Tarifbindung weiter abnahm.
Whistleblower: Keine Meinungsfreiheit im Betrieb
2014 hat Deutschland die UNO-Konvention zur Bekämpfung der Korruption ratifiziert, darin ist enthalten der gesetzliche Schutz von betrieblichen Hinweisgebern, also Whistleblowern, die Gesetzesverstöße melden (wollen). Die EU-Whistleblower-Richtlinie von 2019 fordert ebenfalls eine gesetzliche Regelung. CDU/CSU und die Unternehmer-Lobby haben das bisher verhindert, sie wollen den Schutz bestenfalls auf Verletzungen von EU-Recht beschränken, die Verletzung deutscher Gesetze aber ausklammern. Argumentative Hilfe holte sich die Regierung bei Prof. Rieble vom privaten Zentrum für Arbeitsrecht und Arbeitsbeziehungen (ZAAR, von den bayerischen Metall-Arbeitgebern finanziert) und vom führenden katholischen Arbeitsrechtler, Prof. Gregor Thüsing, Leiter der eigenständigen Arbeitsrechtsbarkeit der beiden (un)christlichen Großkirchen.
Wie nötig ein solches Gesetz ist, zeigten zuletzt die unternehmerischen Gesetzesbrüche beim Abgas-Betrug der Autokonzerne, beim Cum-Ex-Betrug von Banken und Kanzleien, beim Finanzdienstleister Wirecard.
2021: Niedrigster Wert für Meinungsfreiheit in Deutschland
Wenn inzwischen die Mehrheit der befragten Deutschen sagt: „Mit meiner Meinung halte ich mich öffentlich lieber zurück“ – für die Betriebe gilt dies zu 100 Prozent (der Vorstandsvorsitzende ausgenommen). Im letzten Merkel-Jahr 2021 bestand der bisher niedrigste jemals in der Bundesrepublik ermittelte Wert an möglicher Meinungsfreiheit.[8]
US-Import: Union Busting
Mit Blackstone, BlackRock & Co kamen auch die Vertreter der in den USA seit über hundert Jahren entwickelten Dienstleistungsbranche der Union Buster: Hochprofessionell, mit Nutzung rechtlicher und psychologischer Methoden, werden Belegschaften eingeschüchtert, Betriebsräte bedrängt und in zum Teil jahrelangen Verfahren hinausgeklagt. Zur Branche gehören Anwälte, Detekteien und Spezialisten für Human Resources. Motto: „Der beste Betriebsrat ist der, der niemals gewählt wird.“
Hogan Lovells, Allen&Overy, DLA Piper, Littler, Freshfields heißen solche Kanzleien, die in Deutschland Filialen mit großen Abteilungen für Arbeitsrecht eröffnet haben. Sie geben das Vorbild für inzwischen Dutzende deutsche Nachahmer, deren bekanntere sind etwa CMS Hasche Sigle, Buse Heberer Fromm und Kliemt&Vollstädt. Sie sind allgemein-medial nicht präsent, im Unterschied zu dem hoch skandalisierten Einzelkämpfer Helmut Naujoks, der in der Menge aber keine Rolle spielt.
Arbeits-Gesetze während der Corona-Politik
Die Unternehmen, die nicht direkten Publikumsverkehr haben, also etwa 95 Prozent, wurden vom Infektionsschutz-Gesetz ausgenommen. Die Pandemiemaßnahmen wurden untergesetzlich und verspätet erst im August 2020 durch eine Arbeitsschutz-Verordnung des Arbeitsministeriums geregelt. Bei Verstößen gegen Schutzpflichten gibt es so gut wie keine Sanktionen. Wenn Amazon seinen Beschäftigten das Tragen einer FFP2-Maske verbot (weil das die Arbeit beeinträchtige), dann wurde das nicht sanktioniert.[9]
Betriebsräte-Modernisierungs-Gesetz: Keine Stärkung
SPD-Arbeitsminister Heil hatte ein Betriebsräte-Stärkungs-Gesetz vorgeschlagen. Daraus wurde im März 2021 auf Druck von CDU/CSU und der Unternehmer-Lobby das Betriebsräte-Modernisierungs-Gesetz. Der Arbeitgeber ist nun allein verantwortlich für den Datenschutz: Der Betriebsrat wird entmachtet. Betriebsräte-Sitzungen dürfen nun als Video- oder Telefonkonferenz abgehalten werden. Die besonders durch Kündigung gefährdeten Initiatoren einer Betriebsratswahl sind jetzt besser geschützt, müssen aber die dafür nötige notarielle Bestätigung aus eigener Tasche bezahlen. Die Forderung, Verletzungen des Betriebsverfassungs-Gesetzes durch den Arbeitgeber als Offizialdelikt einzustufen (Staatsanwalt wird auch ohne Strafanzeige aktiv) wurde nicht aufgenommen, auch nicht die Bildung von Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften. So bleibt die Straftat der Behinderung des Betriebsrats (§119 Betriebsverfassungs-Gesetz) weiter an der Spitze der justiziell nicht verfolgten Straftaten – knapp hinter dem sexuellen Missbrauch durch Funktionäre der christlichen Kirchen.
Fleischzerleger: Arbeitsschutz-Kontroll-Gesetz ändert wenig
Durch extreme Werkvertragsarbeit, mit der migrantische Arbeiter aus verarmten EU-Staaten ausgebeutet wurden, wurde Deutschland unter Merkel zum „Schweinestall Europas“, wie selbst die Unternehmer-Postille Handelsblatt im Corona-Sommer 2020 schrieb. Wegen der plötzlichen massenhaften Corona-Infektion in den großen Schlachthöfen der Konzerne Tönnies, Westfleisch, Vion und Danish Crown im Jahr 2020 wurde die schon jahrzehntelang bekannte, geförderte, geduldete Ausbeutung von migrantischen Fleischzerlegern zum Skandal, kurzzeitig.
Deshalb gilt seit Anfang 2021 das Arbeitsschutz-Kontroll-Gesetz: Die bisher übliche Werkvertrags- und Leiharbeit ist verboten. Aber als Beschäftigte werden weiter Migranten gesucht, die wie bisher mehrheitlich befristet tätig sein werden, zwischen einem halben Jahr und drei Jahren. Sie sind jetzt bei Tönnies & Co direkt angestellt, werden aber von den bisherigen Subunternehmern vermittelt. Auch bei Übernahme bisheriger Fleischzerleger gilt im neuen Arbeitsvertrag erstmal eine halbjährige Probezeit. Und es bleibt die doppelte Abhängigkeit, weil Tönnies auch die Unterbringung organisiert, nun eben auch hier direkt.
Und die Regelung gilt nicht für die nach der Fleischzerlegung folgende Fleischverarbeitungs-Industrie.
Saisonarbeit: Spargelstecher unversichert im Arbeitslager
Als Teil der Corona-Politik hat die Merkel-Regierung im März 2021 die Saisonarbeit für das Spargelstechen und Erdbeerpflücken neu geregelt: Die Saisonarbeiterinnen und -arbeiter aus Rumänien, Georgien usw. dürfen nun im Corona-Jahr statt bisher an 70 nun an bis zu 102 Arbeitstagen beschäftigt werden, das sind bis vier Monate Aufenthalt. Der Plantagenbesitzer braucht seinen Saisonkräften keine Sozialversicherung bezahlen, zum Beispiel keine Beiträge zur Krankenversicherung. Sie dürfen auch aus Hochinzidenz-Staaten einreisen, dürfen mit bis zu 8 Personen in einem Zimmer eingepfercht werden und dürfen ihr Arbeits-Lager nur zum Arbeiten verlassen, aber sonst nicht. Danach dürfen sie ausgelaugt in ihre von der EU verarmten Staaten zurückfahren, aus deren abgewirtschafteten Gesundheitssystemen die Bundesregierung die letzten verzweifelten Ärzte und Krankenpfleger als Billigkräfte in deutsche Krankenhäuser auch im Corona-Jahr abgeworben hat und weiter abwirbt. Das ist die Merkelsche „europäische (Arbeits-)Solidarität“.
Corona-Politik: Working poor = working sick
Bei den mit 16-Stunden-Schichten, unbezahlten Überstunden ausgebeuteten und in unhygienischen Massenunterkünften untergebrachten Fleischzerlegern, die bei Tönnies & Co arbeiteten, zeigte sich im Corona-Jahr 2020, wie Arbeitsstress und enge Wohnsituation mit Infektionsanfälligkeit ursächlich zusammenhängen. Studien über die mit Vorerkrankungen verbundene, erhöhte Anfälligkeit bei Arbeitslosen und eng untergebrachten Migranten und Sozialhilfeempfängern weisen in dieselbe Richtung.
Unter den Merkel-Arbeitsministerinnen und -ministern Olaf Scholz und Ursula von der Leyen wurde die Aufsicht über die Berufsgenossenschaften abgebaut: Beruflich bedingte Krankheiten werden noch weniger als zuvor als solche diagnostiziert, sondern werden der Allgemeinmedizin und den allgemeinen Krankenkassen zugeschoben. In allen Bundesländern wurde die Gewerbeaufsicht – zuständig für Arbeitsschutz – abgebaut. Im letzten Jahrzehnt nahmen arbeitsbedingte psychische Erkrankungen besonders zu. Hier besteht ein Dunkelfeld, an dessen Aufklärung die Bundesregierung und keine(r) ihrer Gesundheitsministerinnen und -minister Interesse hatte und hat, im Gegenteil: zudecken, tabuisieren.
Der ansonsten bei Fakten wenig gesicherte Corona-Dampfplauderer, der Abgeordnete und Privatisierungs-Verteidiger Karl Lauterbach, hat in lichteren Momenten seiner Laufbahn als Mediziner dargestellt, warum Niedriglöhner 10 Jahre kürzer leben als Gutverdiener (die Besserverdiener, Beamten und Abgeordneten hatte er noch gar nicht einbezogen).
Ende des ersten Teils. Im zweiten Teil der Bilanz der Ära Merkel wird vor allem auf die Frauen- und Rentenarmut und auf das Verhältnis der EU zu den USA eingegangen.
Titlebild: Drop of Light / Shutterstock
[«1] Zur Definition menschenrechtlicher Arbeit siehe Werner Rügemer: Imperium EU – ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr. Köln 2020, Seite 31-39
[«2] Eine Übersicht in Werner Rügemer: Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts. Gemeinverständlicher Abriß zum Aufstieg der neuen Finanzakteure, 3. erweiterte Auflage Köln 2021, S. 70 – 125
[«3] Rainer Bobsin: Private Equity im Bereich der Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen in Deutschland, Hannover 2020
[«4] Seniorenheim-Betreiber Korian zieht Lehren aus der Pandemie. Lob für Deutschland, FAZ 26.2.2021
[«5] Diagnose: Lukrativ. Laborketten sind begehrte Objekte für Investoren. Corona-Tester Synlab plant einen Milliarden-Börsengang, FAZ 26.1.2021
[«6] Lucy Redler: Unsere Gesundheit, ihr Profit? Rosa Luxemburg-Stiftung, Februar 2021
[«7] Zu den folgenden Abschnitten – Gespaltenes Deutschland, EU/migrantische Arbeit, Frauenrechte – siehe Werner Rügemer: Imperium EU – ArbeitsUnrecht, Krise, neue Gegenwehr. Köln 2020, S. 239 – 290
[«8] Die Mehrheit fühlt sich gegängelt. Nur noch weniger als die Hälfte glaubt, man könne seine Meinung in Deutschland frei äußern, FAZ 16.6.2021
[«9] Werner Rügemer: Infektionsschutzgesetz – warum fehlen die Unternehmen? nachdenkseiten.de 25.11.2020
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=74156