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Titel: «Rettet die Demokratie» – Dirk Neubauer spricht sich für eine direkte Beteiligung der Bürger aus
Datum: 11. Juli 2021 um 11:45 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Parteien und Verbände, Rezensionen
Verantwortlich: Redaktion
Die Unzufriedenheit mit der Politik ist in Deutschland schon länger zu beobachten. Während der Corona-Krise hat sie ihren Höhepunkt erreicht. Immer mehr Menschen fällt auf, dass das politische System demokratischen Kriterien nicht standhält. Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Volksvertretung – all das steht bloß auf dem Papier, ohne in der Realität eine Entsprechung zu finden. Für dieses Phänomen hat sich in den letzten Jahren der Begriff «Fassadendemokratie» herausgebildet. Keine Frage: Das politische System in Deutschland bedarf einer grundlegenden Umstrukturierung. Das findet auch Dirk Neubauer, der ein Buch mit dem alarmierenden Titel «Rettet die Demokratie» geschrieben hat. Von Eugen Zentner.
Als der Bürgermeister der sächsischen Kleinstadt Augustusburg das Werk schrieb, war er noch Mitglied der SPD. In der Zwischenzeit ist er aus der Partei ausgetreten. Begründet wurde dieser Schritt mit der Beendigung des Covid-Ex-Projektes, das auf sein Engagement zurückgeht. Dieses sah vor, dass im Frühjahr ein negativer Coronatest den Besuch von Restaurants, Hotels und Museen ermöglichen sollte. Bereits hier sieht man, dass Neubauer gar nicht so kritisch ist, wie er in seinem Buch zu erscheinen versucht. Doch darüber wird noch zu reden sein. Der Partei-Austritt hängt jedenfalls auch damit zusammen, dass Neubauer als Bürgermeister beobachtete, wie stark sich die Landes- und Kommunalpolitik voneinander entfernt haben. Und die SPD sei eher an der Macht als am Wohl der Wähler interessiert, ließ er kurz darauf durchblicken.
An diesem Punkt setzt auch sein Buch an: Die Politik auf der Landes- und Bundesebene habe sich von den Problemen, Nöten und Bedürfnissen der Menschen weit entfernt. Es sei ein tiefer Graben entstanden, was auch daran liege, dass Parteien mittlerweile wie Unternehmen funktionierten und in erster Linie ihre eigenen Interessen verfolgten. „Parteien vertreten das Volk. So weit die Theorie“, schreibt Neubauer. „In Wirklichkeit sieht es anders aus. Der parteipolitische Apparat kreist um sich selbst. Machtsicherung steht über Veränderung und Vorwärts. Die Bürgerinnen und Bürger wenden sich in Scharen ab und wechseln in den außerparlamentarischen Protest. Das große Parteiensterben hat begonnen. Wenn wir nicht alles anders machen, stirbt auch die Demokratie. Thesen für Auswege gäbe es: Amtszeitbegrenzung, Listenwahl abschaffen und die Bürger als Souverän wiederentdecken.“
Was sich wie eine schonungslose Abrechnung mit der politischen Klasse anhört, erweist sich jedoch schnell als lasche Kritik, die lediglich an der Oberfläche kratzt. Sicher, Neubauer spricht einige wichtige Punkte an, die beispielhaft für das Demokratieversagen in Deutschland sind. Dazu gehört die Auseinandersetzung mit so heiklen Systemfehlern wie den Landeslisten, auf den Kandidaten ganz vorne landen, wenn sie die Politik der Parteispitze mittragen. Ihr Platz im Parlament ist oftmals schon vor der Wahl eine sichere Angelegenheit, sodass die Bürger sie nicht so abstrafen können wie Direktkandidaten. Für sie sei es „nicht mehr eindeutig steuerbar, wen sie da ins Parlament entsenden, denn sie können kaum übersehen, wer bei welchem Ergebnis über diesen Mechanismus mitgewählt wird“, schreibt Neubauer.
Ein weiteres Problem, das der Augustusburger Bürgermeister anspricht, ist das Phänomen des Berufspolitikers. In den Parlamenten landen immer mehr Leute, die keinen Beruf erlernt haben. Karriere machen sie lediglich innerhalb der Partei, weshalb sie von der Politik finanziell abhängig werden, weil sie sonst befürchten müssen, im richtigen Leben keinen Job zu bekommen. Das hat zur Folge, dass solche Kandidaten sich nicht am Allgemeinwohl orientieren, sondern auf die eigene Karriere innerhalb des politischen Systems bedacht sind. Bei den Bürgern sorge das zunehmend für Unmut, so Neubauer – genauso wie die überbordende Bürokratie: „Bürgerinnen und Bürger (und immer häufiger auch die Kommunen) sind ohne juristischen Beistand oft verloren im Dschungel der Bürokratie. An dieser Frontlinie der operativen Politik zermürbt sich das Land. Ganz langsam. Aber stetig.“
Die angesprochenen Demokratiekiller sind zweifellos richtig, aber hinlänglich bekannt – zumindest in den Grundzügen, wie sie auch der Bürgermeister aus Augustusburg in «Rettet die Demokratie» skizziert. Wenn er aber seinem Buch den Untertitel «Eine überfällige Streitschrift» gibt, sei an das Werk «Die Deutschlandakte» erinnert, in dem der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim schon 2008 die Systemfehler der deutschen Demokratie weitaus tiefgründiger und detaillierter behandelte. Im Vergleich zu dieser Arbeit mutet Neubauers Büchlein wie eine Kritik an, die man nur zu gut aus berüchtigten Talkshows kennt – im Ansatz zutreffend, aber das Wesentliche nicht berührend.
Für «Eine überfällige Streitschrift» wirkt Neubauers Werk zu zaghaft, wenn es um das Eingemachte geht. Man hätte gerne mehr erfahren über Entscheidungsprozesse hinter den Kulissen, über die offenkundige Korruption und Verdrehung der Tatsachen, wie sie in der Corona-Krise beinahe täglich geschieht. Stattdessen greift der Autor die allgemeine Unzufriedenheit auf und bietet als Erklärung an, dass die Politik die Menschen nicht ausreichend einbinde. Die Basis müsse gestärkt werden, so das Mantra. Dass dies nicht geschehe, sei ein wesentlicher „Treiber hinter Bewegungen wie der AfD, der Querdenker oder des Dritten Weges“, schreibt Neubauer.
Mit den „Querdenkern“ sind wohl all jene gemeint, die seit knapp einem Jahr auf die Straße gehen, um gegen die Corona-Politik zu demonstrieren. Dass der Autor sie in einem Zug mit der AfD und dem Dritten Weg nennt, klingt bereits verdächtig. Das ist klassisches Framing, wie man es aus den Leitmedien kennt. Neubauer scheint das zu übernehmen, ohne es kritisch zu hinterfragen. Gleiches gilt für das Pandemie-Narrativ, dem er der Lektüre nach ebenfalls folgt. Dabei ist es genau das, was bei den Bürgern für Unmut sorgt und sie auf die Straße treibt. Sie haben genug davon, dass Politiker es mit den Fakten nicht so ganz genau nehmen und stattdessen entweder unwissentlich oder absichtlich auf Techniken zurückgreifen, mit denen die öffentliche Meinung manipuliert wird.
Vielleicht sollte noch einmal erklärt werden, dass «Querdenken» eine dezentral organisierte Organisation ist, die Demonstrationen gegen die Corona-Politik auf die Beine stellt. Allerdings ist sie nicht die einzige. Es gibt deutschlandweit etliche Initiativen, die das ebenfalls tun. Nicht alle Kritiker der Corona-Politiker sind „Querdenker“, wie Neubauer fälschlicherweise annimmt. Mit solchen Wissenslücken demonstriert der Autor genau das, was er in seinem Buch kritisiert: eine Entfremdung der Politik vom wahren Leben. Nicht weniger entlarvend sind Sätze wie diese: „Das Virus, das uns von echter Veränderung im politischen Raum abhält, heißt nicht COVID-19. Es heißt Machterhalt.“ Nein, das Virus heißt SARS-CoV-2 – und COVID-19 die von ihm verursachte Krankheit.
Angesichts solcher Wissenslücken wirkt es schon zynisch, wenn Neubauer schreibt, was jene Bewegungen zusammenhält: „Es sind nicht Inhalte. Es ist der kleinste gemeinsame Nenner für Wut und Unverständnis.“ Die Wut ist teilweise berechtigt, wenn Politiker existenzgefährdende Corona-Maßnahmen ergreifen, ohne über ein Elementarwissen zu verfügen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Neubauer auch weiß, dass der als «Goldstandard» gepriesene PCR-Test für diagnostische Zwecke ungeeignet ist. Das lässt sich bezweifeln. Ansonsten hätte der Bürgermeister von Augustusburg das anfangs erwähnte Covid-Ex-Projekt in seiner Stadt nicht angestoßen.
Dass die Protestbewegung gegen die Corona-Politik, die der Autor pauschal als „Querdenker“ bezeichnet, keine Inhalte hat, entspricht ebenfalls nicht der Wahrheit. Sie fordert nicht nur die sofortige Aufhebung aller Grundrechtseinschränkungen, sondern auch die Rücknahme von Artikel 143h GG, der die grundsätzliche Gewaltenteilung zwischen Bund und Ländern durchbricht. Sie setzt sich für friedliche Lösungen von Konflikten ein, für eine direkte Beteiligung der Bürger bei politischen Prozessen und für eine Machtbeschränkung. Das sind allesamt Punkte, die sich teilweise auch in Neubauers Buch finden lassen. Darin versucht er seine Thesen unter anderem in Form einer Reaktion auf die jüngste Protestbewegung zu formulieren, verkennt aber, dass sie eigentlich genau das fordert, was er in seinem Werk zu propagieren versucht: mehr Basisdemokratie.
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