Startseite - Zurück - Drucken
NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Zu viel Volk führt zu schlechten politischen Entscheidungen?
Datum: 9. November 2010 um 18:41 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Lobbyismus und politische Korruption, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Albrecht Müller
Im Zusammenhang mit den Demonstrationen zu Stuttgart 21 und zum Castor Transport/zur Verlängerung der Laufzeiten der Atomkraftwerke wird von Medien und Politikern jetzt vermehrt und kräftig davor gewarnt, bei politischen Entscheidungen allzu viel auf das Volk zu hören. „Zu viel Volk schadet Deutschland“ schrieb der ehemalige Chefredakteur des Managermagazins Wolfgang Kaden und warnt vor der Belebung von Volksentscheiden. „Blockade- Republik Deutschland“ intoniert der Spiegel in einem Video. In anderen meinungsführenden Medien wird eine ähnliche Musik gespielt. Es wird darauf verwiesen, dass die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes bewusst und überlegt auf eine parlamentarische Demokratie gesetzt haben. Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich nicht verboten, die Frage zu stellen, ob „mehr Volk Deutschland schadet“. Aber die Antwort wird bei sachlicher Prüfung anders ausfallen, als sich die Warner vor zu viel Volk dies zurecht legen. Denn im jetzigen Zustand bringt das parlamentarische System nachweisbar zu viele falsche und zerstörerische Entscheidungen. Albrecht Müller
Die Qualität politischer Entscheidungen leidet heute nicht zu aller erst unter der mangelnden Weisheit des Volkes; sie leidet vor allem unter
Es gab Verschiebungen in den Entscheidungsabläufen, die das parlamentarische System der Willensbildung und Entscheidungsfindung in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen, als es den Autoren des Grundgesetzes präsent war. So ist die Ministerialbürokratie in Quantität und Qualität eingedampft worden. Zum Ersatz wird im Gesetzgebungs- und Willensbildungsprozess direkt auf Lobby und Verbände zurückgegriffen. Verbände besetzen Abteilungsleiterposten in den Ministerien, so im Gesundheitsministerium. Rechtsanwaltskanzleien, die mit der Finanzwirtschaft verbunden sind, schreiben weite Teile der Gesetze und Verordnungen zum Bankenrettungsschirm. Mit der Lobby verbundene Rechtsanwälte berieten 2005 erheblich bei der Konzeption des ÖPP-Beschleunigungsgesetzes. Leihbeamten der Verbände sitzen in den Ministerien. Verbände wie die Pharmaindustrie sponsern die Öffentlichkeitsarbeit von Ministerinnen/n. In Kungelrunden zwischen Bundeskanzlerin und Energiewirtschaft werden Entscheidungen über die Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke getroffen, usw.
Das sind Zustände, die sich die Autoren des Grundgesetzes so sicher nicht haben vorstellen können.
Hinzu kommt, dass die Rekrutierung von Politikern und ihres Nachwuchses tendenziell in Richtung Karrierepolitik geht. Junge Menschen, die sich um die Klärung von Sachfragen kümmern und sich dazu ausreichendes Wissen aneignen, sind kaum noch erpicht darauf, in die Parteien zu gehen. Das führt dazu, dass in den Fraktionen die eigene Meinungsbildung der Abgeordneten nur noch mangelhaft ist und auch das Führungspersonal nicht durch vorhergehende inhaltliche Profilierung, sondern durch Kungelei und Karrieretum nach oben gekommen ist. Westerwelle, Merkel, Merz, Steinmeier, Gabriel – das waren auch im Vorlauf zu ihren Ämtern nicht Politiker, mit denen man ein inhaltliches Engagement hätte verbinden können.
Diese veränderten Umstände führen dazu, dass wir uns auf eine gewisse Qualität politischer Entscheidungen durch eine gewisse Qualität und Unabhängigzeit der im parlamentarischen System handelnden Personen nicht mehr verlassen können.
Die schlimmsten Fehlentscheidungen in Gegenwart und jüngerer Vergangenheit sind nicht vom Volk, sondern von den Führungskräften in Politik, Wissenschaft und Medien getroffen worden.
Nehmen wir ein paar Beispiele:
Die Entscheidungen würden nicht schlechter, sondern besser, wenn mehr Menschen daran beteiligt würden.
Das zeigt auch der Streit um Stuttgart 21. Die Gegner dieses Projektes bringen erkennbar mehr Sachverstand in die Debatte als die Befürworter. Die Befürworter sind über weite Strecken geleitet von ziemlich dämlichen Phrasen (europäische Verbindung von Paris bis Bratislava; man baut heute keinen Kopfbahnhof mehr, was beschlossen ist, muss auch durchgeführt werden, usw.) Die Gegner von Stuttgart 21 haben in die Debatte sehr viel mehr verkehrspolitische Erwägungen eingebracht als die Befürworter. Sie haben zum Beispiel mit der Einbeziehung der Frage, was das Projekt für den Güterverkehr und wegen des Einsatzes viel zu großer Mittel in Stuttgart für andere Strecken wie etwa die Rheintalstrecke bedeutet, zur Versachlichung der Entscheidungsfindung beigetragen. Die Einbeziehung des Volkes hat also zu mehr Rationalität geführt und nicht zu weniger.
Politische Entscheidungen werden dann besser, wenn viele Gesichtspunkte ins Spiel gebracht werden. Das wird heute durch die viel zu dichten Netze aus Politik, Wissenschaft und Medien verhindert. Dass es so schlimm kommt, konnten die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes nicht vorhersehen.
Anhang:
Ein guter Kommentar zu den Demonstrationen zum Castor Transport
WDR Klartext 9.11.2010
Demonstrieren für die Meinung der Mehrheit
Autor: Jürgen Döschner
Sie schlugen Polizisten – mit Strohsäcken, bewarfen Beamte – mit Erdklumpen. Sie setzten sich auf Straßen und Gleise und ließen dabei auch den einen oder anderen Schotterstein mitgehen. Sie provozierten Polizisten mit Trillerpfeifen und Gesängen. Ja, man kann den Demonstranten im Wendland so einige Missetaten vorhalten.
Doch die eigentlichen Übeltäter, die schlimmsten Provokateure, die saßen nicht auf Straßen und Schienen im eisigen Wendland, sondern in ihren warmen Büros in Berlin, Essen und Düsseldorf. Merkel, Röttgen und ihre Freunde in den Chefetagen der Atomkonzerne konnten sich an fünf Fingern ausrechnen, dass ihre in Hinterzimmern abgekartete Verlängerung der Laufzeiten für deutsche Atomkraftwerke ein Spiel mit dem Feuer ist. Für ein paar lumpige Milliarden Euro wurde der mühsam ausgehandelte gesellschaftliche Konsens über das Ende der Atomenergie leichtfertig über Bord geworfen.
Der tausendfache und teils radikalisierte Protest im Wendland ist die erste, aber sicher nicht die letzte Quittung für diese schändliche Politik. Diese Proteste waren in ihrem Ausmaß absehbar, verständlich und – abgesehen von einigen extremen Übergriffen – auch völlig gerechtfertigt. Und wie dumm oder ignorant muss ein Umweltminister Röttgen sein, der den Demonstranten vorhält, der Müll in den Castoren sei doch alt, und habe nichts mit der Laufzeitverlängerung zu tun. In einem einzigen Castorbehälter ist so viel radioaktives Material, wie bei der Katastrophe in Tschernobyl freigesetzt wurde. Allein diese Zahl macht die Dimension des Risikos Atomkraft deutlich. Und deshalb gingen die Menschen im Wendland auf die Straße.
Umfragen zeigen: Die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland – übrigens auch die Mehrheit der CDU-Wähler – war und ist gegen die Verlängerung der AKW-Laufzeiten. Wir sollten den Tausenden, die rund um Gorleben friedlich demonstrierten, sich die eisigen Nächte um die Ohren schlugen, die Schikanen, Schläge und Strafen riskierten, danken – dafür, dass sie so mutig für die Meinung der Mehrheit demonstriert haben.
Quelle: WDR
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=7309