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Titel: Die Steuerfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme – ein unsicherer und höchst gefährlicher Rettungsanker
Datum: 10. August 2005 um 16:11 Uhr
Rubrik: „Lohnnebenkosten“, Denkfehler Wirtschaftsdebatte, Sozialstaat, Steuern und Abgaben
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Vor allem von CDU/CSU und von der Wirtschaftslobby, aber auch von sich eher „links“ verstehenden Anhängern eines allgemeinen „Grundeinkommens“ wird eine teilweise oder gar überwiegende Finanzierung von sozialer Risikoabsicherung aus Steuermitteln statt aus nach Einkommen gestaffelten Beiträgen der Versicherten propagiert. Vorgebliches Hauptmotiv ist der Glaube, dass so die Lohnnebenkosten gesenkt werden könnten und dadurch die Wirtschaft wieder angekurbelt werden könnte. Eine trügerische Hoffnung!
Dass damit eine betriebswirtschaftliche Froschperspektive eingenommen wird und nicht die volkswirtschaftliche Gegenrechnung darüber aufgestellt wird, welche Effekte die dafür notwendige Gegenfinanzierung über Steuern auslösen würde, stellt Gerhard Bäcker in einem Beitrag der FR unter dem Titel “Nur eine Schraube zu drehen, bringt nicht viel” dar.
Die Senkung der Lohnnebenkosten ist nach schwarz-gelb-grün-rotem Glaubensbekenntnis, nach dem die Steuersenkungen in Höhe von über 60 Milliarden nichts bewirkten, der letztverbliebene Strohalm mit dem man sich aus dem Sumpf der Arbeitslosigkeit ziehen will. Durch die Entlastung der Arbeitgeber von der paritätischen Finanzierung, so der Glaube, würden diese wieder mehr investieren und, weil Arbeit billiger würde, wieder mehr Arbeitnehmer einstellen. Die Lohnempfänger sollen damit mehr „Netto“-Lohn in der Tasche haben und wieder mehr kaufen können und damit die Binnennachfrage steigen lassen, was wiederum die Investitionen rentabel macht, weil mehr Produkte gekauft werden. So die Hoffnung.
(Daran scheint offenbar nicht einmal Angela Merkel zu glauben, wenn das so einleuchtend wäre, würde sie sicher nicht mehrfach Brutto und Netto verwechselt haben.)
Dass sich dieses Mehr an „Netto“-Lohn aber sehr rasch in ein Minus in der privaten Haushaltskasse verwandelt, darüber wird geflissentlich nicht gesprochen. So hat etwa die Senkung der paritätische finanzierten Krankenversicherungsbeiträge um 0,9% schon unmittelbar zu einem Anstieg des privat zu finanzierenden Beitrags um 0,45% geführt. Auch dass die Praxisgebühr „cash“ auf den Tisch gelegt werden muss, dass für nicht rezeptpflichtige Medikamente oder für Kuren mehr aus der eigenen Tasche bezahlt werden muss, dass das Krankengeld künftig privat abgesichert werden muss, dass die Riester-Rente, die die Lohnnebenkosten senken soll, über die keineswegs gesenkten Beiträge für die gesetzliche Rente hinaus das Netto-Einkommen weiter verringert, weil die Beiträge zusätzlich das Portemonnaie belasten, das wird nur allzu gerne jedenfalls aus der privaten Bilanz für den Lohnempfänger herausgenommen.
Die Absicherung der durch sinkende Beiträge (vor allem wegen der Lohnsenkungen) und weniger Beitragszahler (vor allem wegen des Rückgangs sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze) immer kleiner werdenden Renten soll, wie die Allparteienkoalition das möchte, durch private Kapitalvorsorge dann „eigenverantwortlich“ (einige meinen sogar „verpflichtend eigenverantwortlich“) erfolgen.
Ähnliches sehen Schwarz und Grün auch noch für die Pflegeversicherung vor. Ganz zu schweigen von der FDP, die die komplette Risikoabsicherung zur Privatangelegenheit machen will, nach dem Motto: Jeder kann „frei“ wählen, wie viel ihm seine Gesundheit oder seine Alterssicherung wert ist.
Man setzt dabei offenbar darauf, dass die „Pisa-geschädigten“ Deutschen das kleine Plus beim Netto-Lohn nicht mehr mit dem großen Minus bei den – jetzt allerdings – privaten „Lohn-Zusatz-Kosten“ verrechnen können. Oder anders: Man verkauft die Leute für zu dumm, um diese Rechentricks zu Lasten ihres eigenen Geldbeutels zu durchschauen. Und da sich das Volk eben nicht verschaukeln lassen will, bockt es gegenüber solchen „Reformen“.
Der Gedanke der Steuerfinanzierung von Sozialleistungen – nicht allein nur zur Senkung von Lohnnebenkosten, sondern zur Gewährleistung einer allgemeinen „Grundsicherung“oder einem „bedingungslosen Grundeinkommen“ – hat in letzter Zeit weit über das konservative Lager hinaus bis hinein zu Bewegungen wie Attac oder in den Feuilletons eine zunehmende Faszination gewonnen.
Gerhard Bäcker, weist mit nachvollziehbaren Argumenten darauf hin, dass es sich beim Systemwechsel von der Senkung der Lohnnebenkosten hin zur Gegenfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme durch Steuererhöhungen, jedenfalls was die rechnerischen Beschäftigungseffekte angeht, volkswirtschaftlich (und eben nicht einzelwirtschaftlich) betrachtet eher um eine unsichere Kalkulation handelt. Nach Simulationsrechnungen ergibt sich bei einer Beitragssenkung um einen Punkt und einer Gegenfinanzierung durch Anhebung der Mehrwertsteuer eine Schwankungsbreite, die zwischen 170.000 Arbeitsplatzverlusten bis zu 129.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen liegt. Ein ziemlich risikobehafteter Weg also. Und dafür will man noch das ganze Durcheinander bei der Umstellung des Systems in Kauf nehmen? Zugespitzt müsste man sogar sagen: Es handelt sich um eine weitere Schummelei.
Denn das nur geringfügig steigende Netto-Einkommen würde gleich wieder durch eine Steuererhöhung gemindert. (Welche unsozialen und die Nachfrage zusätzlich hemmenden Auswirkungen eine Mehrwertsteuererhöhung mit sich brächte, haben wir an anderer Stelle ausgeführt.)
Hinter den vordergründig so einschmeichlerischen Vorschlägen zur Steuerfinanzierung von sozialen Transferleistungen stecken jedoch noch viel größere Gefahren, um nicht zu sagen geradezu der Versuch der Rosstäuscherei.
Dass es dabei hauptsächlich um die Entlastung der Arbeitgeberseite geht, wurde schon erwähnt.
Hinzu kommt noch: Der Anteil der Lohn- und Einkommensteuer am gesamten Steueraufkommen hat sich seit Jahrzehnten gegenüber den Steuern aus Kapitaleinkünften erhöht und wird sich, wenn die politisch aktuellen Vorschläge umgesetzt würden, noch weiter erhöhen. (Der Anteil der Lohnsteuer ist von 1977 bis 2002 von 30 auf 36% gestiegen, während der Anteil der Gewinn- und Vermögenssteuer am gesamten Steueraufkommen von 29% auf 14% gefallen ist.) Gleichzeitig sind die Spitzensteuersätze von 53 auf 42% gesenkt worden oder sollen nach dem Willen von CDU/CSU (und selbstredend FDP) sogar noch weiter gesenkt werden.
Das heißt: Würden künftig Sozialleistungen aus Steuermitteln finanziert, so trügen gerade die mittleren Lohn- und Einkommensbezieher die Hauptlast.
Das größte Risisko ergibt sich jedoch daraus: Im Steuerrecht gilt das sogenannte „Non-Affektationsprinzip. Anders als bei Gebühren wird die Steuer grundsätzlich nicht zweckbezogen erhoben, sondern sie fließt in den allgemeinen Haushalt und unterliegt somit der jährlichen Disponibilität des Haushaltsgesetzgebers, d.h. der politischen Entscheidung.
Was das für ein Risiko darstellt, lässt sich an einem aktuellen Beispiel aufzeigen: Weil für diesen Herbst ein Loch in der Rentenkasse von gerade mal 500 Millionen Euro klafft, die über den Bundeshaushalt gedeckt werden muss, hören wir doch täglich aus allen Kanälen apokalyptische Klagen darüber, wie riesig und angeblich unbezahlbar die Anteile etwa für die Zuschüsse für die Rentenversicherung am Gesamthaushalt und am Steueraufkommen sind. Schon heute wird gesagt, dass kein Weg daran vorbei führe, die Renten drastisch zu senken, wenn der Staat noch handlungsfähig bleiben wolle und der Sozialhaushalt nicht die Staatsfinanzen vollends strangulieren solle. Darüber hinaus hören wir zunehmend über Horrorszenarien, dass die Haushalte komplett zusammenbrechen werden, wenn erst die Pensionslawine in Gang käme und dass deshalb die Beamtenpensionen dramatisch gesenkt werden müssten
Was muss man daraus folgern:
Wenn erst einmal Sozialleistungen statt aus paritätisch finanzierten leistungsbezogenen Beiträgen aus allgemeinen Steuern finanziert würden, dann würde der Anteil für Sozialtransfers am Gesamthaushalt noch um ein Vielfaches größer werden. Man stelle sich einmal vor, welche Debattenlage über die den Staat „erdrückende“ Soziallast wir dann erst hätten.
Als einziger Ausweg blieben Steuererhöhungen, die nach heutiger Betrachtung der steuerpolitischen Vorschläge zum allergrößten Teil von den Normalverdienern getragen werden müssten. Man stelle sich aber vor, welche Kampagnen gegen die zu hohe Steuerlast und eine noch viel höhere Staatsquote dann erst gestartet würden.
Im Ergebnis hätten wir einen noch massiveren und wohl für keine Regierung mehr aushaltbaren politischen Druck auf die Senkung von staatlich finanzierten Sozialleistungen insgesamt. Wenn es gut ginge, dann würde das auf eine staatliche Garantie von existenzsichernden Minimalleistungen hinauslaufen, sowohl bei der Gesundheitsvorsorge, bei der Grundsicherung (oder dem Grundeinkommen) als auch bei der Altervorsorge. Der Zwang zur Eigenvorsorge für eine Absicherung über dem Existenzniveau wäre unausweichlich und damit wären wir endgültig dort angekommen, wo uns die Systemveränderer schon heute hinbringen wollen: Der „Sozialstaat“ sichert allenfalls noch das Existenzminimum (und dafür sollen ja nach einem jüngsten Urteil des Berliner Sozialgerichts 345 Euro pro Monat ausreichen), der Rest bleibt der Eigenverantwortung überlassen.
Die Versicherungswirtschaft würde sich die Hände reiben, aber Armut und Not für diejenigen, denen es für eine private Vorsorge nicht reicht, griffen in einer vollends gespaltenen Gesellschaft um sich.
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