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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Kinder, Corona und der digitale Distanzunterricht – Keine Auswege aus der Bildungskatastrophe?
Datum: 23. Mai 2021 um 14:00 Uhr
Rubrik: Bildungspolitik, Gesundheitspolitik, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Die Situation, die die UNICEF Anfang März als „katastrophale Bildungskrise“ bezeichnet hat, hält an. Außerdem herrschen in der Diskussion um Kinder, Corona und den digitalen Distanzunterricht Irrtümer, Stereotype, Fehleinschätzungen und Verharmlosungen vor. Darum folgt hier ein notwendiges Postscriptum zum E-Learning in der Corona-Krise und seinen Folgen. Von Finn Jagow und Bernd Schoepe.
„Man kann auch einfach die Augen schließen – Eine große menschliche Fähigkeit, und noch fast unerkannt, etwas, was vor Augen liegt, nicht sehen, weil man es nicht sehen will.“
Joseph Weizenbaum, Kurs auf den Eisberg. Die Verantwortung des Einzelnen und die Diktatur der Technik, München / Zürich 1987, S. 31.
„Bildung muss bei den Maßnahmen zur Bewältigung der Gesundheitskrise und bei den Wiederaufbauplänen eine Priorität sein.“
Audrey Azalou, UNESCO-Generaldirektorin gegenüber der Nachrichtenagentur AFP.
1.1 Pädagogische Interpretation zum Kinder- und Jugend-Lockdown
Am 21. März 2021 veröffentlichten wir – zuerst auf der Seite des GEW-Magazins Ansbach[«1] – unsere Studie, die wir mit drei Klassen des 11. Jahrgangs von zwei Hamburger Stadtteilschulen zu den Folgen des Distanzunterrichts im zweiten Schul-Lockdown durchgeführt haben. Zur schnellen Information haben wir die Kurzfassung unserer Studienergebnisse, die wir anschließend als Pressemitteilung geschrieben haben, als Anhang dem hier vorliegenden Folgetext hinzugefügt.
Wir sahen uns vor allem aus zwei Gründen genötigt, der Auswertung der Untersuchungsergebnisse zur Lage unserer Schüler:innen eine Fortsetzung folgen zu lassen. Erstens befinden wir uns inzwischen im fünften Monat des Schul-Lockdowns, von dem in Hamburg wie auch in anderen Bundesländern, immer noch eine große Zahl von Schüler:innen (in Hamburg die meisten) betroffen sind. D.h., die Situation, die die UNICEF Anfang März als „katastrophale Bildungskrise“[«2] bezeichnet hat, hält an. Darauf mussten wir reagieren. Zweitens ist uns seitdem noch klarer zu Bewusstsein gekommen, dass in der Diskussion um Kinder[«3], Corona und den digitalen Distanzunterricht bzw. das E-Learning im Schul-Lockdown Stereotype, Verharmlosungen, ein teilweise erschreckender Mangel an Problemsensibilität und viele Irrtümer und Fehleinschätzungen vorherrschen. Gemeinsam führt all dies weiterhin dazu, dass durch eine von uns zunehmend als bedrückend wahrgenommene „Verhinderungskoalition“, die im Panik-Modus agiert, versäumt wird, dass in der Gesellschaft und vor allem in der Politik endlich Auswege aus der Bildungskatastrophe aufgezeigt werden. Diese sind, wie wir zeigen werden, nötiger denn je. Insofern ist der Text auch zu lesen als ein Hilferuf zweier extrem besorgter Pädagogen.
Nachdem im Januar unsere Beobachtung des Kurses in der Coronapolitik und der getroffenen sowie diskutierten Maßnahmen ergab, dass mit größerer Ungewissheit bezüglich der Schließungsdauer der Schulen gerechnet werden muss, entstand die Idee, Näheres über die Lage in Erfahrung zu bringen, in der sich unsere Schüler:innen seit Mitte Dezember befinden. Inzwischen sind wir, wie nicht oft genug wiederholt werden kann, im fünften (!) Monat des Schul-Lockdowns, von dem in Hamburg immer noch die meisten Schüler:innen zur Gänze betroffen sind. Und kein Ende scheint in Sicht. Nur in den Abschlussklassen wurde ab dem 15.03. auf Hybrid- bzw. halbierten Präsenzunterricht (unter verschärften Schutzbedingungen mit zweimaligem Testen pro Woche) umgestellt.
Schnell hat sich – auch durch den großen Einsatz in puncto Digitalisierung – an den Schulen eine „neue Normalität“ herausgebildet. Angesichts unserer dramatischen Untersuchungsergebnisse und weiterer, eigentlich unüberhörbaren Alarmzeichen aus der Kinder- und Jugendmedizin, -Psychiatrie und -Soziologie sowie der Kindheits- und Bildungsforschung – die dennoch nicht wahrgenommen werden – sehen wir uns herausgefordert, diese „neue Normalität“ radikal infrage zu stellen. Aus diesem Grund – und weil die Geschichte nach unserer Studie weiterging – haben wir uns zu einer Art Postscriptum entschieden, das wir aber proaktiv verstanden wissen wollen.
Dazu ein einfaches Gedankenexperiment: Was hätten wir vor zwei Jahren gesagt, wenn man uns das Szenario: „Mehrere wochen-, ja monatelange Schulschließungen durch ein „neues“ Virus; Kontakt zu den Schüler:innen gibt es nur noch auf digitalen Kanälen, der Unterricht wird komplett auf Online-Formate umgestellt“, vorgelegt und gesagt hätte, diese Annahme sei durchaus realistisch, wir sollten uns mental schon mal darauf vorbereiten?
Hätten wir dies für möglich gehalten? Oder hätten wir da nicht eher ungläubig gelacht und dies für einen mehr oder minder gelungenen Scherz gehalten? Wären wir gar geneigt gewesen zu glauben, dass wir uns im Rekordtempo an die neuen Verhältnisse gewöhnen und sich alles an ein solch dystopisch anmutendes Science-Fiction-Szenario in kürzester Zeit anpasst bzw. sich dem unterordnet? Tatsächlich scheinen viele Kolleg:innen das Online-Schooling inzwischen als Selbstverständlichkeit handzuhaben und so auch anzusehen. Natürlich spricht daraus zum einen eine professionelle Einstellung, die damit ihre Krisentauglichkeit – nach anfänglichem, vor allem auch technisch bedingtem Schlingern – unter Beweis stellt. Eine Bewährungsprobe, die alles in allem gut bestanden wurde. D.h. durch sehr viel Anstrengung gelang es, die digitale Versorgung (wir sprechen hier für den Stadtstaat Hamburg) weitgehend sicherzustellen. Das soll nicht kleingeredet werden.
Auf der anderen Seite aber irritiert uns dieser Umgang, weil damit die Differenz zum Verschwinden gebracht wird, die nicht bloß als die Differenz zwischen Digitalem und Analogem aufscheint. Wie kann es sein, dass wir uns in ein Arrangement zum Lernen möglichst nahtlos einpassen (wollen?), das alle menschlichen Kontexte, in denen das schulische Lernen sonst stattfindet, ausblendet bzw. aufgrund seines technischen Charakters über diese Kontexte, in die das Lernen sozial immer eingebettet ist, gar nicht verfügt? Die Künstlichkeit der Anordnung der Kommunikation in jeder Video-Unterrichtskonferenz ist ja für alle unübersehbar. Wird das „Unterrichtsgeschehen“ dort berechenbarer, planbarer – so um den Preis der Lebendigkeit. Interaktion mutiert zu einer Schrumpfform, sowohl das Gemeinschaftliche der Lernsituation im Klassenraum als auch die Präsenz, das Spontane, Mimik, Gestik, Sprache, der „Einfall des Lebendigen“ in den oft sonst als bleiern und unendlich langweilig (wenn man sich dabei noch an seine eigene Schulzeit erinnern kann…) erlebten Unterrichts fällt weg. Das, was der Schule selbst den Schüler:innen, die von ihr nicht sonderlich angetan sind und Schule eher als eine Quelle der Unlust wahrnehmen, reizvolle Spannungsmomente schenkt und ihr mitunter ein Surplus des Unvorhersehbaren gibt, ist zum Verschwinden gebracht.[«4] Wobei es zum Glück im Analogen nicht ganz so selten geschieht, dass dies in einer Schleifenbewegung auch dem Lernen wieder zugutekommt, weil es die Beziehung zu dem Lehrer oder der Lehrerin sowie die Bindungen in der Klassengemeinschaft bereichert und festigt.
Und was passiert mit Unterricht und Bildung, wenn der „menschliche Faktor“ heruntergefahren, bis gänzlich ausgeblendet und der Betrieb auf die technische Sicherstellung weit weniger der pädagogischen und didaktischen Aspekte als der rein fachlichen Inhalte und Anforderungen umgestellt wird?[«5]
Wer sich redlich bemüht, der disruptiven Erfahrung aus dem Gedankenexperiment den Anschein einer „neuen Normalität“ zu geben, läuft Gefahr bei dieser Konvertierungsarbeit (die gerade zuhauf verrichtet wird) nicht so ohne Weiteres mitzubekommen, dass viele Schüler:innen den Eindruck nicht mehr loswerden, E-Learning bedeute, sich jetzt selbst alles das beibringen zu müssen, was auch in der „analogen“ Schule „drankommt“. Nur erfolgt dieses „Selber-Beibringen“ unter keineswegs frei gewählten, außergewöhnlichen, sogar geschichtlich einmaligen Bedingungen, m.a.W. unter stark krisenhaften Umständen, die einen Bruch mit allen Routinen des Lernens und Lehrens bedeuten. Während im analogen Unterricht die Inhalte aber vermittelt, d.h. gelehrt werden, da Unterrichten prinzipiell (leider nicht empirisch) immer ein Eingehen auf Lernschwierigkeiten und Verstehensprobleme bedeutet, wird der eigentliche Klärungsprozess, der zum Lernerfolg führt, hier durch die Loslösung vom gemeinsamen Praxisraum des „Hier und Jetzt“ auch in die häusliche Sphäre delegiert oder besser „ausgesourct“ – dorthin, wo ja derzeit alles stattfindet! Das führt zu einer Perfektionierung…der Überforderung! Diese bleibt aber, was alles noch viel schlimmer macht, außerhalb des Fokus der Kamera. Und niemand spricht dazu ins Mikrofon. Oder: Wer sieht und hört die soziale Isolation und Einsamkeit, die der Online-Unterricht bewirkt?[«6] Und selbst wenn er etwas sähe in dieser „neuen Normalität“, fühlte er sich dafür (mit-) verantwortlich?[«7]
Je schneller wir uns an das Format des Online-Lernens gewöhnen – da es uns auch immer wieder als das erfolgversprechendste Zukunftsmodell für das gesamte Bildungswesen respektive seinen Fortschritt empfohlen wird[«8] – desto geringer fällt das Zeit- und Aufmerksamkeitsquantum aus, um all dem nachzuspüren, was durch dieses künstliche Lernsetting abgekoppelt wird und verlorengeht. Da das E-Learning aber lauter denn je als Lösung des Problems in der und für die Krise und darüber hinaus propagiert wird – wo es doch eigentlich nur ein Notbehelf ist[«9] – verlieren wir durch das Disruptive, durch das unser Handeln neu ausgerichtet wird, die Empfindung für das Abgekoppelte und Verlorengegangene. Dieses löst sich dadurch aber nicht auf, sondern addiert sich vielmehr auf der Rückseite unserer digitalen Betriebsamkeit zur schwersten Hypothek der bislang größten Bildungskrise auf[10], in die wir durch die Corona-Maßnahmenpolitik geraten sind und bei der immer noch kein Licht am Ende des Tunnels erkennbar wird. Eher drohen – mit der abermaligen Veränderung des Infektionsschutzgesetzes – neuerliche Verschärfungen.
Diese Gedanken gaben so oder so ähnlich die latente Sinnstruktur für den Plan ab, der wie gesagt im Januar entstand und über den wir – zwei seit Studientagen befreundete Kollegen – uns praktisch dann sehr schnell verständigen konnten.
1.2. Der Ansatz der Studie und ihre Ergebnisse im Lichte einer verfehlten Politik
Im Februar – unter dem Eindruck dieser anhaltenden Ungewissheit, die dem Leben und dem eigenen Tun einerseits etwas schwebend Unwirkliches, andererseits so etwas unaufhebbar Schweres, Unbewegliches gibt – aufgrund der Tatsache, dass es uns als Pädagogen verwehrt ist, überhaupt einen Einfluss auf Dauer und Ausgestaltung dieser Zeit zu nehmen – haben wir dann den Fragebogen konzipiert und ihn den Schüler:innen geschickt. Von vorneherein war das Projekt gedacht als eine auf Freiwilligkeit beruhende Einladung zur Selbstwahrnehmung und -reflexion. Eine Gelegenheit, einmal aus dem Hamsterrad, das aus dem schulischen in den häuslichen Bereich verschoben und dabei gleichsam beschleunigt wurde, auszubrechen. Wir wollten der von uns als lähmend empfundenen Situation, mit der wir tagtäglich konfrontiert sind, etwas entgegensetzen. Deshalb war uns die Betonung des außerschulischen Charakters dieser Studie besonders wichtig. Auf keinen Fall sollte der Eindruck erzeugt werden, dass es sich bei der Beteiligung daran um eine „Pflichtveranstaltung“ oder quasi eine „erweiterte Hausaufgabe“ handele. Es ging uns darum, die Schüler:innen gezielt ganzheitlich anzusprechen, um ihnen auch leichter den Weg zu ebnen, ganzheitlich (also nicht fixiert auf die Schüler:innenrolle, bei der in den Reaktionen und Antworten immer schon die Erwartung der Lehrer:innen antizipiert werden) zum E-Learning im Kontext ihrer gesamten Lebenssituation Stellung zu nehmen.[«11]
Diesen ganzheitlichen Ansatz vermissen wir auch schmerzhaft im aktuellen Diskurs über die Fragen nach einem angemessenen Gesundheitsbegriff. Denn ein angemessener Gesundheitsbegriff, ganz im Sinne der WHO[«12], müsste als Richtschnur dem staatlichen Handeln in der Pandemie-Bekämpfung zugrunde gelegt werden, um die aus dem Gesundheitsbegriff abzuleitenden Folgen überhaupt legitimieren zu können. Wir vermissen insbesondere die systematische Beachtung der Menschenrechte, zuvörderst die der besonders vulnerablen Gruppen (Kinder und alte Menschen), die die Politik mit dem allein auf COVID-19 abgestellten Gesundheitsschutz in eine immer stärkere Schieflage in Bezug auf zahlreiche andere, konfligierende Schutzbedürfnisse gebracht hat, die in einer Demokratie gegeneinander abgewogen werden müssten. Diese Schieflage führt dazu, dass die Politik in den Augen vieler Bürger:innen immer inkonsistenter und dadurch unglaubwürdiger agiert. Denn durch das Coronavirus und die Ausrufung des epidemischen Notstandes wird die Gemeinwohlorientierung im politischen Entscheidungsprozess ja nicht kurzerhand aufgehoben.
Angesichts der fehlenden umfassenden Analyse der allgemeinen gesellschaftlichen Gefährdungssituationen, der Verantwortungsdiffusion bei den politischen Entscheidungsträgern und der „Systemrelevanz“ von Bereichen, an die die Frage ihres funktionalen Offenhaltens oder (anhaltenden) dysfunktionalen Schließens gekoppelt wird, täte eine Überwindung der geradezu manischen Fixierung auf die Coronainfektions-Fallzahlen – die strenggenommen lediglich positive Tests sind – und des absolut gesetzten Blicks ausschließlich und isoliert auf das SARS-CoV-2-Infektionsgeschehen Not. Es ist lange evident, dass unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft unterschiedlich stark vom Infektionsrisiko betroffen sind. Angemessen wäre es, die besonders vulnerablen Gruppen in das Zentrum der Maßnahmenpolitik zu stellen und dafür möglichst passgenaue Konzepte zu entwickeln. Ebenso klar ist, dass sich die Maßnahmen dabei nicht – wie bisher – auf die Abwehr der Virusgefahr beschränken können, da für junge Menschen ein nur sehr geringes Risiko besteht, ernsthaft an SARS-CoV-2 zu erkranken.[«13] Das bedeutet, dass die Vulnerabilität von Kindern eine andere ist, als die von Risikogruppen-Angehörigen, Vorerkrankten und sehr alten und gebrechlichen Menschen, daher aber per se nicht weniger beachtet werden muss. Wenn der Staat in Form seiner Regierung es hinnimmt, dass über fünf Monate – und mit Einbezug des ersten Lockdowns vor einem Jahr, sogar noch länger – die Schulen weitgehend geschlossen bleiben, das Kinderhilfswerk UNICEF von der größten Bildungskrise spricht und die UN inzwischen vor einer weltweit verlorenen „Corona-Generation“ der heute unter 18-Jährigen warnt[«14], muss gefragt werden, welches „System“ für die Regierung denn eigentlich „relevant“ ist? Soviel steht fest: Ein System, in dem die Interessen und Bedürfnisse, die Entwicklungschancen und die Aspekte der Generationengerechtigkeit der Kinder und Jugendlichen vorrangige Berücksichtigung finden, ist es jedenfalls nicht. Denn dort müssten unter Gesichtspunkten der Nachhaltigkeit solch gravierende Entscheidungen auch die langfristigen Folgen, die sich aus der Beachtung oder Nicht-Beachtung dieser Gruppe ergeben (einer Gruppe, die – ohne ihre Familien /bzw. die Anzahl der Alleinerziehenden mitzuzählen – aus immerhin etwa 14 Millionen Menschen besteht) durch die heutige Politik in die Gesamtrechnung des gesellschaftlichen Schadens bzw. der Schadensbegrenzung durch die Maßnahmen gegen COVID-19 mit einfließen. In diesem Zusammenhang muss dem Entwicklungsargument in Begriffen der Eigengesetzlichkeit und Eigenzeitlichkeit von Seiten der Politik endlich Rechnung getragen werden:
„Der Faktor Zeit spielt in jungen Lebensphasen eine zentrale Rolle. Ein Jahr im Alltag von jungen Menschen hat eine andere soziale, qualifaktorische, körperliche und persönliche Entwicklungsdynamik als im Erwachsenenalter. Die Folgen der Einschränkungen in der Kindheit und Jugend schreiben sich in den biographischen Verlauf nachhaltig ein. Deswegen gilt es die Folgen abzufedern und auszugleichen.“[«15]
Solange das Entwicklungsargument nicht berücksichtigt wird, muss davon ausgegangen werden, dass die immensen Probleme der Kinder und Jugendlichen weiter unter dem Rubrum der „Kollateralschäden“[«16] subsummiert werden sollen – was ihrer Marginalisierung gleichkommt. Dies ist vor allem auch deshalb nicht einfach hinnehmbar, weil sich die Bundesrepublik Deutschland mit der Unterzeichnung der UN-Kinderrechtskonvention völkerrechtlich verpflichtet hat, die Vorrangigkeit der Grundrechte und Schutzbedürfnisse für Kinder und Jugendliche anzuerkennen.[«17]
So stellte die Studie „Krisengerechte Kinder statt kindergerechtem Krisenmanagement?“ des Magdeburger Professors für Kinderpolitik, Michael Klundt, bereits im Juni 2020 fest,
„dass praktisch alle Entscheidungen und Maßnahmen der Politik in dieser Zeit“ (der Corona-Krise, Anm. F.J. / B.S.) „völkerrechtsverstoßend und bundesgesetzwidrig ohne vorrangige Berücksichtigung des Kindeswohls vorgenommen worden [sind]. (…) Kinder hätten besonders unter Einschränkungen wie Kontaktsperren, Ausschluss von Bildung sowie Spiel- und Sportplatzverboten zu leiden gehabt. Auch in der Lockerungsdebatte habe die Situation der Familien im Hintergrund gestanden. (…) Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen seien fast gar nicht vorgekommen. Diese hätten zudem das Gefühl, auf ihre Rolle als Schüler reduziert zu werden, während fast alle anderen außerschulischen Lebensbereiche jugendlicher Erfahrung völlig ausgeblendet worden seien. (…) Die bislang erhältlichen, spärlichen Studien zeigten zudem, dass sich mit Blick auf die Kinderarmut in Deutschland die soziale Kluft verstärkt habe.“[«18]
Statt dass zumindest die Zeit nach dem ersten Lockdown von den politisch Verantwortlichen in Bund und Ländern gemeinsam genutzt worden wäre, um die offenkundigen blinden Flecken im Krisenmanagement aufzuarbeiten, bestand nach dem Beschluss eines zweiten Kinder- und Jugend-Lockdowns die einzige Veränderung darin, dass jetzt weitgehend – bis auf wenige Ausnahmen – die Versorgung mit Online-Unterricht in den einzelnen Schularten hergestellt werden konnte.
Wie schon erwähnt, kann man dies als einen Erfolg betrachten. Aber doch wohl nur dann, wenn man die Aussagen aus den Studien zur Vernachlässigung, ja Missachtung der Kinderrechte[«19] dabei nicht in Betracht zieht. Im März 2020 war es durch den damals quasi über Nacht hereinbrechenden Krisen- und Panik-Modus noch nachvollziehbar, dass der Staat aufgrund der fehlenden Informationen bzw. wissenschaftlich schwierigen Datenlage über die Gefährlichkeit des SARS-CoV-2-Virus, generelle und rigide Maßnahmen, Anordnungen und Verbote über nahezu alle Bereiche – bis auf die der Konzernstrukturen innerhalb der Ökonomie – erließ. Nach über 15 Monaten Corona-Krise, dem zweiten Lockdown und der sogenannten „dritten Welle“ ist es aufgrund einer Vielzahl von evidenzbasierten Untersuchungs- und Forschungsergebnissen zum Virus, seiner Infektiosität in Bezug auf unterschiedliche Lebensalter sowie den validierten Aussagen über das allgemeine, von SARS-CoV-2 ausgehende Ansteckungsrisiko nicht mehr vermittelbar, auf der Basis solcher unspezifischen, flächendeckenden Maßnahmen weiterhin eine so zielungenaue Corona-Eindämmungspolitik zu fahren, die in mehrfacher Hinsicht eine schier unübersehbare Menge an „Kollateralschäden“ erzeugt.
Schon im Januar 2021 warnte ein die NRW-Landesregierung in der Corona-Politik beratendes Expertengremium, zu dessen Mitgliedern Virologen und Medizinethiker, aber auch Wirtschaftswissenschaftler gehören:
„Das ermüdende Narrativ, die Krise könnte diesmal durch diese oftmals allzu unspezifischen Maßnahmen langfristig bewältigt werden, ist weder sachlich, noch im Hinblick auf die gesellschaftliche Stimmung zielführend.“ Dafür gelte es zunächst „die Struktur und Dynamik des epidemiologischen Geschehens besser zu erfassen. Denn es sei erstaunlich und nicht hinnehmbar, dass über Ansteckungsorte sowie die Dynamik des epidemiologischen Geschehens seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 immer noch zu wenig bekannt ist.“[20]
Während man also einerseits laut Claudia Kittel, Leiterin der Monitoring-Stelle zur UN-Kinderrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte, zulässt, dass man sich in Deutschland über die völkerrechtlich verbrieften Beteiligungsrechte der Kinder hinwegsetzt[«21], reduziert man andererseits das Leben der Kinder und Jugendlichen auf ihre Schüler:innenrollen und tut so, als ob der Distanzunterricht einen adäquaten Ersatz für die weiteren Schulschließungen darstelle.
Es ist aber das alarmierende Kennzeichen von allen bislang durchgeführten Untersuchungen zur Lebens- und Lernsituation der Kinder und Jugendlichen unter den erzwungenen Bedingungen des Homeschoolings, dass die psychosozialen Voraussetzungen des Lernens im Vergleich zum Lernerfolg zu 70 – 90% aller Fälle negativ korreliert sind. D.h. für die allermeisten Schüler:innen finden im Homeschooling keine Lernfortschritte, sondern größtenteils – je nach Elternhaus – massive Lernrückschritte statt. 10 – 30% der Schüler:innen können ihren Leistungsstand lediglich halten, signifikant aber nicht ausbauen.[«22]
Darüber hinaus wirkt sich das Homeschooling unter den Bedingungen eines historisch bislang einzigartigen Einschlusses einer ganzen Kinder- und Jugendgeneration in zunehmend dramatischer Weise auf ihre psychische und physische Gesundheit aus.
Derweil hält unverdrossen die verklärende Diskussion um die vermeintlichen Chancen an, die die „digitale Bildung“ als Retterin in der Not der Corona-Krise den Schulen bringt, wenn man sie nur richtig (nämlich vor allem voll umfänglich, wie es die von der Digitallobby gesponserten Seiten im Internet dem Leser suggerieren wollen) zu nutzen weiß. Tatsächlich führt sie eine kognitive Dissonanz ins Feld, die immer schwerer auflösbar erscheint. Welche Zusatzannahmen müssen gemacht bzw. zumindest in Betracht gezogen werden, um hier Erklärungsgrund unter die Füße zu bekommen? Die „schocktherapeutisch“[«23] erfolgende Durchsetzung des digitalen Fernunterrichts muss dazu unbedingt im Kontext des neoliberalen Umbaus des Schulsystems gesehen werden, der seit etwa 30 Jahren die Bildungslandschaften umkrempelt.[«24]
Neben der vermeintlichen Messbarkeit von Lernen und Bildung – vermeintlich, da Lernen und Bildung sich nicht messen lassen! – sind Vereinheitlichung, Standardisierung, Transparenz, Datafizierung und Zentralisation die Schlüsselbegriffe für diese ökonomistische Deformierung von Bildung. Worauf dies im Zusammenhang mit der Rolle des digitalisierten Fernunterrichts in der „schönen neuen neoliberalen Welt“ hinausläuft, deutete der ehemalige apostolische Nuntius (Botschafter) des Vatikans in den USA, Carlo Maria Vigano, vor kurzem an:
„Wir wissen, dass (…) ‚Fernunterricht‘ mit sehr schwerwiegenden psychologischen Folgen für Kinder und Jugendliche erteilt wird. Mit dieser Operation wird heute der Grundstein dafür gelegt, dass eines Tages der über das Internet angebotene Unterricht vereinheitlicht werden kann, indem entschieden wird, welche Lehrer Unterricht geben dürfen und was sie zu sagen haben, und es würde mich nicht wundern, wenn diese angepasste Form der Bildung bald eine immer geringere Anzahl von Lehrern umfasst: ein einziger Geschichtsprofessor für alle Schüler einer Nation, mit einem Programm, das eng definiert und kontrolliert ist. Das ist keine ferne Realität, jeden Studenten zu verpflichten, sich online anzuschließen. Auf einen Lehrer an ihrer eigenen Schule können sie nicht mehr zurückgreifen, weil der in den Ruhestand gezwungen oder aus dem Unterricht entfernt wurde, als Konsequenz dafür, weil er sich nicht an die Befehle der Macht hält. Wir dürfen uns auch nicht wundern, wenn die neuen ‚Lehrer‘ (..) nur noch künstliche Intelligenzen sind.“[«25]
Dass trotz dieser wohlbegründeten Warnungen weiter bestehende Positivimage des Online-Lernens erinnert uns stark an das, was und wie ein Pionier der Computerforschung, der MIT-Professor und spätere Kritiker der Künstlichen Intelligenzentwicklung, Joseph Weizenbaum, auf die Frage eines Journalisten: „Aber es ist doch nicht zu leugnen, dass mit Hilfe des Internets viele weit voneinander entfernte Menschen miteinander kommunizieren können, die sich vorher nicht kennengelernt hätten?“, geantwortet hat. Nur dass man im Fall des Homeschoolings das Wort „Freundschaft“ durch die Worte „Lernen“ bzw. „Unterricht“ ersetzen müsste.
Weizenbaums Replik:
„Aber sie lernen sich ja auch jetzt nicht kennen. In den USA gibt es zahllose Projekte, die zum Ziel haben, dass amerikanische Kinder mit Kindern in Australien oder anderswo über das Internet in Verbindung treten. Sie schreiben Mails hin und her“ (Anm. F.J. / B.S.: Heute würden sie skypen und vielleicht Snapchat-Videos von sich schicken) „tauschen sich aus. Damit wird die Illusion geweckt, amerikanische Kinder lernen australische Kinder kennen. Aber das ist es ja nicht. Sie lernen sie nicht kennen. Sie beschäftigen sich vielmehr mit ihrem Computer, anstatt zum Beispiel mit ihren Schulkollegen oder Kindern aus der Umgebung zu spielen. Es findet keine menschliche Begegnung statt, sondern eine Pseudobegegnung.“[«26]
Und, muss man heute hinzufügen: So wie Online-Freundschaften Pseudobegegnungen sind, so ist häuslicher Computer-Fernunterricht ein Pseudo-Unterricht. Um Missverständnissen vorzubeugen: Damit soll nicht behauptet werden, dass nicht (altersgerecht und entsprechend angeleitet) am häuslichen Computer gelernt werden kann. Es gehört aber zur Signatur einer Krise, dass – sofern sie einen wie die Corona-Krise fast ganz auf sein privates Wohnumfeld zurückwirft – die Systeme der materiellen und kulturellen familiären Reproduktion instabil werden, z.B. durch Arbeitsplatzsorgen bei den Eltern, finanzielle Mehrbelastungen, Doppelbelastungen durch die Anforderungen von Homeschooling und Homeoffice (zumal in beengten Wohnverhältnissen), Sorge um die Kinder wegen fehlender Bildung und ihres Herausfallens aus der sozialen Integration, Fürsorge- und Beaufsichtigungsproblemen bei weiter außer Haus arbeitenden Eltern, psychisch wachsende Belastungen durch fortgesetzte Sozialquarantäne. In solchen Lagen stehen zu viele lebensweltliche Bedingungen dem Lernen zuhause im Wege.
Darüber hinaus gilt es, bei der Bewertung des digitalen Fernunterrichts der kategorialen Differenz von häuslichem und schulischem Lernen eingedenk zu sein:
„Schulisches Lernen ist seinem Wesen nach kein technisches, sondern ein subjektives und interpersonales Geschehen. Häusliches Lernen ist kein bloßer Orts- und Kurswechsel, sondern ein ganz anderes Bildungssystem mit anderen Voraussetzungen, Zielen und Formen. Während die Schule Lernprozesse und -Gegenstände elementarisiert, entwickelt und entfaltet, schrittweise und systematisch zum komplexen Verstehen anleitet, ist das außerschulische Lernen – darunter das häusliche – unmittelbar viel komplexer, lebensnäher, ungeregelter, chaotischer und nur sehr begrenzt, z.B. beim Üben, ‚elementarisiert’ und systematisch entwickelt. Das gibt dem Einen gegenüber dem Anderen keinen höheren Wert (…), aber es bedeutet (…), dass das häusliche Lernen unmöglich die bloße Fortsetzung, Verlängerung oder Ersetzung der Schule sein kann.“[«27]
Was muss noch passieren, damit wir den Placebo-Charakter des E-Learnings erkennen? Zumal dann, wenn wir die häuslichen Störquellen identifiziert haben, die beständig mit den Lernanforderungen interferieren? Wann bekommen die mittlerweile breit angelegten Studien, die uns ein weitaus gesicherteres Wissen als noch vor einem Jahr zur Wirksamkeit des Online-Unterrichts vor seinem flächendeckenden Einsatz in der Corona-Krise vermitteln können, die Aufmerksamkeit, die sie verdient haben? So z.B. die vom Schulpädagogen Klaus Zierer, Universität Augsburg, durchgeführte Meta-Analyse mit 600.000 Lernenden aus drei Nationen, die sehr große Lerndefizite belegt:
„Das Ergebnis ist eindeutig und nicht überraschend: In allen untersuchten Ländern haben die Schulschließungen mit Distanzunterricht zu einem negativen Effekt auf Seiten der Lernenden geführt. Der Rückgang der Lernleistungen entspricht durchschnittlich und hochgerechnet auf ein Schuljahr etwa dem Verlust eines halben Schuljahres. Er ist damit größer als die Dauer des Lockdowns selbst, weil sie die eingefangenen Lernrückstände im Laufe des Schuljahres aufgrund fehlender pädagogischer Unterstützungsmaßnahmen noch weiter verstärken.“[«28]
Im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen, deren Zukunft durch die Politik gerade verspielt wird, appellieren wir an alle, die guten Willens sind, die Schäden einer nicht durchdachten Politik nun endlich zu begrenzen und die Fehler zu korrigieren, die die Agenda der Corona-Eindämmungspolitik bis zum heutigen Tag bestimmen und immer stärker negativ prägen:
„Letztlich alleinig auf Basis massenhafter PCR-Testungen (und nicht der tatsächlichen Virusgefahr) wurde erstmals – außerhalb von Kriegszeiten – eine ganze Generation kollektiv traumatisiert. Sprichwörtlich über Nacht haben vor allem (aber nicht nur) Politik und Schulbehörden Kinder zu „kleinen Erwachsenen“, zum Objekt von Angst, Mutmaßung und Irrtum gemacht.“[«29]
Relevante Fakten, Entwicklungen und Erkenntnisse, die von der Politik weiter ignoriert werden
2.1. Fortlaufende Situation im Homeschooling: Die Lebens- und Lernsituation unserer Kinder und Jugendlichen wird immer prekärer
Es liegen inzwischen – Einblicke dazu wurden schon durch das vorangegangene Kapitel eröffnet – einige, auch repräsentative Studien aus der Zeit des ersten Lockdowns 2020 vor, welche auf die verheerende Situation von Kindern und Jugendlichen und dabei sowohl auf die großen Lernverluste durch die Schulschließungen, als auch die desolate psychische Situation von Schüler:innen hinweisen. Da ist zum einen die schon oben erwähnte von einem Team internationaler Bildungswissenschaftler der Universität Oxford durchgeführte Studie in den Niederlanden[30] zu nennen, die – obwohl die Niederlande, was den Fernunterricht angeht, Deutschland um Meilen voraus ist – einen kaum vorhandenen Lernfortschritt und verheerende soziale und ökonomische Auswirkungen insbesondere für Kinder aus benachteiligten Verhältnissen konstatiert, wobei davon auszugehen ist, dass demnach die Lage in Deutschland sogar noch schlechter ist, „[d]enn die Studie zu den Niederlanden fand unter den idealen Bedingungen eines nur achtwöchigen Lockdowns im Frühjahr bei einem hohen Stand der Digitalisierung der Schulen statt. Letzterer sei in Deutschland bekanntlich nicht gegeben“, so Bildungsökonom Ludger Wößmann vom Ifo-Institut in München[«31]. Aber auch die vom Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf durchgeführte Copsy-Studie[«32] stellt fest, dass bereits im ersten Lockdown Kinder und Jugendliche psychisch stark unter der Corona-Situation litten und aktuell sich vier von fünf der Befragten Kinder und Jugendlichen belastet fühlen. Das Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen habe sich verschlechtert, die Ernährung sei ungesünder – inzwischen geben neu veröffentlichte Statistiken an, dass Kinder 30 % mehr an Süßigkeiten konsumieren und 31% der Eltern sagen in Befragungen, dass ihre Kinder im Lockdown zugenommen hätten[«33] sie trieben keinen Sport mehr, würden ihre Freunde nicht mehr treffen und es gebe mehr Streit in den Familien, eine Zunahme von Problemen in der Schule und der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit einer geminderten Lebensqualität sei von 30% vor der Pandemie auf 70%, im zweiten Befragungszeitraum Dezember 2020 bis Januar 2021 gestiegen. Dabei hat die Copsy-Studie bei einer weiteren Befragung mitten in der zweiten Welle ergeben, dass 45% der Befragten den zweiten Lockdown als noch belastender empfinden als den ersten Lockdown.[«34]
2.2. Unterprivilegierte Kinder und Jugendliche werden um ihre schulischen Chancen gebracht
Aber auch diese Befragung liegt inzwischen mehrere Monate zurück und zurzeit wird über eine dritte Welle und in dem Zuge über abermalige bzw. erneut verlängerte Schulschließungen diskutiert. Da scheint es uns wichtig, auf die seitdem weiter verschärfte Situation der von uns befragten Jugendlichen noch einmal einzugehen – und zwar aus der Perspektive der sozialkognitiven Kompetenzförderung und den Folgen einer fortdauernden Nicht-Förderung der kognitiven Potenziale eines bestimmten Schüler:innen-Segments. Wichtig in dem Zusammenhang ist, dass viele der befragten Schüler:innen von einer sogenannten KESS-1-Schule stammen. Hierbei handelt es sich also um eine Schülerschaft, an der sich der Ausspruch von UNICEF-Exekutivdirektorin Henrietta Fiore bewahrheitet, dass die „am meisten benachteiligten Kinder […] den höchsten Preis“[«35] zahlen. Den Hamburger Sozialindex, der theoretisch auf der von Pierre Bourdieu begründeten soziologischen Theorie des Kapitals basiert, gibt es seit 1996. Er versucht die durch verschiedene soziale und kulturelle Zusammensetzungen der Schülerinnen bedingten, unterschiedlichen Rahmenbedingungen Hamburger Schulen zu beschreiben und ordnet diese auf einer Skala von 1-6 an, wobei die 1 für sehr schwierige, die 6 für sehr begünstigte soziale Rahmenbedingungen steht.[«36] Zur Berechnung werden sowohl Schüler:innen und deren Eltern schriftlich befragt, als auch regionale Strukturdaten herangezogen. So fließen neben dem Anteil Arbeitsloser oder der Wahlbeteiligung in dem statistischen Gebiet auch das kulturelle Kapital, zum Beispiel mit der Anzahl der zu Hause zur Verfügung stehenden Bücher, den erreichten Bildungsabschlüssen der Eltern oder der Anzahl von Museumsbesuchen, das ökonomische Kapital im Sinne des Einkommens, das soziale Kapital im Sinne der Freizeitgestaltung und der elterlichen Bildungsaspiration sowie Migrationshinweise in die Datenbasis ein.
Die in unserer Untersuchung berücksichtigten Schulen sind Stadtteilschulen (auf denen man ebenfalls in neun statt an den Gymnasien mit acht Jahren bis zum Abitur gehen kann) und haben einen Sozialindex von 1 beziehungsweise 4. Zur Einschätzung: Lediglich sieben weiterführende Schulen (allesamt Stadtteilschulen) in Hamburg haben einen sog. Kess-Faktor 1, immerhin 12 Stadtteilschulen in Hamburg haben einen Kess-Faktor 4.[«37] Nur 7 Stadtteilschulen weisen einen höheren Kess-Faktor 5 auf (allesamt in den gut situierten Stadtteilen Blankenese, Walddörfer, Poppenbüttel, Bergstedt, Niendorf oder die Reformschulen Max-Brauer und Winterhude). Die untersuchten Stadtteilschulen können also durchaus als repräsentativ für das untere, respektive das obere Segment der Stadtteilschulen im Sinne des Sozialindex gelten. Dabei fällt auf, dass sich insbesondere an der Stadtteilschule des unteren sozialen Segments die Situation weiter verschärft, je länger die Schulschließungen andauern.[«38]
Im Rahmen der KESS-Untersuchungen werden regelmäßig Kompetenztests in den Bereichen Deutsch, Englisch, Mathematik, Naturwissenschaften und Gesellschaftswissenschaften an den Schulen durchgeführt sowie Schülerfragebögen zu den fachbezogenen Einstellungen und Selbstkonzepten ausgewertet. Eine genaue Betrachtung der Ergebnisse zeigt, dass es gravierende Leistungsunterschiede im Stadtgebiet zwischen den Schulen, aber auch innerhalb der Schulen, gibt. Dabei gibt eine Differenz von 15 Punkten den Lernrückstand von ungefähr einem Schuljahr an. Für sozial benachteiligte Schüler:innen legen KESS-Auswertungen eine Interpretation nahe, vor deren Hintergrund die Ergebnisse unserer Untersuchung[«39] umso alarmierender erscheinen müssen. So weisen die Schüler:innen an KESS-1-Schulen im Klassendurchschnitt in Orthographie und im Leseverstehen einen Lernrückstand von einem Jahr im Unterschied zum Durchschnitt aller Stadtteilschulen in Hamburg auf. In den Naturwissenschaften ist der Lernrückstand noch eklatanter, hier werden mit 30 Punkten sogar zwei ganze Lernjahre Rückstand ausgewiesen. Ein Rückstand, für den selbst an der Stadtteilschule nur wenige Monate Zeit bleiben, um ihn aufzuholen. Und der bei nunmehr 25 von 38 nicht regulär erteilten Schulwochen im Laufe des letzten Jahres Folgen haben wird. In Deutsch weisen weit über die Hälfte der Schüler:innen nur Leistungen der unteren beiden Leistungsgruppen aus. In den Naturwissenschaften sind es sogar drei Viertel der Schüler*innen, die nur die unteren beiden Leistungsgruppen erreichen.
Und das, obwohl annähernd der Hälfte der Schülerinnen durch die Lernstandsuntersuchungen ein überdurchschnittliches oder sehr hohes kognitives Potenzial bescheinigt wird! Es handelt sich also um Schüler:innen, die unter den Bedingungen einer angemessenen Förderung eher überdurchschnittliche Ergebnisse erreichen sollten. Genau diese Förderungen entfallen nun schon 25 Wochen komplett für sie. Wenn wir einzelne Schüler:innen genauer unter die Lupe nehmen, lassen sich Lernrückstände von bis zu vier Schuljahren feststellen, was 85 von durchschnittlich 146 Leistungspunkten bedeutet. Und das bei einem in der gleichen Untersuchung bescheinigten überdurchschnittlichen kognitiven Potenzial. Es ist augenscheinlich, dass es Schüler:innen mit einem solchen Leistungsrückstand nicht möglich ist, sich „Dinge selbst beizubringen“. Von den knapp drei Jahren, die ihnen bleiben, um sich auf das Abitur vorzubereiten, ihnen noch mehr als ein halbes Jahr zu rauben und ihnen dazu noch fast alle Räume persönlicher Entfaltungsmöglichkeiten zu schließen, grenzt schon an Körperverletzung.
2.3. Nehmen wir die Traumatisierung einer ganzen Generation hin? Kurze Phänomenologie der Folgen des Kinder- und Jugend-Lockdowns
Und diese einschneidenden Verletzungen, die diese besonders vulnerable Gruppe erleidet, ist durchaus auch aus Lehrer:innensicht zu bemerken, denn mit der zunehmenden Länge der Schulschließungen versickern auch die Reaktionen auf E-Mails, Nachrichten oder andere Kontaktaufnahmeversuche, die unter diesen Umständen pandemiekonform noch möglich sind. Von knapp der Hälfte der Schüler:innen der Lerngruppe, die bei den Videokonferenzen oft nicht mehr anwesend ist, hat sich ein Teil immerhin noch abgemeldet oder entschuldigt (übrigens immer häufiger direkt aus psychischen Gründen), aber den anderen Teil versucht man dann über Messenger oder andere Wege zu erreichen, um am Nachmittag gegen 16:00 Uhr die Reaktion zu erhalten, man habe leider verschlafen. Dafür kommen von anderen Schüler:innen die Arbeitsergebnisse meist in der Zeit zwischen 23:00 Uhr und 4:00 Uhr nachts auf dem E-Mail-Account an, die Zeugnis einer um sich greifenden Schlaflosigkeit ablegen und die bereits in der Studie krass zum Vorschein kommende Virulenz an Entgrenzungsproblemen und Dissoziationserfahrungen bestätigt, die komplementär zum Verlust jedes psychischen Halts gedeutet werden müssen.
Dass dies mitnichten als ein Einzelschicksal anzusehen ist bzw. eine singuläre Erscheinung ist, zeigen uns die zugesandten Reaktionen anderer Kolleg:innen, in denen es beispielsweise heißt:
„Mein Fernunterricht betraf Lerngruppen der Klassen 8, 10, 12 und 13. Insgesamt habe ich den Eindruck, dass dieser Unterricht nur sehr eingeschränkt erfolgreich war. Zum einen hatte in allen Altersgruppen mehr als ein Viertel (!) der Schüler*innen wiederholt Probleme mit der Technik, zum anderen gestanden viele Schüler*innen (etwa ein Drittel) offen ein, dass sie einfach Hemmungen hätten, sich online zu äußern. Auffällig war, dass vor allem leistungsschwache Schüler*innen Probleme mit dem Fernunterricht hatten, denn sie lieferten deutlich weniger mündliche und schriftliche Beiträge ab als im analogen Unterricht. Was die Lage verkompliziert ist die Tatsache, dass diese Schüler*innen nicht nur in ihrer Entwicklung stagnieren, bei vielen ist sogar ein eindeutiger Regress zu beobachten. Diese Schüler*innen konnten bei Nachfragen oft auch einfache Fragen nicht mehr beantworten und waren deswegen selbst unglücklich und frustriert. Für mich als Lehrer war es fast schmerzhaft zu erfahren, dass komplexe Lernsituationen, die ich mit mimischen und gestischen Mitteln problemlos im Präsenzunterricht vereinfachen kann, im Onlineunterricht zu unüberwindlichen Hürden wurden, da wir aufgrund der meist wackeligen Verbindungen die Kameras ausschalten mussten. Die schwächeren Schüler*innen verstanden das zu lösende Problem nicht und schwiegen dann ins Mikrofon.
Dieses Ergebnis nach einem Jahr ‚Herumlockdownens’ dürfte aber eigentlich niemanden überraschen, denn Forschungen in den USA haben schon vor Jahren gezeigt, dass besonders nach den langen Sommerferien, in denen sozial schwache Schüler*innen kaum bildungsrelevante Stimuli zuhause erhalten, ein dramatischer Leistungsabfall bei diesen zu beobachten ist. Mit anderen Worten, lange schulfreie Zeiten gefährden für sozial benachteiligte Schüler*innen den Bildungserfolg. Ob diese Lücke durch die übliche behördliche Flickschusterei (z.B. punktuelle Nachhilfe- und Förderkurse durch wenig qualifiziertes Personal) wieder geschlossen werden kann, darf bezweifelt werden.“
Und auch von Elternseite wird die Misere ja zweifelsohne erkannt – und durchlitten:
„In den Medien wird es oft so dargestellt, als sei die digitale Schule die Rettung der Bildung in Zeiten von Corona – das stimmt leider nur in sehr eingeschränktem Maße. Die Entfremdung, die Bildschirm-Arbeit, die Isolation und auch die Art der Aufgabenerteilung (Lehrer*innen können nicht abschätzen, was allein erarbeitbar ist, wenn Aufgaben anstelle von Unterricht erteilt werden und es keinen Abstimmungsprozess über alle Fächer gibt) führt zusammen mit dem fehlenden persönlichen Austausch für viele Schüler*innen in die Überarbeitung und Überforderung.
Meine Kinder sind inzwischen so ungefähr bei einer 50 Stunden Woche angekommen. Es wird oft bis nachts gearbeitet, Erholung muss irgendwie in kurzen Phasen eingeplant werden, wenn sie überhaupt in dem zu schaffenden Pensum irgendwo hineinpasst. Wohlgemerkt – Wochenenden inklusive! Hinzu kommt ein Bombardement von jederzeit aufploppenden Nachrichten zu Hausaufgaben, Zoom-Konferenzen etc. Da würden auch einige Erwachsene in die Knie gehen. Es scheint mir wie eine vorgezogene berufliche Management-Tätigkeit, bei der man in manchen Firmen ja auch sein Menschsein an der Pforte abgeben muss.“[40]
Während bei den Schüler:innen behüteter, materiell gut und mit größerer Wohnfläche ausgestatteter Elternhäuser sich das Problem eher in terms von gesteigertem Leistungsdruck und zusätzlicher enormer Beanspruchung stellt, die sich auf Kinder und Eltern nahezu gleichermaßen verteilt und die Homeschooling-Anforderungen das ganze eingespielte lebenspraktische Ensemble auf die permanente „Überholspur“ eines deutlich noch erhöhten Leistungs- und Belastungsdrucks zwingen, schaffen es Schüler:innen aus weniger privilegierten Familien nicht mehr, am angebotenen Fernunterricht teilzunehmen, weil sie – ohne oder mit zu wenig Unterstützung – vor den Anforderungen kapituliert haben.
Sie kommen aber auch nicht unbedingt, beziehungsweise nur sehr sporadisch, mit Hilferufen aus sich heraus, in denen es heißt, dass sie zurzeit nicht weiter wüssten, sich alles eintönig anfühle und unendlich lang (Dissoziation der Zeiterfahrung), dass sie seit drei Monaten dasselbe Gefühl hätten (Monotonie) und es allen in ihrem Umfeld gleich gehe, dass es sie traurig mache zu sehen, was aus ihrem Leben geworden sei (Depression) und so weiter. Diejenigen, die es schaffen, sich ordnungsgemäß vom Fernunterricht abzumelden, weil sie von einer psychischen Krise in die andere taumeln, gehören fast schon zu den lucky few. Andere sind kaum noch erreichbar, weder durch den schulischen Beratungsdienst, noch durch die Schule selbst. Natürlich gibt es auch wenige, die mit der Situation weiterhin oder inzwischen gut zurechtkommen und die sich arrangiert haben. Aber insgesamt ist die Lage für mindestens die Hälfte der Schüler:innen zunehmend desolat und eine Entspannung nicht in Sicht. Insbesondere die fehlende Aussicht auf eine wie auch immer geartete Besserung der Situation ist es, die den meisten zu schaffen macht.
Wobei zu den (vergleichsweise wenigen) Schüler:innen, die das Homeschooling nicht als eine nicht enden wollende Malaise durchleiden, sondern teilweise sogar als eine Befreiung, jedenfalls persönlich als Erleichterung wahrnehmen, zu sagen ist, dass dies insbesondere Schüler:innen sind, die bisher schon schulvermeidende Verhaltensweisen gezeigt und so vielleicht im Homeschooling eine Zufluchtsmöglichkeit für ihre von Schulängsten malträtierte Seele gefunden zu haben scheinen, mit dem Lernen alleine und zu Hause gut klarkommen und gegebenenfalls ihre Leistungen sogar verbessern können. Diese werden aber nun in Zukunft bei den unweigerlich kommenden Wieder-Öffnungen von Schulen mit ihren umso stärker dann erneut aufflackernden Ängsten und Problemen ganz besonders stark zu kämpfen haben. Schulverweigerung bei introvertierten und unter Ängsten und Angststörungen leidenden Schüler:innen wird ein riesengroßes Thema werden, was die Schulpsycholog:innen und Therapeut:innen noch stärker, als das jetzt schon der Fall ist, beschäftigen wird. Die langen Schulschließungen und ein entsprechend immer später eintretendes Zurückkehren-Müssen in die Schule kann für diese Schüler:innen weitaus schlimmere Folgen haben, als wären sie durchgehend in den Schulen geblieben, darauf weisen ebenfalls erste Untersuchungen hin[«41].
2.4. Anhaltende Irritationen und unsere Initiative als ein Antwortversuch
Die Ergebnisse unserer Studie, die wir in dem Text „E-Learning – Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie…?“ ausgewertet und vorgestellt haben, sind zwar nur nicht-repräsentative Ergebnisse einer zahlenmäßig kleinen Stichprobe. Sie fügen sich aber bruchlos in das inzwischen durch „professionelle“ wissenschaftliche Studien entstandene Gesamtbild ein. Ihre negativen Befunde waren für uns daher nicht dazu angetan, nach der Veröffentlichung wieder zur Tagesordnung überzugehen. Schließlich handelt es sich bei den Betroffenen um unsere Schüler:innen. Und je länger der Schüler-Lockdown dauert, desto stärker fragen wir uns: Wo bleibt der Aufschrei unserer Kolleg:innen? Wo bleibt die Initiative der Lehrer-Gewerkschaften?
Müssen wir inzwischen wirklich glauben, dass das, was uns ein alter GEW’ler auf unsere Kritik hin geschrieben, eine gestaltförmig richtige Interpretation der vorherrschend anzutreffenden Einstellung bei den Lehrer:innen ist?
„Ich glaube, dass viele Lehrkräfte meiner Beobachtung nach ganz gerne im Distanzunterricht agieren, so wird mir das wenigstens von vielen GEW-Mitgliedern bestätigt. Da sind sie auf Distanz, haben keine Disziplinstörungen, müssen im Unterricht nicht individuell auf die Schülerinnen und Schüler eingehen und differenzieren. Digitalisierung ja, wenn man sich schnell und leicht einarbeiten kann und dadurch weniger zu tun hat…“
Wir scheuen jedoch davor zurück, uns diese Lesart zu eigen zu machen, denn das würde bedeuten, die Vorstellung zulassen zu müssen, dass zahlreiche Lehrer:innen eventuell bereit wären, die Entfremdung dieser Lernsituation hinzunehmen, insoweit sie ihrer eigenen Bequemlichkeit zugute kommt.
Relativ schnell nach den Veröffentlichungen regte sich in uns der Impuls weiterzumachen. Wir kamen überein, E-Mails an die Medien und die Parteien zu schreiben, um auf die Notwendigkeit eines raschen Handelns aufmerksam zu machen. Außerdem haben wir versucht, Kontakt zu den Lehrer-Gewerkschaften DLV und GEW aufzunehmen.
An die schul- bzw. bildungspolitischen Sprecher der Bürgerschaftsfraktionen von SPD, Grüne, CDU und Linke richteten wir einen Appell, die Belange der Kinder und Jugendlichen bei der Diskussion um die Corona-Maßnahmen endlich in den Fokus der politischen Entscheidungen zu stellen.
Außerdem schlugen wir gezielte Schritte dafür vor:
Von den Medien der Hansestadt reagierte nur die „Hamburger Morgenpost“ schnell und veröffentlichte binnen weniger Tage einen sehr informativen Bericht über unsere Studie[«42]. Immerhin sagte uns auch die Hamburger Lehrerzeitung (hlz), das Mitglieder-Magazin der GEW in der Hansestadt, eine Veröffentlichung in ihrer nächsten Ausgabe zu.
Verspätet realisierten wir, dass wir an eine Gruppe zunächst gar nicht gedacht hatten, nämlich ausgerechnet an die, um die es geht: die Kinder und Jugendlichen. Dies konnte kein Zufall sein, sondern spiegelt ein zentrales Problem in der ganzen Wahrnehmungsmatrix des Schul-Lockdowns wider. Die besonders von den Maßnahmen betroffenen Gruppen finden am wenigsten Gehör in der öffentlichen Debatte. Daraufhin schrieben wir eine E-Mail an die Schüler:innen-Kammer, auf die aber leider bisher nicht geantwortet wurde.[«43]
2.5. Das (Wieder-) Verstummen unserer Kinder und das „Stillhalten“ der Medien
Erst im März dieses Jahres gelang es einer spontanen Aktion Berliner Oberschüler, die auf einem Padlet (digitale Pinnwand) Eintragungen zu ihrer Stimmungslage nach Monaten des Schul-Lockdowns machten[«44], damit etwas überregionale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Erst danach, so hieß es, hätte sich „eine Schulpsychologin um die Jugendlichen gekümmert.“
Leider sind die Medien an diesem Thema nicht drangeblieben. Die wenigen Artikel, die z.B. im „Hamburger Abendblatt“ dazu erschienen sind, berichten alle nur über die Kinder und Jugendlichen und lassen vor allem Politiker und „Bildungsexperten“, im besten Fall noch „Kinderschützer“ zu Wort kommen. Nicht aber die Kinder und Jugendlichen selbst, sie bleiben auffallend stumm, obwohl die Kinderrechtskonvention ihre Anhörung in solchen Fällen verbindlich vorschreibt, und zwar schon bevor Maßnahmen in Kraft treten.
Deshalb möchten wir hier wenigstens, stellvertretend für viele weitere unter die Haut gehende Originalzeugnisse, drei Dokumente der Verzweiflung aus der Padlet-Sammlung[«45] wiedergeben:
2.6. Zur Reaktion der Politik
Was die Reaktionen der angeschriebenen Fraktionen in der Hamburger Bürgerschaft anbelangt, reicht für die Regierungsparteien SPD und Bündnis 90 / Die Grünen ein knapper Absatz.
Die SPD reagierte gar nicht.[«46] Die Grünen schickten uns eine Mail der persönlichen Referentin der schulpolitischen Sprecherin, die im Wesentlichen nur ein Eigenlob über ihre Politik enthielt und ansonsten dem von den Grünen gerne propagierten Gedanken der Bürgerpartizipation Hohn sprach (Tenor: Danke für ihre ungefragte Beteiligung – „nehmen wir mit“).[«47]
Bei den Oppositionsparteien CDU und Linke fanden wir dagegen Gehör. Die CDU kündigte uns in einer E-Mail der schulpolitischen Sprecherin Birgit Stöver an, sich für eine öffentliche Anhörung zu der Lage der Schüler:innen im Lockdown einzusetzen.
Die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Sabine Boeddinghaus, lud uns ein, im Landesarbeitskreis für Schul- und Bildungspolitik ihrer Partei unsere Studie und Positionen vorzustellen und mit den LAG-Mitgliedern zu diskutieren. Die Veranstaltung steht noch aus.
2.7. Die Reaktion der Gewerkschaften
Eine Einladung zu einer Online-Konferenz mit GEW-Vorstandsmitgliedern erhielten wir auch. GEW-Vorsitzende Anja Bensinger-Stolze antwortete prompt. Umso unverständlicher, dass wir trotz Nachfrage unsererseits danach nichts wieder von der GEW gehört haben. Vom Deutschen Lehrer-Verband erhielten wir bis dato keine Antwort.
Bedauerlicherweise ist es uns daher nur möglich, in diesem Text unser Befremden über die Positionierung der GEW zum Ausdruck zu bringen. Wir hätten das lieber persönlich gemacht, aber das Schweigen der GEW lässt uns hier leider keine andere Wahl. Im November schrieb der Hamburger GEW-Vorstand in der „hlz“ – Zeitschrift der GEW Hamburg – noch:
„Wir ermahnen den Senat, die Bürgerschaft im Kampf gegen die Corona-Pandemie stärker zu beteiligen, um die Akzeptanz der einschneidenden Maßnahmen bei der Bevölkerung auf eine breitere Legitimationsgrundlage zu stellen (…) Die aktuelle Entwicklung ist für die Demokratie, den Zusammenhalt der Gesellschaft und den allgemeinen Gesundheitsschutz problematisch.“[«48]
Aktuell – in den Presse-Erklärungen zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes § 28 – liest man von solchen Bedenken nichts mehr. Im Gegenteil: Obwohl der Inzidenzwert nicht dazu geeignet ist (als alleiniger Wert schon gar nicht!) wissenschaftlich verlässliche Aussagen über das bestehende Infektionsrisiko zu machen[«49], befürwortet die GEW die Steuerung der politischen Corona-Maßnahmen und die neu geplanten, verfassungsrechtlich hoch problematischen[50] Änderungen des Infektionsschutzgesetzes von diesem falschen, beliebig manipulierbaren Messwert weiterhin abhängig zu machen. Mehr noch: Würde es jetzt nach der GEW gehen, würde der (willkürlich gesetzte) Inzidenzwert für Schulschließungen noch weiter als in der Regierungsvorlage von 165 auf 100 verschärft werden – ein skandalöser Vorgang, der unseres Erachtens zeigt, wie stark die Diskussion des Gesundheitsschutzes in immer irrationalere Fahrwasser gerät.[«51] Besonders beschämend finden wir, dass der GEW in diesen Presse-Mitteilungen die Rechte von Millionen Schüler:innen keine Zeile wert sind.[«52]
Recht bald nach der Veröffentlichung unserer Studie wurden wir gefragt, was wir denn für Alternativen aufzeigen könnten?! Und obwohl es möglich sein muss, Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu üben, ohne gleich in Zugzwang zu geraten, einen konstruktiven Gegenvorschlag zu machen, wollen wir hier gerne den ein oder anderen Vorschlag vorlegen, wie die derzeitige Misere beseitigt werden könnte.
3.1. Politische Vorschläge:
Da sind zum einen die politischen Vorschläge, die wir auch schon in den oben erwähnten Schreiben an die politischen Verantwortungsträger unterbreitet haben, wie beispielsweise eine öffentliche Anhörung im Schulausschuss, bei der sich interessierte Bürger:innen und insbesondere Schüler:innen zu Wort melden können und Schulbehörde und Senat Rede und Antwort stehen müssen.
Entscheidender jedoch scheint uns die Aktivierung und Einbeziehung von Interessenvertretungen von Jugendlichen und damit eben auch Schüler:innen wie dem Deutschen Bundesjugendring, der Landesschülervertretungen, auch der Jugendorganisationen der Parteien (wo sind diese eigentlich als Kinder- und Jugendvertreter?) mit dem Ziel zu sein, einen Kinder- und Jugendgipfel durchzuführen, bei dem die eklatanten Verstöße gegen die Rechte von Kindern und Jugendlichen durch die in der Pandemie ergriffenen Maßnahmen thematisiert und aufgearbeitet werden können und mit den Jugendlichen um Perspektiven gerungen wird.
Darüber hinaus muss unbedingt die Expertise der Kinderärzte und der Kinder- und Jugendpsychiater und -therapeuten nachgefragt werden. Es ist haarsträubend, dass ganz offensichtlich nur noch Virologen über Maßnahmen zur Infektionsprophylaxe entscheiden. Kinderärzte und Kinder- und Jugendpsychiater können besser sagen, was nötig ist, um die vulnerable Gruppe der Kinder und Jugendlichen endlich besser und umfassender zu schützen.
Wichtig ist auch, das starre Korsett der (Zwangs-)Vorstellung abzulegen, dass alles ganz „normal“ weiterläuft. Es kann nur als Zeichen geistiger Erstarrung oder hochgradiger Verdrängung gedeutet werden[«53], so zu tun, als gäbe es keine besondere Situation, die besondere Maßnahmen und ein kreatives, phantasiebegabtes Herangehen an die Lage erforderlich macht. Dazu gehört auch viel mehr Freiwilligkeit, Flexibilität, auch ein gewisses Improvisationstalent im Umgang mit der Krise – und der Mut dazu! Gefragt sind wahrhaft kreative Wege aus der Krise (und nicht die Verschiebung der Abiturprüfung um eine Woche und die Verlängerung der Bearbeitungszeit im mittleren Schulabschluss um 30 Minuten)!
Da durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie die Rechte von Kindern und Jugendlichen massiv verletzt werden, während gleichzeitig über die Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz diskutiert wird – was man auch scheinheilig nennen könnte – ist endlich eine zentrale Beschwerdestelle (die die UN-Kinderrechtskonvention vorsieht) für Kinder und Jugendliche zu schaffen, bei der diese sich unkompliziert und niedrigschwellig über Missachtungen und Verletzungen ihrer Rechte beschweren können.
Zusätzlich sind Analysen und Aufarbeitungen der gesundheitlichen (Spät-)Folgen der Corona-Maßnahmen bei Kindern (physisch und psychisch) nötig sowie die Gründung eines deutschlandweiten Entschädigungsfonds speziell für Minderjährige für besonders schwer von den Maßnahmen Betroffenen.[«54] Auch die Einrichtung bzw. der Ausbau von Förderprogrammen für besonders benachteiligte Schüler:innen gehört dazu.
3.2. Praktische Vorschläge zur Überwindung des gesundheitsgefährdenden und ineffektiven Homeschoolings
„Um pandemiebedingte Lernrückstände auszugleichen (…) müssen wir Realräume schaffen für ein Miteinander, nach vielen Monaten der Isolation an Display und Touchscreen. Der Mensch ist ein soziales Wesen und kann sich nur in Gemeinschaft sozialisieren. Daher müssen wir Schulen viel stärker als einen sozialen Lebensraum des Miteinanders und gemeinsamen Lernens gestalten, statt Kinder und Jugendliche immer früher an Rechnern zu vereinzeln.“
Ralf Lankau, Was sich aus Unterricht im Coronamodus lernen lässt.
Grundsätzlich sprechen wir uns für eine umgehende und (evidenzbasiert) überfällige Rückkehr aller Schüler:innen zum Präsenzunterricht aus.[«55]
Bei etwaigen Fällen von vor Ort anzutreffenden erhöhten Infektionsrisiken (auch in den Schulen) halten wir Hybridunterrichtskonzepte ebenfalls für denk- bzw. vertretbar, solange aktivierende, kinder- und jugendgerechte didaktische und pädagogische Aspekte in den Mittelpunkt ihrer Ausgestaltung gestellt werden.[«56]
Tatsächlich ließe sich die derzeitig missliche Situation des monotonen, seelenlosen und bei vielen Schüler:innen Depressionen und andere psychische Störungen hervorrufenden digitalen Distanzunterrichts durch einige ganz praktische Vorschläge in ihren schlimmsten Auswirkungen sofort – wenn nicht länger zugewartet wird – abschwächen.
Wir haben eine Reihe von Vorschlägen erarbeitet (was schnell ging und uns leicht fiel, weil sie pädagogisch auf der Hand liegen!), die den Geist des vorangestellten Mottos aus Ralf Lankaus Aufsatz über die Konsequenzen der durch die Corona-Krise (als ihr Realitätstest oder „Ernstfall“) entzauberten digitaltechnischen Euphorie atmen. Auch hier scheint uns einmal mehr aktuell die Technik den Blick auf die mannigfaltige Wirklichkeit mit ihren Chancen und Potenzialen zu verstellen.
So könnte man Studierende, da viele durch die Corona-Maßnahmen ihre Nebenjobs verloren haben, mit kleinen Gruppen von 4-6 Jugendlichen zusammenbringen (über einen Etat an jede Schule – z.B. für Honorarkräfte), die sich mit ihren Ideen, was sie mit den Kindern und Jugendlichen gerne tun wollen/können, an die Schulen wenden. Diese stimmen ihre Angebote mit den Lehrer:innen ab, welche ihrerseits interessierte Schüler:innen vermitteln. Das könnten Angebote für Erkundungen in der Natur oder Museen, für Sport oder interessante Hobbys etc. sein. Auch ehrenamtliches Engagement wäre möglich, z.B. durch den Deutschen Sportbund (dazu müsste Kinder- und Jugendsport natürlich wieder zugelassen werden), die freiwilligen Feuerwehren, Technisches Hilfswerk, Jugendverbände und Organisationen wie NGOs oder Musik-, Tanz- und Bildende-Kunst-Gruppen. Mit diesen Angeboten würden Schüler:innen aus dem komatösen Pendeln zwischen Bett und Laptop herausgerissen und wieder in die Sphäre der realen (Bildungs-)Erfahrung gebracht. Sie würden oftmals an der frischen Luft und in kleinen Gruppen bei minimiertem Infektionsrisiko in der Begegnung mit anderen Menschen Sozialisationserfahrungen machen, und vielleicht nach diesem langen und zumindest teilweise auch traumatischen Cocooning beginnen, die reale Welt mit neuen Augen zu sehen.
Eine ähnliche Idee, insbesondere für Schüler:innen, die die deutsche Sprache erst lernen (und die in den Monaten des Lockdowns die deutsche Sprache teils wieder verlernt haben) sind Sprachspaziergänge oder andere Lehrspaziergänge mit Muttersprachler:innen. Das könnten Schüler:innen höherer Jahrgänge sein oder ebenfalls Studierende; auch hier bietet sich an, dass es Kleingruppen sind, die sich miteinander an der frischen Luft oder in Richtung anderer geeigneter Orte in Bewegung setzen. Auch kulturhistorische, geographische, politische, botanische usw. Exkursionen bieten sich hier an.
Seit Monaten sind die Kinos und Theater geschlossen. Auch hier könnten Veranstaltungen für kleine Gruppen von Schüler:innen stattfinden. Es gibt z.B. einen von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Kanon sehenswerter Filme. Warum hier nicht die Zeit und die Örtlichkeiten nutzen, um die mediale und ästhetische Bildung von Schüler:innen voranzutreiben? Kinobesuche mit der halben Klasse dürften überdies ein deutlich niedrigeres Infektionsrisiko aufweisen als eine U-Bahnfahrt im Berufsverkehr. Warum fragt man nicht bei den Künstler:innen an, die besonders stark von der Corona-Krise betroffen sind, z.B. Workshops für Kinder unter freiem Himmel an der frischen Luft oder großen, gut zu belüftenden Räumen anzubieten? Da Geld genug da ist (zumindest haben Fluggesellschaften, Autokonzerne und andere global operierende Aktienunternehmen reichlich davon bekommen), könnte auch etwas für die Kinos und die Künstler:innen abfallen, die sich beide in einem verzweifelten Existenzkampf befinden.
Lehrer:innen, die nach Abwägung ihrer Kenntnisse über die Risiken unterrichten wollen, sollten die Möglichkeit dazu bekommen. Für jüngere und gesunde Lehrkräfte fällt Corona ohnehin in den Bereich des „allgemeinen Lebensrisikos.“ Hier darf kein Druck ausgeübt werden, was sich aber durch den Beamtenstatus des Lehrerberufes ja per se leicht sicherstellen lässt. Erleichtert werden könnte diese Entscheidung sicherlich durch die breite Ausstattung mit Luftfiltern in den Klassenräumen. Würde man alle Klassenzimmer in Deutschland mit guten Geräten ausstatten, würde das maximal eine Milliarde Euro kosten, schätzen Experten.[«57] Eine Milliarde, die in die Zukunft unserer Jugend (und die Jugend ist doch unsere Zukunft – ?) sicherlich gut investiert wäre.
Schuladministration, Schulleitungen und auch einige Kolleg:innen sollten gewahr werden, dass der vermeintliche Erfolg, „Unterricht nach Stundenplan“ zu machen, nicht weiter betrieben werden kann, sondern sich die didaktischen Konzepte im Lockdown an den Bedürfnissen der Schüler:innen orientieren müssen, wenn diese (und insbesondere die ohnehin benachteiligten unter ihnen) nicht auf der Strecke bleiben sollen. Dazu sollte es in allen Schulen Möglichkeiten der Partizipation und wirklichen Mitgestaltung der Schule, auch und gerade unter Corona-Krisenbedingungen geben. Nicht die Placebo-Mitbestimmungsmöglichkeiten der Vorkrisenzeit, sondern eine tatsächliche Veränderung schulischer Strukturen nach den Bedürfnissen derjenigen, die in ihnen lernen sollen und Freude daran finden (können). Eines ist sicher: Bleiben die postdemokratischen Zustände[«58] und das ökonomistische Menschenbild der Vor-Coronazeit an den Schulen bestehen, wird sich an ihnen nichts bessern, sondern alles bloß noch weiter verschlechtern können!
Ebenso benötigen die pädagogischen Fachkräfte zeitnah Zusatzqualifikationen in den Bereichen Sprach- und Traumapädagogik, Angsttherapie, Integration, gewaltfreie Kommunikation und sozialem Lernen. Ohne ausreichende begleitende Maßnahmen zur Kompensation im pädagogischen Bereich werden die umgesetzten Corona-Maßnahmen erhebliche, irreparable Schäden bei Kindern und Jugendlichen hinterlassen und enorme Folgekosten produzieren.
Wir sehen bei den politischen Verantwortungs- und Entscheidungsträgern eine gefährliche Tendenz zur Abschottung und eine bedenkliche Ignoranz gegenüber empirisch falsifiziertem Wissens- und Erkenntnisbeständen, die nicht in ihr Krisen-Narrativ passen. Zudem sehen wir in der Gesellschaft viele, die sich von der Angst und durch die Angstkampagnen der Medien irre machen lassen und zutiefst verunsichert sind.[«59]
Warum ist Angst ein schlechter Ratgeber? Es liegt daran, dass Angst unseren Fokus verengt. Statt dass wir alle verfügbaren Informationen über die Situation, unsere Position darin und folglich alle Handlungsmöglichkeiten einholen, schränken wir uns selbst auf das „Erkennen“ bzw. Reagieren auf Bedrohungen ein. Noch schwieriger wird es, wenn es sich um unsichtbare Bedrohungen, wie z.B. die durch ein Virus, handelt.
Ist Angst also unsinnig? Sicher nicht. Angst ist lebenswichtig. Ohne Angst könnten wir Gefahren gar nicht wahrnehmen bzw. antizipieren. Dann aber kann und sollte ich meinen Verstand einsetzen, um die Gefahren realistisch einschätzen zu können. Tue ich dies nicht, lähmt die Angst, anstatt dass sie uns lehrt, produktiv mit ihr umzugehen, indem wir – risikobewusst – unser Leben leben. Eine lebensverhindernde Angst ist eine Angst, die sich dem Tod verschrieben hat. Die Corona-Hysterie ist in diesem Sinne – auch wenn man sich ihre Folgen ansieht, die immer noch verharmlosend und gleichzeitig erschreckend empathielos „Kollateralschäden“ genannt werden – die tödlichere Gefahr als die, die vom Coronavirus selbst je ausgehen kann.
„Das Wort Krise leitet sich aus dem Griechischen ab, was ursprünglich „Entscheidung“ bedeutet. So sollte die aktuelle Lage idealerweise eine positive Entscheidung für eine zukünftig bessere regionale Vernetzung“ (statt der Globalisierung, die einen wichtigen endogenen Faktor für Pandemien darstellt, Anm. F.J. / B.S) „mehr Nachhaltigkeit und Sorge um das eigene Ich herbeiführen“.[60]
Und damit sollten wir bei den im Corona-Lockdown völlig vernachlässigten Kindern und Jugendlichen anfangen. Sie sind auf unsere Unterstützung angewiesen! Indem wir die Kinder Kinder sein lassen – und erst einmal und endlich (!) vor allem selbst zu Wort kommen lassen – stellen wir uns auch als Pädagog:innen an die Seite des Lebens und damit gegen den Tod. Mag dies auch im ach so coolen 21. Jahrhundert pathetisch klingen, so ist es doch unsere tiefempfundene Überzeugung. Es gehört zur Gestalt der Krisis dazu, dass wir selber entscheiden müssen, ob wir dem Leben und seinen Kräften dienen wollen oder uns dem unterwerfen, was Erich Fromm psychoanalytisch als den nekrophilen Charakter der Gesellschaft [«61] entschlüsselt hat.[«62]
„Die Liebe zum Leben oder die Liebe zum Toten ist die fundamentale Alternative, mit der jedes menschliche Wesen konfrontiert ist. Die Nekrophilie wächst in dem Maße, wie die Entwicklung der Biophilie am Wachstum gehindert wird.“[«63]
Oder, wie es Michael Hüter formuliert hat und wie es an die Pädagogik zu adressieren ist:
„Was Kinder und Jugendliche so dringlichst bräuchten, sind Menschen und Vor-Bilder an ihrer Seite, die nicht Krankheit und den Tod, sondern das Lebendige und das Leben in den Vordergrund all ihres Denkens, Fühlens und Handelns richten!“[«64]
Über die Autoren:
Finn Jagow (geb.1966) und Bernd Schoepe (geb. 1965), freie Autoren, die zu bildungspolitischen und bildungssoziologischen Themen schreiben, sind Kollegen und Freunde, die sich seit Studientagen kennen und damals schon viel Engagement und Freude beim gemeinsamen Verfassen soziologischer Hausarbeiten („Das Verschwinden der Kindheit“) entwickelt haben. Bernd Schoepe ist auch langjähriges aktives GEW-Betriebsgruppen-Mitglied, ehem. Vertrauensmann und Mitglied der Hamburger Lehrerkammer. Hauptberuflich unterrichten beide Autoren Politik, Deutsch und Philosophie an Hamburger Stadtteilschulen.
Kontakt: [email protected]
Anhang
Pressemitteilung zu einer Studie von zwei Hamburger Lehrern über ihre Schülerinnen und Schüler im Lockdown vom 28.03.2021:
E-Learning: Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie…?!?
Studie zeigt: Schüler:innen leiden stark unter dem Homeschooling im Lockdown
Von Finn Jagow und Bernd Schoepe
Die erneut erfolgte und fortgesetzte Schulschließung im Zuge der Bekämpfung der SARS-CoViD-2-Pandemie, die jetzt schon drei Monate andauert, war für uns Anlass, eine Studie über das E-Learning während des Schul-Lockdowns zu initiieren. Wir wollten, inmitten „der größten Bildungskrise der Neuzeit“ (UNICEF), anhand von zwölf Fragen an insgesamt drei Klassen des 11. Jahrgangs, den besonderen Lebens- und Lernbedingungen, denen unsere Schüler:innen schon zum zweiten Mal ausgesetzt sind, auf den Grund gehen. Denn dahingehend war bislang in der deutschen Öffentlichkeit eher wenig Interesse zu bemerken und auch die Medien beginnen erst langsam sich dieses Themas anzunehmen.
Viele Antworten übertrafen unsere schlimmsten Erwartungen. Insgesamt kommen wir nicht umhin, festzustellen, dass die Auswirkungen des digitalen Fernunterrichts auf unsere Schüler:innen ein noch desolateres Bild zeichnen als wir es vorab für möglich oder gar für wahrscheinlich gehalten haben. Und, um möglichen Fehlinterpretationen gleich vorzubeugen: Dies hat ursächlich nur wenig damit zu tun, dass die Digitalisierung als Technik immer noch nicht gut funktioniert. Über 90 % der Schülerinnen und Schüler nehmen die E-Learning-Situation auch unabhängig davon als „belastend“ oder „sehr belastend“ wahr: Die Situation wird als Entgrenzung erfahren, der Tag-Nacht-Rhythmus ist gestört, viele erwähnen Schlafstörungen, es kommt zu einer Orts- und Zeitdiffusion und starken Problemen der Motivation wie der Konzentration. Darüber hinaus kämpfen die Schüler:innen gegen große Monotonie, viele Aufgaben und schulische Pflichten werden aufgeschoben, türmen sich auf und werden schließlich verdrängt, weil sie in ihr häusliches Leben und Lernen keine Ordnung hineinzubringen vermögen. Zusätzlich wird die Lernweise als defizitär empfunden, da man sich isoliert und auf sich selbst zurückgeworfen findet. Das Problem einer als nicht-natürlich wahrgenommenen Kommunikation mit Mitschüler:innen und Lehrer:innen verschärft die oft als hoffnungslos beschriebene Lage.
Insgesamt bündeln sich die im Homeschooling auftretenden Probleme der Rhythmisierung, Orts-und Zeitdiffusion, Motivation, Isolation, Monotonie, Konzentration und Kommunikation und führen zu einem General-Angriff auf die Gesundheit unserer Schüler:innen. Die Symptome sind Strukturanomie, Entgrenzung, Verlust von Halt und Orientierung, Desozialisation und Frustrationserfahrungen – bis hin zur Depression. Wobei wichtig zu betonen ist, dass ein Großteil der Ängste ursächlich in Verbindung zu den Maßnahmen, die zur Eindämmung der Infektionen getroffen wurden, genauer den Schulschließungen, stehen und nicht aus einer entsprechenden Einstellung gegenüber SARS-CoViD-2 entstanden sind. Dabei beschäftigt die Frage, wie lange die Schulschließungen noch andauern werden, die Schüler:innen am meisten[«65]. Dies korrespondiert mit dem, was Kinderärzte und Jugendtherapeuten diagnostizieren: Eine dramatisch zu nennende Zunahme von Angststörungen, Depressionen, Schlafstörungen, Essstörungen bis hin zu akuter Suizidalität.[«66]
Aus den Auskünften unserer Schüler:innen muss der Eindruck gewonnen werden, dass das Leben dieser jungen Menschen tatsächlich seit über drei Monaten weitgehend nur noch auf das Schlafen (bzw. einen Zustand fast vollständiger Passivität, ja Apathie) und dem Sitzen oder Liegen vor elektronischen Geräten (teils zu schulischen, teils zu tendenziell entgegengesetzten Zwecken) zusammengezurrt ist. Was dies für das persönliche Wohl und die Gesundheit unserer Schüler:innen bedeutet, lässt sich schon anhand der Zahlen der durchschnittlichen Dauer der Mediennutzung erkennen, die in unserer Stichprobe bei zehn Stunden täglich liegt (gegenüber sieben bis acht Stunden im ersten Lockdown)[«67]. Angesichts dieses dramatischen Bildes und der psychisch extrem angespannten Lage sowie dem Leiden unserer eigenen Schüler:innen daran, sind wir enttäuscht darüber, dass offenbar noch immer viel zu wenige Pädagog:innen der Dimension dieser Gefährdung unserer Kinder und Jugendlichen gewahr werden, denn sonst hätten sie und ihre Verbände doch schon längst Alarm schlagen müssen.
Dabei fällt auf, dass mit dem Lockdown ganz offensichtlich der Leistungsdruck für die meisten Schüler:innen keinesfalls nachgelassen hat, sondern sich auf äußerst problematische Weise in ihre psychischen Systeme als eine nicht adäquat bearbeitbare Anforderung zwischen Selbst- und Fremdsteuerung (bzw. dem mangelnden Ausgleich beider Anforderungen) verschoben und umso tiefer eingeschrieben hat. Statt dass Schule dafür Sorge trägt, dass Leistungsdruck in dieser größten Bildungskrise der Neuzeit von den Kindern, die ihn erleiden müssen, genommen wird, übt ein selbst offenbar hochgradig fremdgesteuertes, nur auf Leistung und Leistungserfüllung getrimmtes Schulsystem noch zusätzlichen Druck auf bereits durch die Lockdown-Situation „abgetauchte“, zutiefst verunsicherte Schülerinnen und Schüler aus. Dieser Druck droht, zu dauerhaften Verletzungen der Gesundheit der Schüler:innen zu führen.
Wann also werden neben Virolog:innen und Epidemiolog:innen wirklich Gesundheitssachverständige anderer Fachrichtungen und Disziplinen von den Politikern vor ihren Beschlussfassungen und vor neuen Verordnungen gehört? Wann bringen Pädagog:innen, die doch eigentlich Anwälte der Kinder und Jugendlichen sind (oder zumindest sein sollten) und primär das Kinder-und Jugendwohl vor Augen haben (oder haben sollten), die Bedürfnisse und Perspektiven der im Lockdown fast immer isoliert und still vor sich hin leidenden, im Hamsterrad digitalen Lernstresses hilflos gefangenen und einer allgemeinen psychosozialen Überforderungssituation ausgelieferten Schülerinnen und Schülern, laut und deutlich zu Gehör? Wenn es noch eines solchen Negativbeweises bedurft hätte: die Kinder und Jugendlichen haben in der „Lobbyrepublik Deutschland“ keine Lobby!
Das „große Experiment“ des E-Learnings, das pandemiebedingt vor einem Jahr begann, haben wir nun monatelang an den Schüler:innen im „verschärften“ Realitätstest ausprobiert. Auch wenn dieses Experiment vom Gesichtspunkt der Versorgung mit digitalen Geräten und Technik aus betrachtet für unsere Schulen als Erfolg angesehen werden kann, können uns die Ergebnisse der Studie sowohl vom Pädagogischen, der Lernergebnisse als auch der Bildungswirksamkeit für unsere Schüler:innen nicht zufriedenstellen. Stattdessen zeigt der Schul-Lockdown uns überdeutlich: Digitaler Fernunterricht kann kein adäquater Ersatz fürs analoge Schulemachen sein.
Hier die wichtigsten Einzelergebnisse der qualitativen – nicht-repräsentativen Stichprobenbefragung zu den Erfahrungen der Schüler:innen mit Online- / E-Lernen während des Schul-Lockdowns in Stichworten und Zahlen:
Die Studie im Internet:
[«1] gew-ansbach.de/2021/03/e-learning-risiken-und-nebenwirkungen/ Zum Überblick auf wichtige Ergebnisse siehe auch Hamburger Morgenpost (mobil.mopo.de/hamburg/-uebertrifft-schlimmste-erwartungen–homeschooling–hamburger-lehrer-mit-krassem-fazit-38236682) vom 31.03.2021.
[«2] unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2021/unicef-bericht-schulschliessungen/236974
[«3] Nach der hier zugrunde gelegten Definition der UN-Kinderrechtskonvention alle jungen Menschen unter 18 Jahren.
[«4] Siehe dazu Carl Bossard: „Kontingenz, Ungewissheit und das Unverfügbare: Diese drei Eckwerte gehören darum konstitutiv zum Schulalltag […] Im Zufälligen und Unverfügbaren, in dem, was nicht geplant werden kann, liegt das Kontingente dieses anspruchsvollen Berufs. […] Das Offene und Unvorhersehbare gehört zum Unterricht. Das Kreative braucht eben einen Schuss Chaos. Darum ist die Kontingenz in der Schule – wie auch im täglichen Leben – allgegenwärtig; sie lässt sich weder restlos beherrschen noch eliminieren. Im Gegenteil: In unplanbaren Situationen liegen manche überraschenden, wertvollen Aspekte des Unterrichts.“ Carl Bossard, Von der pädagogischen Ungewissheitsdynamik, bildung-wissen.eu/fachbeitraege/von-der-paedagogischen-ungewissheitsdynamik.html, 20.04.2021.
[«5] Ingo Leipner fasst in seinem Buch „Die Katastrophe der digitalen Bildung“ in dem aktuellen Kapitel zur Corona-Zeit die Schwachpunkte, wie sie jetzt aus den Homeschooling-Erfahrungen ersichtlich wurden, zusammen. Er nennt, neben den übergeordneten Aspekten des Daten- und Persönlichkeitsschutzes und der Gefahr permanenter Überwachung: Kaum eingeschaltete Webcams der Schüler:innen (datenschutzrechtlich verständlich!), die nicht ausgeschöpften Möglichkeiten der interaktiven Funktionen digitalen Lernens, die beträchtlichen sozialen Folgen des Homeschoolings bei benachteiligten Schüler:innen, die zu Hause überfordert sind, das fehlende Feedback der Schüler:innen, damit die Lehrkräfte beurteilen zu können, wie die Lernsituation tatsächlich aussieht sowie nicht zuletzt die fehlende menschliche Atmosphäre in Online-Formaten, bei denen Humor und persönliche Facetten zu kurz kommen. Ingo Leipner, Die Katastrophe der digitalen Bildung, München 2020, 1.Kap., S.11 – 35
[«6] Ein sehr eindrückliches und menschlich anrührendes Video, das jeder Pädagoge sehen sollte: youtube.com/watch?v=iSkbd6hRkXo und: freie-linke.de/freier-funke/2021/04/offener-brief-fuer-mehr-menschlichkeit-in-der-corona-krise
[«7] Wer vorschnell den Ausnahmezustand als neue Normalität akzeptiert, darf sich nicht wundern, wenn er vielleicht eines Tages gefragt wird, ob er wirklich nicht gesehen hat bzw. sehen konnte, was dann passiert ist. Hannah Arendt, die wohl berühmteste Totalitarismus-Forscherin des 20. Jahrhunderts gab uns folgende Erkenntnis mahnend mit auf den Weg: „Jedes totalitaristische System kreiert Wege der einen neuen Normalität, nicht einmal die einer formalen Rechtmäßigkeit.“ Eine Bemerkung, die im Kontext des nun schon 13-monatigen Regierens auf Grundlage von grundrechtseinschränkenden Notstandsgesetzen – die durch die Ausrufung der „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ im Deutschen Bundestag vom 25.03.2020 erfolgte – eigentlich hellhörig und beim derzeitigen Umgang mit der Demokratie öffentlich Resonanz verdiente. Oder – wie Roberto J. De Lapuente am 19.04.2021 rhetorisch fragt: „So ein bisschen Ausnahmezustand kann unsere Demokratie doch wohl verkraften, oder?“ Und dann fortfährt: „Dass man nach dem Notstand wieder zurückswitcht in die Normalität, so lehrt uns die Geschichte, ist eher ein Ausnahmezustand. (…) Auf die eine oder andere Weise werden die Grundrechte sicher wieder aktiviert. Aber was hat der Entzug mit der Wahrnehmung auf unsere sonst so gelobten Werte gemacht?“ Roberto J. De Lapuente, Ausnahmsweise ohne Grundrechte, neulandrebellen.de/2021/04/ausnahmsweise-ohne-grundrechte/
[«8] In dessen Verfolgung wir, so die Klage, eh’ schon so weit zurücklagen, dass wir jetzt ein wahrhaft atemloses Aufholrennen unternehmen mussten.
[«9] „Selbst perfekte digitale Lernsysteme sind niemals in der Lage, direktes Lernen von Menschen durch Menschen zu ersetzen. Wir brauchen gute Lehrkräfte, die mit ihren Klassen so arbeiten, dass ein Funken überspringt. Ein Funke der Begeisterung (…) Davon ist unser Bildungssystem an vielen Stellen weit entfernt.“ Ingo Leipner, Die Katastrophe der digitalen Bildung, a.a.O., S. 34.
[«10] Rund 1,5 Milliarden (!) Kinder sind von Schulschließungen und Unterrichtsausfall insgesamt bislang betroffen gewesen. Für mehr als 168 Millionen Kinder sind weltweit laut UNICEF seit fast einem Jahr Schulen aufgrund von Lockdowns wegen der Covid-19-Pandemie vollständig geschlossen. 214 Millionen Kinder haben mehr als drei Viertel ihres Unterrichts verpasst, Siehe: unicef.de/informieren/materialien/report-covid-19-and-school-closures/239486
[«11] Jedenfalls bemühten wir uns, dies in unserem Anschreiben möglichst deutlich an sie heranzutragen und in den Nachfragen der Schüler:innen bewusst diesen über den schulischen Erfahrungsrahmen hinausgehenden ganzheitlichen Ansatz zu akzentuieren.
[«12] euro.who.int/de/about-us/partners/news/news/2018/12/health-is-a-human-right
[«13] Verwiesen sei hier an die jüngste Publikation der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie (DGPI) und die Deutsche Gesellschaft für Krankenhaushygiene (DGKH) zum Thema Hospitalisierung und Sterblichkeit von Covid-19 bei Kindern. Demnach hat mit Stand vom 11. April 2021 das seit dem 17. März 2020 geführte Register, in dem bundesweit Kinderkliniken stationär behandelte Kinder und Jugendliche mit SARS-CoV-2-Infektionen melden, bislang 1259 Kinder aus 169 Kliniken mit ihren detaillierten klinischen Verläufen eingetragen: „Ungefähr ein Drittel der Kinder war Jünger als ein Jahr, ein Drittel zwischen zwei und sechs Jahren und ein Drittel zwischen sieben und 20 Jahre. 62 der 1259 Patienten (5%) mussten auf einer Intensivstation behandelt werden. Seit Beginn des Registers im März 2020 wurden insgesamt acht verstorbene Kinder gemeldet, davon waren drei Kinder in einer palliativen Situation verstorben. Bei vier Kindern wurde COVID-19 als Todesursache festgestellt. (…) Die nun seit Beginn der Pandemie gemachte Beobachtung, dass von den schätzungsweise 14 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland und laut RKI insgesamt 78.537 Todesfällen mit und an SARS-CoV-2 bis zum 13. April 2021, nur etwa 1200 mit einer SARS-CoV-2-Infektion im Krankenhaus (weniger als 0,01%) behandelt werden mussten und vier an ihrer Infektion verstarben (weniger als 0,00002%) sollte Anlass sein, Eltern übergroße Sorgen vor einem schweren Krankheitsverlauf bei ihren Kindern zu nehmen.“ Ärzte-Verband: Eltern brauchen keine übergroßen Sorgen um Kinder zu haben, Berliner Zeitung, 20.04.2021.
[«14] unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2020/covid-19-folgen-fuer-kinder/230526. nuernberger-blatt.de/2021/03/unesco-warnt-vor-generationenkatastrophe-im-bildungsbereich-88407. Größeren überregionalen Zeitungen wie z.B. der Süddeutschen Zeitung oder der FAZ war die Warnung, dass die Schulschließungen weltweit „die (Entwicklungs-)Fortschritte der vergangenen zwei Jahrzehnte zunichte“ machten, keine Meldung wert. Dafür informierte die Süddeutsche Zeitung ihre Leserschaft auf 50 Zeilen darüber, dass „die finnische Sauna zum Weltkulturerbe ernannt“ (21.12.2020) wurde.
[«15] Sabine Andresen et al., Nachteile von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausgleichen. Politische Überlegungen im Anschluss an die Studien JuCo und KiCo, Hildesheim 2020. Zitiert nach Jochen Schirp, Kinder und Jugend und Corona, Februar 2020, bildung-wissen.eu.
[«16] Sprachwissenschaftler haben zu Recht den Begriff „Kollateralschaden“ zum Unwort des Jahres 1999 erklärt. Er kommt aus der Kriegsberichterstattung.
[«17] Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat in seiner Stellungnahme mit dem Titel „Kinderrechte in Zeiten der Corona-Pandemie“ bereits im Mai 2020 (!) darauf hingewiesen, „dass Kinder neben Schutzrechten auch ein Recht auf soziale Kontakte, soziale Teilhabe, Spiel sowie frühkindliche und schulische Bildung haben. (…) Zwar sind auch Erwachsene infolge der Ausgangsbeschränkungen“, so heißt es weiter, „in ihrer sozialen Teilhabe eingeschränkt, für Kinder ergibt sich die besondere Belastung jedoch dadurch, dass sie in ihren Entwicklungsschritten gehemmt werden können oder gar Rückschritte erleiden, die sie nur schwer aufholen können.“ Deutsches Institut für Menschenrechte, Stellungnahme zu den Kinderrechten in Zeiten der Corona-Pandemie, Mai 2020, institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/Stellungnahme_Kinderrechte_in_der_Corona-Pandemie.pdf
[«18] Kindeswohl in Corona-Krise laut Studie nicht berücksichtigt, rp-online.de, 14.06.2020.
[«19] Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin, dakj.de/stellungnahmen/stellungnahme-der-deutschen-akademie-fuer-kinder-und-jugendmedizin-e-V–zu-weiteren-einschraenkungen-der-lebensbedingungen-von-kindern-und-jugendlichen-in-der-pandemie-mit-dem-neuen-coronavirus-sar/ und: aerzteblatt.de/nachrichten/122651/Kinderschutzbund-Rechte-von-Kindern-nicht-ausreichend-gewahrt.
[«20] Laschets Corona-Experten warnen vor „neuen unspezifischen Maßnahmen“, FAZ, 19.01.2021
[«21] Vor der Kinderkommission des Deutschen Bundestages führte Claudia Kittel in einer Expertenanhörung am 09.09.2020 dazu aus: „Einschränkungen von Kinderrechten, wie sie zur Bekämpfung der Corona-Pandemie weltweit vorgenommen wurden, müssen verhältnismäßig sein. Verfügt die Politik noch über keine ausreichende Wissensgrundlage, sei sie gehalten, die Verhältnismäßigkeit der getroffenen Maßnahmen ständig zu überprüfen.“ Wir können hierzu keine einzige auf veränderte Wissensgrundlage (ob ausreichend oder nicht ausreichend) erfolgte Überprüfung der Verhältnismäßigkeit des Schul-Lockdowns seit seiner fünfmonatigen Dauer für die meisten Schüler:innen durch die Politik feststellen.
[«22] So wird in der Studie über die Niederlande, die für die Digitalisierung dank einer der höchsten Internet-Zugangsraten weltweit mit einem „Best-Case“-Szenario aufwartet, von dem Forscherteam der Universität Oxford, als ein zentrales Ergebnis festgehalten, „dass trotz dieser guten Voraussetzungen die Fortschritte der Schüler erheblich zurückgingen, was auf noch größere Verluste in Ländern hindeutet, die weniger gut auf die Herausforderungen von Onlineunterricht vorbereitet sind.“ Weiter wird dazu ausgeführt: „Schüler haben beim Lernen von zu Hause aus mit anderen Worten kaum oder gar keine Fortschritte gemacht.“ Co-Autor Per Engzell: „Für Kinder aus benachteiligten Verhältnissen waren die Auswirkungen noch verheerender. Der Verlust an Wissen war bei Kindern, deren Eltern keine Hochschulbildung haben, um bis zu 50% stärker als bei Kindern aus Akademikerfamilien.“ Spiegel, Auszug der Studie. In: spiegel.de/consent-a-?targetUrl=https%3A%2F%2Fwww.spiegel.de%2Fpanorama%2Fbildung%2Fstudie-zu-corona-schulschliessungen-kinder-haben-wenig-oder-nichts-gelernt-a-88d91b2c-840c-4e79-b7c3-3fb98adbdac9&ref=https%3A%2F%2Fwww.google.com
[«23] Siehe Naomi Klein: Die Schockstrategie: der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt/M. 2007.
[«24] Vgl. dazu Bernd Schoepe, Die Effizienzgewinne der Digitalisierung aus pädagogischer Perspektive, nachdenkseiten.de/upload/pdf/210129-Quelle-Hinweis-9.pdf: „Die Effizienzgewinne der Digitalisierung müssen im Kontext eines neuen Typus von Kontrollgesellschaft diskutiert werden, der eine epochale Zäsur für das Schul-und Bildungswesen darstellt.“ In diesem komme der Digitalisierung im Verbund „mit neuen Ideologie-, Konditionierungs-und Kontrollinstanzen und – Techniken (…) die Rolle der Verhaltenssteuerung, des Profilings und Mental Programmings (vulgo: Gehirnwäsche) zu (S.4). „In der Errichtung eines (…) algorithmisch und psychometrisch selbstgesteuerten Lern-und Kontrollregimes liegt (…) ihr eigentlicher Effizienzgewinn: In ihrem (…) auf das kognitive und das Verhaltenssystem zielenden Steuerungs- und unmittelbar wirkendem Beeinflussungspotential, das sich nach (…) Implementierung in der Sozialisationsinstanz Schule allgemein gesellschaftlich Bahn brechen soll.“ (S.19).
[«25] lifesitenews.com/opinion/abp-vigano-on-truth-over-fear-covid19-the-vaccine-and-the-great-reset
[«26] Joseph Weizenbaum, Inseln der Vernunft im Cyberstrom? – Auswege aus der programmierten Gesellschaft, Freiburg / Bonn, 2016, S. 30.
[«27] Eberhard Keil, Didaktisierung statt Digitalisierung, lehrernrw.de
[«28] Bei dieser Meta-Studie wurden die Lernleistungen von Schüler:innen aus den Niederlanden, der Schweiz und den USA ausgewertet. Bei aller Unterschiedlichkeit der Schulsysteme sei ein Vergleich durch ähnliche Pandemie-Maßnahmen möglich. Zitiert nach Ralf Lankau, Was sich aus Unterricht im Coronamodus lernen lässt, bildung-wissen.eu, 01.04.2021
[«29] Michael Hüter, Wovor wir unsere Kinder wirklich schützen sollten, (Vorwort), 12.01.2021, aus: Michael Hüter, Die deformierte Generation, Wer Kindheitstraumata sät, wird Totalitarismus ernten, rubikon.news/artikel/die-deformierte-generation
[«30] osf.io/preprints/socarxiv/ve4z7 am 10.04.2021
[«31] tagesspiegel.de/wissen/homeschooling-in-der-coronakrise-hohe-lernverluste-durch-schulschliessungen/26628096.html am 10.04.2021
[«32] uke.de/kliniken-institute/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik/forschung/arbeitsgruppen/child-public-health/forschung/copsy-studie.html am 10.04.2021
[«33] Weitere aktuelle Ergebnisse bei Thomas Pany, „Nicht einmal Pseudosolidarität“, heise.de/tp/features/Nicht-einmal-Pseudosolidaritaet-6022087.html, 20.04.2021.
[«34] Für weitere 45% ist die subjektive Belastung im Vergleich zwischen ersten und zweiten Lockdown gleich stark geblieben, nur 10% empfinden nun weniger Stress als im Frühjahr 2020. Copsy-Studie, ebd.
[«35] unicef.de/informieren/aktuelles/presse/2021/unicef-bericht-schulschliessungen/236974 am 10.04.2021
[«36] Die erklärten Ziele sind damit zum einen Verteilungsgerechtigkeit bei der Zuweisung zusätzlicher Ressourcen und eine faire Vergleichsmöglichkeit von Schulen ähnlicher sozialer Rahmenbedingungen.
[«37] Laut Bürgerschaftsdrucksache 20/7094 vom 03.05.13, der letzten Aktualisierung des Sozialindex, die allerdings für dieses Jahr wieder auf der Tagesordnung seht.
[«38] Für die Corona-Krisensituation gilt daher noch einmal im verstärkten Maße, was Jochen Schirp in seinem Text „Kinder und Jugend und Corona“ so formuliert hat: „Angesichts der vorhandenen Vielzahl an Studien und lebenspraktischen Plausibilitäten ist es eigentlich fast schon einigermaßen trivial zu konstatieren, dass das familiäre Umfeld in erheblicher Weise zu einem produktiven Bildungsmilieu beitragen kann – oder auch nicht.“ In dem Fall schlagen die schicht-und milieuspezifischen Determinanten als Lernbarrieren voll auf das häusliche E-Learning-Setting durch. Jochen Schirp, Kinder und Jugend und Corona, a.a.O.
[«39] In der Kurzform siehe angehängter Text, Finn Jagow / Bernd Schoepe: Pressemitteilung zu der Auswertung der Studie zu Jugendlichen im Lockdown: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie…“.
[«40] Aus: Barbara Auen: Offener Brief „Unser Schulsystem im Allgemeinen und unter Corona-Bedingungen“, März 2021, S. 1f., in: gew-ansbach.de/data/2021/03/Offener_Brief_Schulsystem_GEW_Ansbach.pdf
[«41] news4teachers.de/2020/06/expertin-corona-zwangspause-fuer-schulvermeidende-kinder-riskant/, 12.04.2021.
[«42] mobil.mopo.de/hamburg/-uebertrifft-schlimmste-erwartungen–homeschooling–hamburger-lehrer-mit-krassem-fazit-38236682
[«43] Es wäre z.B. Aufgabe der Schulbehörde, sicherzustellen, dass die Landesschülerräte in der Corona-Krise arbeitsfähig bleiben und sie entsprechende Unterstützung erhalten. Das ist nicht nur eine Frage der demokratischen Kultur, sondern ergibt sich zwingend aus der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention durch die Bundesrepublik Deutschland!
[«44] berliner-zeitung.de/lernen-arbeiten/verzweifelte-oberschueler-wie-einsame-maschinen-pendeln-vom-bett-zum-schreibtisch-li.143531
[«45] Die Äußerungen der Berliner Schüler decken sich in hohem Maße mit jenen, die unsere Schüler:innen in dem Fragebogen gemacht haben. Wir verweisen hier auf die Langfassung unseres Textes, in dem wir eine Reihe von Äußerungen im O-Ton der Schüler:innen wieder gegeben haben.
[«46] Sicher ein Zufall, dass wir bezüglich der Zuständigkeit bei allen Fraktionen am längsten brauchten, den schulpolitischen Sprecher der SPD-Bürgerschaftsfraktion zu finden. Er kam auch als allerletztes.
[«47] Vgl. dazu den programmatischen Anspruch, den die Grünen auf ihren Hochglanz-Seiten verkünden: gruene.de/themen/demokratie: „Wir stärken die Demokratie. Wir wollen mehr Transparenz politischer Entscheidungen (…) Wir setzen uns für mehr Bürgerbeteiligung ein, und zwar für alle Menschen, die hier leben. (…) Zivilgesellschaftliches Engagement trägt die Demokratie. Wir wollen es nachhaltig unterstützen.“
[«48] Anja Bensinger-Stolze, Frederik Dehnert, Sven Quiring: „Kein ‚Weiter so‘!“, hlz, Hamburger Lehrerzeitung, 11/2020, S.3.
[«49] „Drosten-Vorgänger fordert: Vergesst die Inzidenz, nur echte Covid-Fälle zählen“, nordkurier.de/politik-und-wirtschaft/vergesst-die-inzidenz-nur-echte-covid-faelle-zaehlen-1443137504.html: „Die Inzidenz sagt nichts über die tatsächliche Bedrohung durch das Coronavirus aus, heißt es in einem Appell an den Bundestag, unterzeichnet u.a. vom ehemaligen Chef-Virologen der Berliner Charité, Detlev Krüger. Der Wert sei ungeeignet, über die Freiheit der Bürger zu entscheiden.“
[«50] deutschlandfunk.de/staatsrechtler-zur-aenderung-des-infektionsschutzgesetzes.694.de.html?dram:article_id=495536, „In der Stunde der Not hören verfassungsrechtliche Bindungen nicht auf“,11.04.2021. „Ex-Richterbund-Chef ‚fassungslos‘ über neue Pläne des Bundes, sueddeutsche.de/gesundheit/gesundheit-berlin-corona-plaene-des-bundes-ex-richterbund-chef-fassungslos-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-210411-99-159803 Diesen Kurs mitzutragen, wird für uns als GEW-Mitglieder zunehmend schwieriger!
[«51] Da die Autoren Mitglieder der GEW sind, drängt es uns, in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, was Tobias Riegel auf den Nachdenkseiten pointiert zu den diesbezüglichen politischen Verwirrungen und höchst befremdlichen Gemengelagen der coronapolitischen Positionen in Medien und Zivilgesellschaft jüngst festgestellt hat: „Wer hätte jemals gedacht“ (dem schließen wir Autoren uns an!), „dass sich einmal einzelne Autoren in vereinzelten Artikeln des Axel Springer-Verlags mehr für die Rechte der Schwächsten der Gesellschaft (Arme und Kinder) publizistisch einsetzen würden, als SPD, Gewerkschaften und LINKE zusammen.“ Und er fragt: „Wie können Sozialdemokraten, Linke und Gewerkschaften diese Schmach nur auf sich sitzen lassen?“ Tobias Riegel, Die „Ermächtigung“ und das dröhnende Schweigen der „Zivilgesellschaft“, nachdenkseiten.de/?p=71735, 20.04.2021.
[«52] Die beiden Presse-Erklärungen finden sich auf der Seite der GEW Ansbach (gew-ansbach.de). Dass Schulen keine „Treiber der Pandemie“ sind, obwohl die GEW mit ihren Pressemitteilungen ein postfaktisches Gefährdungsszenario an die Wand malt – ist durch eine Vielzahl von evidenzbasierten Studien längst als infektiologische/epidemiologische Erkenntnis erhärtet worden, auf die wir im Text und den Fußnoten wiederholt verweisen. Mit dem völlig unreflektierten Gutheißen von noch mehr Tests an Schulen wird die GEW mitverantwortlich dafür, dass Schulen, wenn es „schlecht läuft“, bis zum Sankt-Nimmerleinstag keine vernünftige Öffnungsoption mehr erhalten werden, da die Schreckgespinste irgendwelcher Virenmutationen dies, falls politisch gewollt, verhindern. Dass sie zugleich für noch mehr Testungen in den Schulen plädiert, zeigt, dass sie sich offenbar gegenüber der Kritik, dass diese viel zu unverlässlich seien und den Inzidenzwert unrealistisch weiter hochtreiben würden, offenbar selbst immunisiert hat.
Zur Fragwürdigkeit der Tests siehe: harald-walach.de/2021/04/06/corona-impfstoffe-kosten-und-nutzen-nochmals-nachdenken/ sowie Tobias Riegel, Zwangstests für den Schulbesuch sind abzulehnen, nachdenkseiten.de/?p=71387
[«53] Das lässt sich exemplarisch an der „Erfolgsmeldung“ der Schulleiterin der Fritz-Schumacher-Schule in Hamburg-Langenhorn in der „Hamburger Morgenpost“ erkennen, die nach dem in der Schul- und Behördenpolitik vorherrschenden „Pippi-Langstrumpf-Prinzip“ das Homeschooling als „problemlos“ darstellt, wenn man „einfach so weitermacht“ wie zuvor (Unterricht nach Stundenplan!) bzw. so tut, als ob es keine nennenswerten Unterschiede zwischen regulärem und häuslichem Distanzunterricht gäbe, die die Kinder schwer belasten. Die dort auch getroffene Aussage, dass die Kinder psychisch „durch den Onlineunterricht aufgefangen werden“ können, halten wir für äußerst fraglich. Denn schon im normalen Unterricht in den normalen Schulen kann kaum ein Kind psychisch „aufgefangen werden“. Wie soll das dann unter den oft noch viel ungünstigeren Bedingungen des Online-Homeschoolings gelingen? Die Aussage widerspricht auch der bereits nach dem ersten Lockdown hierzu vorliegenden wissenschaftlichen Datenlage, aus der die Problematik zahlreicher negativer psychosozialer Folgeerscheinungen ersichtlich wurde, die dieser Lockdown bei den Kindern und Jugendlichen gezeitigt hat. Wir vermuten, dass die Aussagen der Schulleiterin eher den Erfordernissen des windowdressings geschuldet sind: Man muss auf dem Pseudo-Markt der Schulen im Geiste des neoliberalen Wettbewerbskampfes, der sich diese perverserweise stellen und wider aller Vernunft gegenseitig liefern müssen – möglichst gut aussehen. Und zwar unabhängig davon, wie viele Probleme und Sorgen es an den Schulen bei den Schüler:innen und Lehrer:innen tatsächlich gibt. mopo.de/hamburg/hamburger-schule-macht-s-vor-unterricht-nach-stundenplan—trotz-corona-37955142
[«54] Siehe auch hier: freie-linke.de/mitteilungen-der-freien-linken/die-freie-linke-zu-paedagogik-im-ausnahmezustand
[«55] Der Nutzen von Abstandsregeln, Kohortenbildung, sozialer Distanz und Maskenpflicht in Schulen wird von wissenschaftlicher Seite angezweifelt. Beispielsweise belegt die Vorabveröffentlichung (2020) einer Studie der Universität Witten/Herdecke, dass bei 68 Prozent der Kinder im Alter von 7 bis 12 Jahren durch das Tragen einer MNB (durchschnittliche Tragedauer 270 Minuten) Belastungen wie beispielweise Reizbarkeit (60 %), Kopfschmerzen (53 %), Konzentrationsschwierigkeiten (50 %), geringe Fröhlichkeit (49 %), Unwohlsein (42 %), Lernschwierigkeiten (38 %) oder Schläfrigkeit und Müdigkeit (37 %) beobachtet wurden. Zu Asymptomatik und Infektiosität bei Kindern fehlt es an wissenschaftlicher Evidenz und Forschungsergebnissen. Die Annahme, dass von Kindern im Kita- oder Grundschulalter eine Infektionsgefahr ausgeht blieb bisher unbewiesen. Aus einer Anfrage des Abgeordneten Florian Kluckert (FDP) vom 03. Dezember 2020 ans Berliner Abgeordnetenhaus geht hervor, dass die bis zum 09.12.2020 gemeldeten 217 Infektionsfälle „Kindergarten, Hort“ und die 336 im Infektionsumfeld „Schule“ gemeldeten „in der Regel nicht im Umfeld Schule oder Kindergarten erworben wurden, sondern (mutmaßlich) von diesen Fällen dorthin eingetragen wurden”. Im Rahmen der ersten Testreihe der Kitastudie der Charité wurden insgesamt 701 Teilnehmende aus 12 Kindertagestätten getestet. Dabei konnte keine SARS-CoV-2 Infektion nachgewiesen werden. Lediglich eine Erzieherin wies einen schwach positiven Antikörperspiegel auf.
(Quelle: Die Freie Linke zu Pädagogik im Ausnahmezustand, freie-linke.de, 16.03.2021.)
Zu weiteren Ergebnissen von nationalen und internationalen wissenschaftlichen Studien zur Rolle von Kindern und Schulen im Pandemiegeschehen siehe aerzteblatt.de/archiv/217182/COVID-19-in-Schulen-Keine-Pandemie-Treiber.
[«56] Gute Vorschläge dazu hat auch Eberhard Keil in „Didaktisierung statt Digitalisierung“, a.a.O., im letzten Teil seiner Ausführungen unterbreitet, die wir nachdrücklich empfehlen.
[«57] wdr.de/daserste/monitor/sendungen/corona-politik-schulen-100.html
[«58] Bernd Schoepe, Die Digitalisierung und ihre Effizienzgewinne aus pädagogischer Perspektive, insbes. S. 20-22, S.38-40, S.44-46, a.a.O., Jochen Krautz, Bildungsreform und Propaganda. Strategien der Durchsetzung eines ökonomistischen Menschenbildes in Bildung und Bildungswesen, bildung.akgev.de/PDF-AKG/Krautz-Bildungsreform-und-Propaganda.pdf
[«59] Vgl. Rainer J. Klement, Die Corona-Angstkampagne, 16.03.2020, rainerklement.com
[«60] Rainer J. Klement, ebd.
[«61] Erich Fromm, Der nekrophile Charakter, in: Das Erich Fromm-Lesebuch, hrsg. und eingel. von Rainer Funk, Stuttgart / München 1985, S.72 – 86.
[«62] Fromm entwickelte im Anschluss an seine Rezeption des Lebens-und Todestriebes bei Sigmund Freud und eigenen klinischen Studien die Theorie des nekrophilen Charakters. Das Interessante an der Kennzeichnung der Nekrophilie im charakterologischen Sinn als „das leidenschaftliche Angezogenwerden von allem was tot, vermodert (…) und krank ist“, ist in unserem Zusammenhang seine Eigenheit, „das, was lebendig ist, in etwas Unlebendiges umzuwandeln, zu zerstören (…)“ sowie „das ausschließliche Interesse an allem, was rein mechanisch ist“ (S.72 f.). So kommt Fromm in seinen Beispielen für den nekrophilen Charakter nicht nur zur Alternativlosigkeit im Denken, die heute ein, wenn nicht überhaupt das wichtigste Herrschaftsaxiom der neoliberalen Ideologie („TINA“ = There is no alternative) ist – so wenn er schreibt, dass – wer von diesem Impuls getrieben ist – „in der Regel nicht in der Lage ist, andere Möglichkeiten zu erkennen, die keine Zerstörung erfordern“ (S.74). Er macht auch klar, dass der nekrophile Charakter und seine Manifestationen „mit der Betrachtung des einfachsten und augenfälligsten Merkmals des heutigen Industriemenschen“ zusammenfällt. In dessen Interessen-Brennpunkt stehen nämlich „nicht mehr Menschen, Natur und lebendige Strukturen, sondern mechanische, nicht lebendige Artefakte“ bis hin zu „den machtzentrierten Megamaschinen“(sic!) unserer technisierten Zivilisation. Würde Fromm heute noch leben, so würde er vermutlich als weitere Erscheinungsweise der Nekrophilie die Macht in den Blick nehmen, die von nackten, absolut gesetzten Zahlen (wie den Inzidenzwerten des Corona-Regimes) ausgeht. Einer Macht, die uns suggeriert, wir könnten alles messen und kontrollieren und dadurch sogar die Herrschaft über den Tod erlangen. Wir können diese auch heute noch gültige Beschreibung des drohenden Sieges des Todes über das Leben in unserer Kultur, die Fromm hier gibt, unschwer auf unseren Kontext beziehen der analogen Schule und des digitalen Distanzunterrichts sowie seines Gegenteil, dem analogen Unterricht übertragen. Des weiteren schließt dies die Rückbesinnung auf die humanen und humanistischen Quellen der Bildung mit ein. Letzteres erscheint in diesen Tagen dringlicher denn je! Wann also fangen wir mit dem Sehen an und hören auf damit, dass wir „auf bürokratische Weise die Menschen behandeln, als ob es sich um tote Gegenstände handelt“ (Fromm, S.82.)? Der Kreis unserer Argumentation schließt sich im Bezug auf das E-Learning und seine Apparatelogik („die das Interesse für alles Lebendige verdrängt hat“, Fromm S. 79) an dem Punkt, an dem Fromm in seiner Darstellung des nekrophilen Charakters zur Unterscheidung von „Hinsehen“ und „Sehen“ gelangt. Denn diese Passage knüpft sinnlogisch an das unserem Aufsatz vorangestellte Motto von Joseph Weizenbaum an, in dem dieser in ironischer Diktion sagt, dass „die Augen (ver-)schließen“ eine „große menschliche Fähigkeit“ sei, die er als „noch fast unerkannt“ bezeichnet. In beiden Zitaten geht es also um das Sehen und verschiedene Modi des Sehens. Auf die sich zuspitzende Situation des Kinder-und Jugend – Lockdowns bezogen: Warum sehen wir in der Gesellschaft „etwas nicht, was vor Augen liegt“? Weil wir es in unserer Gesellschaft „nicht sehen wollen“? Warum wollen wir es nicht sehen? Vielleicht, weil wir schon den Blick unserer Maschinen auf die Welt und auf uns übernommen haben? Bei Erich Fromm wird in der durchtechnisierten Gesellschaft „der ganze Mensch zum Bestandteil der totalen Maschinerie, welche er kontrolliert und die gleichzeitig ihn kontrolliert“. „Er hat“, fährt Fromm fort, „keinen Plan, kein Lebensziel, außer dass er das tut, wozu die Logik der Technik ihn veranlasst“ (S.79). – Ist das nicht auch ein passendes Bild für das Hamsterrad des „digitalen Homeschoolings“, in dem wir uns alle durch die Corona-Krise wiedergefunden oder besser: verloren haben? Und jetzt kommt die schon erwähnte Differenz, die Erich Fromm zwischen „Hinsehen“ und „Sehen“ aufmacht, ins Spiel: „Hinsehen“, schreibt er, „ist nicht „Sehen“: „Sehen ist eine menschliche Funktion, eine der größten Gaben, die der Mensch mitbekommen hat; es erfordert Tätigsein, inneres Aufgeschlossensein, Interesse, Geduld und Konzentration“ (S.77) – während „Hinsehen“ seinem Wesen nach bedeute, „dass man den Akt des Sehens zu einem Objekt macht“ (S.78), d.h. sich dem Part der Technik anpasst oder sich der Technik möglichst gleichmacht.
In diesem Sinne sollten wir zur Überwindung der Krise, die immer eine Entscheidungssituation ist, das bloße „Hinsehen“ in die technischen Apparaturen des computergesteuerten E-Learnings überwinden und uns wieder auf die Seite des Lebens schlagen. Biophil werden wir, in dem wir uns von der „Kunst des Sehens“ inspirieren, ja begeistern lassen und sie endlich wieder für die Pädagogik fruchtbar machen! Wann also fangen wir mit dem Sehen an und hören auf, dass wir „auf bürokratische Weise die Menschen behandeln, als ob es sich um tote Gegenstände handelt“ (Fromm, S. 82)? Wann sehen wir, dass es unsere Kinder und damit die Zukunft unserer Welt sind und sein müssen (das Ganze und nicht nur die vom nekrophilen Charakter zerstückelten Teile), denen wir „durch Ehrfurcht vor dem Leben“ (Erich Fromm) dienen – statt dem Tod?
[«63] Erich Fromm, Der nekrophile Charakter, in: Erich Fromm Lesebuch, hrsg. v. Rainer Funk, Stuttgart / München 1985, S.82.
[«64] Michael Hüter, Die deformierte Generation, a.a.O.
[«65] In unserer Untersuchung haben 56% der Befragten den expliziten Wunsch geäußert, dass der Lockdown so schnell wie möglich beendet werden soll, 24% können sich vorstellen, sofern sie Wahlmöglichkeiten haben, auch teils weiter Online – Unterricht zu haben und 20% machen die Entscheidung abhängig von der Höhe der Inzidenz bzw. allgemein von der Entscheidung durch die Politik.
[«66] Siehe: n-tv.de/politik/Kassenaerzte-fordern-Schulen-wieder-oeffnen-article22327192.html vom 30.01.2021.
[«67] dak.de/bundesthemen/kinder—und-jugendgesundheit-2091020.html#/
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