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Titel: Abed Shokry zur Situation in Gaza

Datum: 15. Mai 2021 um 12:23 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Militäreinsätze/Kriege
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Seit Wochen eskaliert in Israel und Palästina die Gewalt. Was mit kleineren Scharmützeln begann, hat sich seitdem zu einem bewaffneten Konflikt mit zahlreichen Todesopfern entwickelt. In den meisten Medien ist viel über die Folgen der Kampfhandlungen in Israel zu lesen. Über die Situation in Gaza erfährt man dort jedoch leider nur sehr wenig. Unsere Nahost-Korrespondentin Karin Leukefeld war so nett, uns einen Brief von Dr. Abed Shokry weiterzuleiten, der in Gaza lebt und die Lage dort in eindringlichen Worten schildert.

Sehr geehrte Damen und Herren, Liebe Freundinnen und Liebe Freunde,

Gaza heute 14 Mai 2021 – (1948, 73 Jahre Besatzung)

– Es gibt keinen Strom, da das einzige Elektrizitätswerk fast ausgeschaltet, weil es keine Brennstoffe gibt. Die Brennstoffe kommen aus Israel und die PA bzw. Katar zahlen dafür.

– Es gibt kein Leitungswasser. Und wenn es das mal gibt, dann ist es nur für die Klospülung geeignet, sonst nicht. Das Wasser ist sehr versalzen.

– Es gibt kaum Medikamente in den Krankenhäusern. Die Patienten müssen sie selber kaufen. Wenn es sie denn in den Apotheken geben sollte.

– Es gibt keine Bodenschätze. Und die vor den Küsten von dem Gazastreifen entdeckten Gasvorräte, dürfen und können wir NICHT bekommen.

– Es gibt kaum Arbeit. Ca. 300.000 Personen haben mindestens Bachelor-Abschluss und befinden sich auf Arbeitsplatzsuche. Sie sind sehr sehr gut ausgebildet.

– Es gibt kaum Leben in Gaza. Und das ein wenig Leben, was es gibt, das geht an Vielen und auch an uns vorbei.

– ABER ES gibt in GAZA tapfere Männer und Frauen, die bereit sind alles zu tun, um ihre Heimat zu beschützen. Ihnen ist es egal, ob sie leben oder sterben. Denn ein Leben muss man entweder richtig leben oder aber gar nicht leben.

Seit Beginn dieser neuesten militärischen Runde, haben wir (meine Frau, unsere Kinder und ich kaum geschlafen). Es ist auch nachts sehr schlimm für uns. Diese Nächte waren die schlimmsten, seitdem wir wieder in Gaza leben. Schlimmer als die Nächte aus dem Jahr 2014..
Die Intensität der israelischen Luftangriffe ist sehr zu spüren. Das Haus wackelt und bebt als wären die Luftangriffe nebenan. Das ist wahnsinnig. Das ist unglaublich, das ist unerträglich und unvorstellbar. Das ist unbeschreibbar. Ich habe das Gefühl, dass die israelischen Piloten jeden Einzelnen von uns, auch die Kinder hassen. Ich kann es mir sonst nicht erklären, wie sie gezielt eine Wohnung bombardieren, obwohl sie sehen, dass da Kinder schlafen (geschlafen haben, denn sie sind jetzt tot). Anzahl der Getöteten, von denen die meisten Zivilisten sind, ist weiter gestiegen. Heute am Freitagabend gibt es 122 Tote, von denen 31 Kinder waren. Waren die Kinder Hamas-kämpfer? Es gibt ca. 800 Verletzte, die zusätzlich zu den vielen an Covid19 Erkrankten behandelt werden müssten – wenn es denn genug Medikamente, Ärzte und Betten gäbe

Gestern Nacht waren die Angriffe heftiger, stärker, und irgendwie anders. Denn das Haus bebte und bebte und bebte. Es wackelt und wackelt und wackelt, wenn die Bomben in der Nachbarschaft fallen. Und die Geräusche sind sehr, sehr beängstigend. Das ist total gruselig. Ich dachte, es handle sich um einen USA Action- Film. Es ist aber LEIDER sehr real. Die vierte Nacht infolge ohne Schlaf, weder ich noch die Kinder und ebenso wenig meine Frau. Dann wurden Gift-Gas-Granaten auf unterschiedliche Stadtviertel in Gaza Stadt und im Norden vom Gazastreifen abgeworfen. Uns brannten gestern Nacht die Augen und wir hatten schlimme Atemproblem.

Das ist ein Horrorfilm und wir sind mittendrin. Ohne es zu wollen. Wir Erwachsene haben Angst und können es vor unseren Kindern kaum verbergen. Auch sie haben unbeschreibliche Angst. Ich kann das alles kaum in Worte fassen.

Wir dachten, dass der Tag des Jüngsten Gerichts nun Wirklichkeit wird. Denn mal sind es 80 und mal sind es 160 Flugzeuge, die den 365 Km2 großen Gazastreifens zeitgleich mit Hunderten von Raketen beschießen. Die Marine macht mit und die Bodenpanzer direkt an der Grenze geben uns den Rest. Das ist so grauenhaft und so unmenschlich. Was wir erleben, übertrifft alles, was man sich vorstellen kann. Um 6.00 Uhr morgens gab es gestern 80 Bombardierungen im Umkreis von zwei Kilometern in fünf Minuten. Unsere Kinder schrien vor Angst. Und ich hoffte so sehr, dass die Bomben nicht allzu nahe einschlagen: Denn splitternde Fenster und einstürzende Mauern würden sehr schnell zu Verletzungen führen.

Ich mag kaum weiterschreiben. Mein Durchhaltevermögen und meine Kräfte können das nicht mehr ertragen. Ich spüre es körperlich.
Aber durch die vielen Emails, welche ich von Ihnen und Euch erhalten habe, fühle ich mich etwas stärker und versuche Ihnen/Euch alles zu schreiben, was mir durch den Kopf geht, was mir auf der Seele liegt.
Das gegenseitige Beschießen geht weiter. Der Staat Israel, der eine der stärksten Armeen der Welt hat, und die Palästinensischen Kämpfer, mit ihren selbstgebauten Raketen sind KEIN gleichstarkes Gegenüber.

Noch vor Wochen hatte ich den Begriff Feuerwerk-Raketen verwendet, ich revidiere meine Äußerungen, denn sie können auch verletzen.
Während es auf der israelischen Seite Schutzbunker gibt, gibt es bei uns keine solche Schutzräume. Wir sind also den Luftangriffen der Israelis ohne jeden Schutz ausgeliefert. Es gibt nur einige wenige große Gebäude mit einem Keller. Auch das Mehrfamilienhaus, in dem wir wohnen, hat keinen Keller. Wo sollen wir also hin, wenn angekündigt wird, wie es die Israelis meist „netterweise“ machen, wenn sie ein Wohnhaus in den nächsten 60 Minuten bombardiert werden?
Angeblich wohnen ja überall Hamas-kämpfer. Falls Sie in einem Mehrfamilienhaus wohnen, wissen Sie wer ihr Nachbar ist? Kennen sie alle? Rechtfertigt das also, dass sozusagen als Kollateralschaden ganze Familien getötet werden?

Inzwischen wurden 122 Menschen bei uns ermordet, darunter 31 Kinder und 20 Frauen und bei den restlichen handelte es sich auch hauptsächlich um Zivilisten. Denn nach lokalen Medienangaben sind nur wenige Aktivisten bei den Angriffen ums Leben gekommen.
Von Gaza aus wurden und werden auch Raketen abgefeuert. Es gab bis jetzt neun Tote. Ich will auch NICHT Leid mit Leid vergleichen. Das mache ich NICHT. Dennoch sprechen die Zahlen auch für sich.

Ich hoffe, dass ein Waffenstillstand sofort erreicht werden kann, um das weitere Blutvergießen zu stoppen. Aus den Medien, auch aus den deutschen Nachrichten, ist zu hören, dass Israel den von Ägypten konkret vorgeschlagenen Waffenstillstand abgelehnt hat. Der Vorschlag war bestimmt mit Hamas abgestimmt, aber Israel will Gaza weiter bombardieren.

Israel gibt nicht an, was eigentlich das Ziel dieser Vernichtung von Menschen, von zivilen Männern, von Frauen und Kindern ist.

Ich hasse Gewalt und bin dagegen, dass man Gewalt zur Lösung von Konflikten einsetzt. Ich absolut überzeugt, dass Gewalt nur Leid bringt und nichts sonst damit erreicht wird.

Wir wollen nicht unter Besatzung leben. Wir wollen frei sein. Wir wollen über unser Leben selbst bestimmen. Wir wollen gleichbehandelt werden, wie alle Menschen in einer freien Welt.

Und wie ist es möglich, dass nicht nur Israel, sondern wie es aussieht, die ganze Welt uns das nicht zugesteht. Uns Palästinensern ist Land weggenommen worden. Wir sind vertrieben und eingesperrt worden. Nicht Israel. Meine Familie ist aus dem jetzigen Israel nach Gaza vertrieben worden. Wir sind nicht schuld an dem, was unserem Nachbarn einst angetan worden ist. Warum erkennt das die Welt nicht? Will es nicht erkennen?

Gedanken zu den Gründen für die Eskalation: Die immer wieder vergessenen und ignorierten Tatsachen, dass wir unter einer Besatzung leben.

Als erstes muss die Besatzung ein für alle Male beendet werden. Ohne Wenn und ohne Aber. Die Grenzen von 1967 haben wir alle als Palästinenser akzeptiert (Hamas übrigens auch), mit Ost- Jerusalem als Hauptstadt. Wir leben nun seit 54 Jahren unter einer Besatzung. Kein Volk und kein Mensch kann so etwas aushalten. Es wird auch in vielen deutschen Medien nicht viel über die Gewalt der israelischen Armee gegenüber der palästinensischen Gesellschaft und die Gewalt der israelischen Siedler berichtet. Ich stelle die provokative Frage: Wird diese aktuelle Bombardierung den ersehnten Frieden herbeiführen?

Mit absoluter Sicherheit ist meine Antwort NEIN. Ich stelle noch eine weitere Frage: Was will Israel von uns? Wir leben seit mehr als 70 Jahren in Feindseligkeit, was hat uns das gebracht? Nichts! Auch letztlich nichts für Israel. Man kann auf Dauer nicht den Nachbarn, die Palästinenser unterdrücken und denken, so könne man als Israel in Frieden leben.

Ich könnte Ihnen viele Bilder von zerstörten Hochhäusern, Straßen, Schulen, Banken, von gestohlener Kindheit zeigen. Ich werde es weglassen. Es gibt auch Bilder mit Leichen von Kindern. Die lasse ich auch weg. Das waren alles hauptsächlich die Ziele der israelischen Luftwaffe. Ich habe die Sicherheitszentren und alle Polizeiwachen vergessen aufzulisten. Sie wurden fast alle zerstört. Sogar der Friedhof wurde bombardiert.

Gestern war das Fest nach dem Fastenmonat, Eid-Elfetr bzw. Zuckerfest. Für Familien hier hat das Fest eine ähnliche Bedeutung wie Weihnachten in der christlichen Welt. Das Fest fand für uns nicht statt. Meine Kinder hatten sich so darauf gefreut.

Meine älteste Tochter lernt für ihr Abitur. Hoffentlich können die Prüfungen stattfinden. Sie möchte Ärztin werden, wenn alles klappt. Ich wünsche ihr so sehr, dass ihre Pläne in Erfüllung gehen und dass sie wie auch meine jüngeren Kinder in Frieden und Freiheit leben können. Das wünsche ich allen Kindern auf der Welt.

Ich höre auf für heute und verbleibe mit der Hoffnung, dass das bald ein gutes Ende haben wird. Entschuldigen Sie, wenn ich vielleicht manchmal meine Gedanken wiederholt habe. Es ist einfach schwer alles aufzuschreiben, was mich bewegt und was ich Ihnen und Euch mitteilen möchte. Das alles macht mich auch einfach so müde.

Mit traurigen Grüßen
Abed Schokry

Titelbild: Zurijeta/shutterstock.com


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