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Titel: Wissenschaften in der Pandemie
Datum: 12. Mai 2021 um 14:00 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Hochschulen und Wissenschaft
Verantwortlich: Redaktion
In seinem Aufsatz „Die Wahrheit ist nicht relativ“ äußert der Physiker Ralf Bönt die Vermutung, dass uns gegenwärtig eine Phase der gesellschaftlichen Entwicklung und Umbrüche bevorstehen könnte, wie die Welt sie vor rund 100 Jahren am Ende der Spanischen Grippe, zu einer Zeit des stürmischen Fortschritts der Physik, erlebt hat. Er vergisst, zu bedenken, dass die Physiker jener Zeit die von ihnen initiierten Umbrüche mit einer gründlichen philosophischen Reflexion ihres eigenen Tuns und im intensiven Austausch mit den Philosophen ihrer Zeit verbunden haben. Vielmehr meint Bönt, der Nachfahr dieser revolutionären Wissenschaftler, auf Philosophie ganz verzichten zu können. Das sei ihm unbenommen. Allerdings fällt auf, dass Bönt im Denken über das Tun und den Gegenstand seiner eigenen Disziplin weit hinter die Einsichten seiner Kollegen, die einst die Quantentheorie entwickelt haben, zurückfällt. Gerade mit Blick auf Bönts eigentliches Anliegen, die Rolle der Naturwissenschaften bei der Bewältigung gegenwärtiger Herausforderungen wie der Pandemie, aber auch des Klimawandels, darf das nicht kritiklos hingenommen werden. Von Jörg Phil Friedrich.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Es ist für das Verständnis der Möglichkeiten und der Grenzen der Wissenschaften bei der Bekämpfung von Pandemie und Klimawandel in der Tat hilfreich, auf die Erfolge und Einsichten der modernen Physik zu schauen, allerdings aus einem anderen Grund, als Bönt meint. Werner Heisenberg, dem als einem der führenden Köpfe bei der Entwicklung der Quantentheorie wohl kaum der Vorwurf gemacht werden kann, ein „Wissenschaftsleugner“ zu sein, hat in seinem Nachdenken über die Naturauffassung der modernen Physik früh erkannt, dass die Gegenstände seiner Disziplin gerade nicht mehr die Bausteine der Natur an sich sind, sondern dass „wir im Grunde immer nur unsere Kenntnis dieser Teilchen zum Gegenstand der Wissenschaft machen können“. Man muss diese Einsicht sehr genau durchdenken und darf sie nicht vorschnell in die eine oder andere Richtung fehlinterpretieren. Weder bedeutet sie, dass die Gegenstände der Wissenschaften nur Konstruktionen unseres Geistes sind, noch, dass es sich um vorläufige Annäherungen an die „wirkliche Realität“ handeln würde, oder dass es vielleicht „nur“ eine Konsequenz der nach Heisenberg benannten Unschärferelation sei, nach der die Feststellung der Eigenschaften eines Teilchens von der Messung abhinge.
Diese Überlegungen formulierte Heisenberg in seinem Vortrag „Das Naturbild der heutigen Physik“ 1955. Um zu verstehen, was Heisenberg meint und wie weit sein Gedanke reicht, lohnt es sich, noch ein paar Jahre zurückzugehen, zu seinem Aufsatz „Ordnung der Wirklichkeit“, der Anfang der 1940er entstanden ist. Hier konstatiert er für die neuzeitliche Physik einerseits eine Fortsetzung des Programms der Mathematisierung, welches schon durch die Pythagoreer begonnen wurde, andererseits vor allem aber die zentrale Rolle des Experiments. Mit ihm werden die Phänomene, die theoretisch beschrieben und verstanden werden können, überhaupt erst erzeugt, beides – die stabile experimentelle Erzeugung des Phänomens und seine mathematisch-theoretische Beschreibung – liefern die Grundlage für die Möglichkeit der technischen Nutzung.
Das so genannte Naturgesetz ist somit keineswegs etwas, was einfach so schlicht in der Natur da draußen „herrscht“ – es ist Teil unserer Welterkenntnis, die sich im Wesentlichen auf experimentell erzeugte und stabilisierte Phänomene bezieht. Das macht auch den Erfolg der Naturwissenschaften, allen voran der Physik, aus. Die Rolle der Gesetze als Teile der theoretischen Beschreibung experimentell und technisch beherrschter Situationen wird bei Heisenberg auch schon darin deutlich, dass er – etwa mit Bezug auf die Newtonsche Mechanik – von so genannten „abgeschlossenen Theorien“ spricht. Diese sind absolut wahr und können auch in Zukunft nicht mehr korrigiert werden, sie beschreiben einen klar umrissenen experimentell herstellbaren Phänomenbereich vollständig.
Der einzige Phänomenbereich, in dem – jedenfalls in alltäglichen Zeitmaßstäben – die mathematischen Modelle gut mit den Beobachtungen auch außerhalb des Labors übereinstimmen, sind die Bewegungen von Planeten, Asteroiden und Monden im Kosmos. Kann man deshalb sagen, dass sie den Gesetzen der Physik „gehorchen“? Leider nicht, und zwar nicht nur, weil die Rede vom Gehorchen ohnehin nur eine metaphorische Sprechweise ist, sondern weil in den Gesetzen der Gravitation eine Gravitationskraft enthalten ist, die ohne Zeitverzug zwischen den Körpern wirkt, deren Natur oder Existenz aber in den fraglichen „Gesetzen“ völlig unklar bleibt. Dieses Problem hat schon den Physiker Heinrich Hertz in seiner „Einleitung zur Mechanik“ vor 150 Jahren umgetrieben.
Spricht man heute mit Physikern, die sich um die erkenntnistheoretischen Grundlagen ihrer Disziplin und ihres Handelns Gedanken machen, stellt man fest, dass sie Begriffe wie „Naturgesetz“ oder „Kausalität“ und „Wahrheit“ gern vermeiden. Theorien sind nicht wahr oder falsch, ihre Axiome oder Basisgleichungen sind keine Gesetze, die da draußen in der Natur herrschen – die Theorien sind vielmehr „empirisch adäquat“, sie erlauben es, den Verlauf von Laborexperimenten richtig vorherzuberechnen und technische Geräte zu bauen, die funktionieren. Das heißt natürlich auch, dass diese wiederum – wenigstens im kontrollierten Umfeld des Experiments – ein regelmäßiges Verhalten zeigen, das sich stabil reproduzieren und mit den Gleichungen der Theorie beschreiben lässt. Es wäre aber vermessen, zu sagen, dass diese Gleichungen Gesetze wären, denen die Komponenten des Experiments folgen.
Dieser Ausflug in die Wissenschaftstheorie der modernen Physik war notwendig, um deutlich zu machen, dass die Rolle der Naturwissenschaften bei der Bewältigung von Problemen außerhalb des Labors und technischer Umgebungen nicht einfach aus dem Erfolg der modernen Naturwissenschaften innerhalb des Labors begründet werden kann. Fraglos gibt es Methoden, um Erzeugnisse aus den Labors etwa der Gentechniker auch außerhalb einzusetzen, etwa die dort entwickelten Impfstoffe. Wir wissen aber, dass sich die Wirkung eines Impfstoffs in jedem einzelnen Fall nicht vorhersagen lässt wie ein Laborexperiment. An die Stelle der Prognose des Einzelfalls tritt deshalb die Feldstudie. Für jede einzelne Impfung aber bleibt der Verlauf gewissermaßen einzigartig. Erst durch die große Zahl der Impfungen, zunächst im Kontext kontrollierter Studien, dann in ihrem breiten Einsatz, wird der Erfolg einer Impfkampagne insgesamt gesichert.
Wichtiger für das Verständnis der Rolle der Naturwissenschaften bei Herausforderungen wie der Pandemie oder dem Klimawandel ist aber, dass sie es hier von Anfang an eben gerade nicht mit Phänomenen zu tun hat, die sie selbst erzeugt hat und die sie kontrollieren kann. Die Pandemie und der Klimawandel laufen nicht unter Laborbedingungen ab. Die Regelmäßigkeiten, die sich im Labor isolieren und als Gesetze beschreiben lassen, sind deshalb kaum sichtbar und die Wissenschaften benötigen für ihre Arbeit einen ganz anderen Ansatz und ein ganz anderes Selbstverständnis als für die Arbeit im Labor.
An die Stelle des Laborexperiments tritt nun das Modell. Genau genommen ist auch das Laborexperiment ein Modell, es ist nun aber nicht mehr Selbstzweck und eigentlicher Gegenstand der Wissenschaft, das Modell steht als radikale Vereinfachung, die immer nur bestimmte Aspekte des eigentlichen Gegenstandes zeigen kann, für den es eben Modell ist. Ein Modell kann eine bloße Modellvorstellung sein, die eine bestimmte Wechselwirkung oder einen Prozess veranschaulicht, es kann sich um ein reales Modell handeln, etwa Mikroorganismen in einer Nährlösung, es kann ein mathematisches Modell und im Speziellen ein Computermodell sein. An Modellen lässt sich ein isolierter Prozess studieren und verstehen.
Das Untersuchen von Modellen ist etwas ganz anderes als das, was die Physik als paradigmatische Naturwissenschaft als Erfolgsgeschichte erzählen kann. Diese Erfolgsgeschichte besteht in der Entwicklung immer umfassenderer mathematischer Theorien, die sich in Laborexperimenten bestätigen lassen und für die umgekehrt Laborexperimente immer neues Rohmaterial als stabilisierte und kontrollierbare Effekte liefern. Gut kontrollierte Effekte können das Labor verlassen, um in technisch kontrollierten Umgebungen Anwendung zu finden. Diese Erfolgsgeschichte ist faszinierend, auch wenn wir inzwischen auch ihre Gefahren kennengelernt haben, da keine Umgebung außerhalb der Labore sich ganz kontrollieren lässt.
Was wir aber von der Wissenschaft für den Umgang mit Pandemien und Klimawandel erwarten, ist davon verschieden – und die Modelluntersuchungen liefern uns auch etwas anderes. Hier werden keine umfassenden Theorien entwickelt, sondern eine Vielzahl von Wissens- und Verständnisbausteinen, die uns Orientierung geben können, die uns manches von dem, was wir beobachten, einigermaßen verständlich machen, und die uns eine gewisse Vorstellung davon geben, was passieren kann, wenn wir etwas tun oder lassen. Das Handeln bleibt dabei immer ein unsicherer Eingriff in das komplexe Geschehen der Welt selbst, welches Auswirkungen hat, die der Modellvorstellung entsprechen können, aber auch solche, die vom Modell nicht abgedeckt werden.
Da Modelle immer nur einen gewissen Teil der Aspekte des realen Geschehens abdecken, ist es gut, für das gleiche Geschehen mit verschiedenen Modellen zu arbeiten. Diese können sich auch widersprechen, sie können inkompatibel zueinander sein – das Modellsystem ist ja nicht identisch mit dem realen System, es muss nicht einmal Ähnlichkeit mit ihm haben. Ein Beispiel soll das illustrieren: Wenn man den Verlauf von Pandemien beschreibt, kann es sinnvoll sein, die Infektionszahlen als „Wellen“ und „Schwingungen“ zu beschreiben und hierfür wiederum das Modell eines Pendels zu verwenden. Die Vorstellung des Pendels kann helfen, die Dynamik der Pandemie zu verstehen, aber natürlich ist ein Pendel etwas ganz anderes als eine Pandemie.
Unterschiedliche Modelle machen unterschiedliche Aspekte des Geschehens verständlich – und deshalb gibt es eben auch unterschiedliche Modell-Wahrheiten. Die Frage, ob es draußen in der Welt nur eine Wahrheit gibt, ist nicht die nach dem letztlich richtigen Modell – da unterschiedet sich eben die Wissenschaft der Pandemie ganz grundsätzlich von der Wissenschaft der Elementarteilchen, bei der man vielleicht auf das letzte richtige Modell hoffen mag – auch da würde Heisenberg allerdings widersprechen.
Richtig ist aber, wiederum aber in einem anderen Sinn als von Ralf Bönt vermutet, dass es in der Pandemie nur eine Wahrheit gibt: Denn die Pandemie ist ein einmaliges Geschehen, das sich nicht, wie ein Laborexperiment, wiederholen lässt. Die Wahrheit der Pandemie bleibt uns allerdings genau deshalb verborgen. Während der Experimentator im Labor so lange an seinem Experiment justieren kann, bis es stabile, reproduzierbare Ergebnisse zeigt, die sich mit einer Theorie zur Deckung bringen lassen, geschieht die Pandemie so, wie wir sie gerade erleben, nur ein einziges Mal, und die meisten Prozesse, die dabei relevant sind, bleiben uns verborgen, werden nicht beobachtet und können nicht sicher in unsere Vorstellungen vom kausalen Geschehen eingeordnet werden. Auch deshalb gibt es hier niemals genau eine Wahrheit im Sinne genau einer zutreffenden wissenschaftlichen Theorie.
Was folgt aus alldem für die Rolle der Wissenschaft in der Pandemie oder auch im Klimawandel? Zuerst: Sie ist eine wichtige Institution, die uns tatsächlich mit Einsichten in das Geschehen versorgen kann, neben dem Journalismus, der uns über das Handeln, die Ziele und die Ansichten und Stimmungen der politischen Akteure der Menschen überhaupt informiert. Aber die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind von anderer Qualität als wir erwarten, wenn wir an die Erfolgsgeschichte der Naturwissenschaften der letzten zwei Jahrhunderte denken. Das Orientierungswissen der Virologen und Epidemiologen und ihrer modellierenden Kollegen aus der Physik und Mathematik ist nicht eindeutig, nicht stabil, nicht sicher, es ist in einem ganz praktischen Sinn der Revision durch das tatsächliche Geschehen ausgesetzt. Ob es richtig war oder fehlerhaft, lässt sich niemals im gleichen Sinn bestimmen, wie es für eine Theorie möglich ist, die in Laborexperimenten überprüft werden kann.
Daran müssen nicht nur politische Entscheider, die auf der Basis wissenschaftlicher Einsichten handeln müssen, immer mal wieder erinnert werden, sondern auch Wissenschaftler selbst, die als politische Berater oder Interviewpartner in Medien auftreten. Und dazu können Philosophen, die über die Arbeit der Wissenschaften reflektieren, durchaus einen bescheidenen Beitrag leisten.
Titelbild: PopTika/shutterstock.com
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