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Titel: Schämst du dich schon oder bist du noch ein böser Mensch?

Datum: 13. Mai 2021 um 11:45 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Ideologiekritik, Rezensionen
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Die Journalistin Judith Sevinç Basad hat ein Buch über Identitätspolitik geschrieben, das es in sich hat. Man spürt bei der Lektüre: Die Autorin ist echt sauer und schreibt sich etwas von der Seele. Und das vollkommen zu Recht. Sie bietet ihren Lesern eine wahre Fundgrube an Absurditäten der Identitätspolitik. Nach der Lektüre weiß man: Identitätspolitik ist nicht einfach nur eine Spinnerei von verwöhnten Wohlstandskindern, sondern eine gefährliche Ideologie, die eine Gefahr für die Demokratie ist. Udo Brandes hat das Buch für die NachDenkSeiten gelesen.

Sahra Wagenknecht verwendet in ihrem kürzlich erschienenen Buch „Die Selbstgerechten“ (siehe dazu auch unsere Rezension) den Begriff der „Lifestyle-Linken“ für das akademisch gebildete, urbane linksliberale Milieu. Basad spricht in ihrem Buch noch zugespitzter von „Social-Justice-Warriors“ (= Kriegern für soziale Gerechtigkeit). Dieser Begriff sei in den 2010er Jahren entstanden, weil Aktivisten an den amerikanischen Unis immer aggressivere Methoden anwandten, um ihre Theorien in die Praxis umzusetzen. Veranstaltungen mit unerwünschten Rednern wurden gesprengt, Kritiker niedergebrüllt, Events organisiert, bei denen Menschen nach Hautfarbe sortiert wurden, oder Professoren wurden als Menschenfeinde diffamiert und ihre Entlassung gefordert, wenn diese sich gegen die Theorien der Social-Justice-Warriors aussprachen. Also das ganze Programm, was wir inzwischen auch in Deutschland von A bis Z kennen.

Eine Ideologie aus den USA

Die Ideologie dazu ist an den amerikanischen Unis in den 90er Jahren entstanden. Ganze Forschungszweige, die sich der Durchsetzung der „Social Justice“ – der sozialen Gerechtigkeit – verpflichtet haben, wurden neu gegründet. Dazu zählen unter anderem „Gender Studies“, „Postcolonial Studies“, „Cultural Studies“, „Queer Studies“ und andere mehr. Also alles Disziplinen, die inzwischen auch an europäischen Universitäten gang und gäbe sind. Das Problem dabei, so Basad:

„Im Zentrum dieser neuen Disziplinen steht nicht mehr der Anspruch, aufzuzeigen, wie die Welt ist, sondern wie die Welt zu sein hat. Diese ‚Social-Justice-Disziplinen‘ haben nichts mehr mit klassischer Wissenschaft zu tun. Vielmehr wurde hier aus einzelnen Bausteinen der Postmoderne eine neue Theorie gebastelt, die dann in Politik und Gesellschaft als absolute Wahrheit gelten soll“ (S. 28).

Und trotzdem

„klammern sich immer mehr staatliche Institutionen, Politiker, Mitarbeiter in Ministerien und Landesregierungen, Universitäten und Schulen, aber auch anerkannte Zeitungen und Medien an diesen Social-Justice-Ansätzen fest“ (S. 29).

Stimmt. Kleine Anekdote dazu: Als ich mal mit einem Vertreter der Stadt Oldenburg ein Interview führte und den Text zur Autorisierung an die Pressestelle der Stadt gab, bekam ich meinen in korrektem Deutsch verfassten Text gegendert zurück.

Kulturrelativismus oder: Die Doppelmoral der Feministinnen

In „linksliberalen“ Kreisen kann man immer wieder beobachten, dass Gewalt verharmlost oder totgeschwiegen wird – wenn sie denn aus einem anderen Kulturkreis kommt und aus Sicht dieses Kulturkreises legitim ist. Basad zitiert dazu den deutsch-israelischen Psychologen Ahmad Mansour. Dieser berichtet in seinem Buch „Gegen falsche Toleranz und Panikmache“ ein Erlebnis mit einem Mitarbeiter eines Jugendamtes. Dieser habe ihn gefragt, ob es nicht „Kulturkolonialismus“ sei, wenn man Menschen, die hierherkommen, unsere, also deutsche oder westliche Werte aufzwinge. Denn es gebe einfach Kulturen, in denen es dazugehöre, Kinder zu schlagen und auch schon kleinen Mädchen Kopftücher anzuziehen. „Und wer bin ich denn, diesen Eltern vorzuschreiben, das zu lassen?“, habe der Mann dann gefragt. Ein Repräsentant einer deutschen Behörde, deren Aufgabe es ist, Kinder und Jugendliche vor Gewalt und anderen Misshandlungen zu schützen, kann man da nur antworten. Basad kommentiert diesen Fall wie folgt:

„Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der hier beschriebene Kulturrelativismus, der von den Aktivisten gerade in Gesellschaft und Politik vorangetrieben wird, seinen Ursprung in den Social-Justice-Disziplinen hat. Nicht nur Gewalt gegen Kinder kann somit als ein zu schützendes Kulturgut verstanden werden. Der Hass auf den Westen und das ‚Weißsein‘, der in dieser ‚Forschung‘ theoretisch verankert ist, geht so weit, dass selbst Genitalverstümmelungen verteidigt werden“ (S.153-154).

Basad belegt dies mit zwei Beispielen, die wirklich unfassbar sind. Und die einiges über den Niedergang der Universitäten aussagen:

„So behauptet die Geschlechterforscherin Anna-Katharina Meßmer in ihrer Dissertation, dass der Begriff ‚Genitalverstümmelung‘ nur deswegen eine negative Bedeutung habe, weil der Westen zu Kolonialzeiten den Orient als ‚unzivilisiertes Anderes‘ wahrgenommen habe. Der Akt der Verstümmelung, der häufig in afrikanischen Dörfern stattfindet, ist also nicht deshalb grauenhaft, weil er es ist, sondern weil der Westen – im Glauben, dass seine eigene‚ ‚moderne, aufgeklärte, heilende Medizin‘ die überlegene sei – sie zu einer ‚barbarischen Tradition‘ stigmatisiert habe“ (S. 154).

Im zweiten Beispiel betreibt eine Genderforscherin das, was wir schon von den Politisch Korrekten kennen: Sie versucht durch Sprachmanipulation ein neues Bewusstsein zu schaffen. Nur geht es dieses Mal nicht darum, eine Minderheit vor Verletzungen zu schützen, die durch herabsetzenden Sprachgebrauch zustande kommen, sondern umgekehrt, massive körperliche Gewalt und Körperverstümmelungen bei Frauen durch eine beschönigende Sprache zu rechtfertigen:

„Auch die Genderforscherin Daniela Hrazán fordert in ihren Artikeln dazu auf, Verständnis für die Genitalverstümmelung aufzubringen. Dafür ersetzt sie den Begriff ‚femal genital mutilation‘ (FGM) durch die Bezeichnung ‚femal genital cutting‘ (FGC), verharmlost also ‚Genitalverstümmelung‘ zu ‚Genitalbeschneidung‘. Warum? Bei ‚Genitalverstümmelung‘ könne der Eindruck entstehen, ‚dass Eltern ihre Kinder bewusst verletzen und foltern, wodurch jeglicher sozialer Kontext, in dem FGC-Praktiken eingebettet sind, ausgeblendet wird‘.

Wieso man eine Praxis, mit der man kleine Mädchen ohne Betäubung und unter Einsatz körperlicher Gewalt die Klitoris, manchmal auch die Schamlippen mit Rasierklingen, Messern oder Scherben abschneidet, und deren Vagina anschließend zunäht – wieso man diese Praxis nicht als ‚bewusst verletzend‘ bezeichnen darf, verschweigt die Autorin. Ebenso welcher ‚soziale Kontext‘ hier die begriffliche Verharmlosung einer menschenverachtenden Misshandlung rechtfertigen soll. Stattdessen ist die Genderforscherin überzeugt davon, dass ihr Ansatz ‚für einen kritisch-reflektierten und antirassistischen Umgang mit dem Thema‘ steht. Dieser Aufsatz stellt keinen Ausrutscher dar, sondern ist sogar im wissenschaftlichen Mainstream salonfähig geworden. So belehrte Hrzán auf dem 35. Feministischen Juristinnentag im Jahr 2009 Richterinnen und Rechtsanwältinnen über den ‚richtigen‘ Umgang mit der Thematik“ (S. 154-155).

Der Narzissmus der Social-Justice-Warriors

Im Kapitel „Schäm dich!“ kritisiert Basad, dass die Social-Justice-Warriors Weißen ihre Individualität absprechen. Weißen also wegen ihrer Hautfarbe generell Rassismus unterstellt wird. Sie belegt dies mit verschiedenen Beispielen und kritisiert diese Sichtweise mit Berufung auf die Philosophin Hannah Arendt als totalitär:

„Was hier geschieht, beschreibt die Philosophin Hannah Arendt als Element der totalitären Herrschaft. (…) Denn erst wenn man die privateste Sphäre des Menschen politisiert, indem man Gesten, Gedanken und Emotionen in ‚gut‘ und ‚schlecht‘ einteilt, sind die Menschen selbst in ihren intimsten Gefühlen gleichgeschaltet – und lassen sich somit in der Form der Masse besser manipulieren. Nichts anderes geschieht gerade in der Social-Justice-Bewegung. Die Ideologie des kolonialen Systems wird hier als so mächtig beschrieben, dass Weißen die Individualität – also der eigene Verstand, der eigene Willen und die eigenen Gefühle – abgesprochen wird. Es gibt nur noch eine Ordnung, der sich jede Persönlichkeit, jede Tatsache und auch jede Emotion beugen muss. Weiße sind Täter und Schwarze sind Opfer“ (S. 134-135).

In diesem Zusammenhang bezieht sich Basad auch auf die Autorin Alice Hasters. Deren Buch „Was Weiße nicht über Rassismus wissen wollen“ ist ein Bestseller, über den die Medien viel berichtet haben. Basad legt sehr schön die darin aufblitzende Herrschsucht der Autorin frei. Und die in unserer Gesellschaft so verbreitete narzisstische Egozentrik, die dazu führt, dass Menschen alles, was sie als Ich-fremd wahrnehmen, nicht mehr ertragen können:

„Auch Alice Hasters beschreibt in ihrem Buch, wie das koloniale System in die intimsten Sphären hineinwirkt. In dem Kapitel ‚Liebe‘ erklärt sie, wie sich weiße Liebhaber ihr gegenüber verhalten sollen: ‚Liebe löscht Rassismus nicht aus. Nur weil du dich in mich verliebt hast, sind damit nicht alle deine Vorurteile verschwunden.‘ Es ist fast schon amüsant zu lesen, an was Hasters den Rassismus ihrer Liebhaber festmacht. Etwa wenn sie nicht einsehen wollen, dass Gran Torino ein ‚furchtbar rassistischer‘ Film ist. Oder wenn sie der Meinung sind, dass Jan Böhmermanns Parodie auf den Rapper ‚Haftbefehl‘ – der wegen Antisemitismus mehrmals kritisiert wurde – nicht lustig sei, weil hier ein ‚weißer Typ‘ Witze über ‚PoC‘ macht, die ja Opfer von Polizeigewalt seien. Deswegen denkt Hasters sogar darüber nach, sich von ihrem Freund zu trennen“ (S.139).

Basad beschreibt dann, wie Hasters ihren Freund einem Erziehungsprozess unterzieht. Und kommt deshalb, aus meiner Sicht nachvollziehbar, zu folgendem Urteil:

„Ich jedenfalls frage mich, ob Hasters sich einen Partner auf Augenhöhe oder doch nicht lieber ein Haustier wünscht. Ihr Buch liest sich wie das Tagebuch einer Königin, die auf ihrem Thron sitzt und das Fußvolk entweder mit Orden auszeichnet oder in einen Kerker sperrt. So erzählt die Autorin, wie sie abwägt, ob sie ihren Freund ‚loben oder tadeln‘ soll, wenn er sich gegen Rassismus ausspricht. Im selben Moment wertet sie seine Bemühungen dann wieder ab: ‚Manchmal werde ich allerdings keine Geduld haben. Ich werde dir klar machen, dass ich nicht mit dir zusammen bin, um dein Antirassismus-Coach zu sein.‘ “ (S. 139-140).

Basads abschließendes Urteil klingt sehr hart und mag auf manchen überzogen wirken. Aber dieses harte Urteil basiert auf vielen Fallbeispielen, bei denen man wirklich vom Glauben abfallen kann. Deswegen will ich es den Lesern nicht vorenthalten:

„Um es kurz zu machen: Aktivisten wie Hasters, DiAngelo und Ogette geht es offenbar nur darum, den eigenen Hass auf Weiße und das System auszuleben, indem sie Menschen qua Hautfarbe in die Demut und Unterwürfigkeit zwingen – um sich selbst dabei als Priester, Psychotherapeut oder Märtyrer zu feiern“ (S. 140).

Resümee:

Ich kann Basads Thesen nicht in jedem einzelnen Punkt zustimmen. Das ändert aber nichts daran, dass sie ein exzellentes, sehr fundiert recherchiertes Buch mit genauen Quellenbelegen vorgelegt hat, das ich jedem nur empfehlen kann, der sich zu diesem Thema informieren und eine Meinung bilden möchte. Es ist sehr gut verständlich geschrieben, was besonders in Bezug auf die verschiedenen philosophischen Theorien im Zusammenhang mit der Social-Justice-Ideologie ein Verdienst ist. Denn diese durchzuackern und allgemeinverständlich zu erklären, ist wirklich ein schweres Stück Arbeit. Deshalb wünsche ich diesem Buch viele Leser – und natürlich auch Leserinnen.

Judith Sevinç Basad: Schäm dich! Wie Ideologinnen und Ideologen bestimmen, was gut und böse ist, Westend-Verlag, Frankfurt/Main 2021, 224 Seiten, 18,00 Euro.


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